«Wir schauen oft auf den Teller anderer, weil wir bestätigt werden wollen in dem, was wir machen»
Rolf Hiltl führt eine vegetarische Restaurantkette, ist aber gegen eine Vegi-Pflicht. Auch die Literaturwissenschafterin Kaltërina Latifi findet es falsch, anderen die eigene Haltung aufzudrängen – weshalb sie die Schweizer Neutralität hochhält.

In der Stadt Zürich hat der Gemeinderat vor zwei Jahren entschieden, dass in sämtlichen städtischen Verpflegungsbetrieben, also Spitälern, Altersheimen und Kantinen, das Standardmenü künftig vegan sein soll. Witterst du darin ein neues Geschäftsmodell, Rolf?
Rolf Hiltl: Ich finde vegetarische Ernährung natürlich gut, aber wir versuchen, Menschen mit toller Gastronomie und guten Produkten zu überzeugen. Bei uns ist seit 125 Jahren alles vegetarisch, doch viele von unseren Gästen wissen das gar nicht – es steht ja auch nirgends drauf. Sie kommen, finden es gut und kommen hoffentlich wieder. Dass man eine vegetarische oder vegane Ernährung gesetzlich vorschreibt, finde ich falsch.
Kaltërina Latifi: Ich bin Vegetarierin, aber auch ich finde es nicht gut, vegane Ernährung vorzuschreiben. Es sollte den Menschen freistehen, Fleisch zu essen. Selbst ich mache eine Ausnahme beim Bündnerfleisch, denn das schmeckt mir einfach. Ein- oder zweimal im Jahr denke ich: «Ich brauche das jetzt», esse es, und dann ist es auch wieder vorbei. Aber ich würde nicht wollen, dass mir jemand sagt: «Du bist doch Vegetarierin, du darfst das nicht essen!» Eine gewisse Flexibilität im Leben ist durchaus in Ordnung.
Essen ist sehr politisch geworden. Fleisch zu essen ist je nach Standpunkt ein Verbrechen oder eine Heldentat.
Latifi: Die Diskussion dazu ist moralisch aufgeladen. Früher ging es hauptsächlich um das Verhindern von Tierleid. Mittlerweile ist das Thema auch stark mit Umweltschutz verbunden. Man kann natürlich hinterfragen, ob jemand, der gelegentlich ein Stück Fleisch isst, wirklich ein schlechter Mensch sei.
Hiltl: Essen ist etwas Schönes, etwas Tiefgründiges, etwas Soziales. Wie viele Verträge werden doch beim Essen unterzeichnet? Betrachten wir ein Bild, beschäftigen uns die Sinneseindrücke. Aber Nahrung durchläuft unsere Verdauung. Wir spüren das Essen während des Verdauungsprozesses, es geht durch den Körper. Das ist für viele etwas sehr Emotionales. Bei den Diskussionen wird immer geurteilt, was der andere macht.
Latifi: Bist du Vegetarier?
Hiltl: Ich bin Flexitarier. Ich esse ab und zu Fleisch, aber nicht sehr viel. Meine Partnerin ist Vegetarierin und ich verstehe das sehr gut.
Nützen «Hiltl» die politischen Grabenkämpfe, oder ist dir das egal?
Hiltl: Wir versuchen seit jeher, das Thema locker anzugehen, weil wir finden: Beim Essen soll es vor allem um Genuss gehen, nicht so sehr um Moral.
Latifi: Ich glaube, wir schauen oft auf den Teller anderer, weil wir bestätigt werden wollen in dem, was wir machen; wir möchten die Absolution erfahren, dass es richtig ist, was wir machen. Wenn andere anders essen, wird uns ein Spiegel vorgehalten, was uns mit der Frage konfrontiert: Haben die recht oder habe ich recht? Doch ich muss andere nicht belehren oder konvertieren, sodass sie genauso denken wie ich.
Ist es wichtiger als früher, was man isst?
Latifi: Ernährung hat einen enormen Stellenwert in unserem Leben bekommen. Wenn ich höre, wie Menschen über ihr Essen sprechen und wie sie das kontrollieren, grenzt das fast an eine Essstörung. Alles muss gesund sein, und wenn ein kleines Stückchen mit dabei ist, das man eigentlich nicht essen sollte, scheint gleich die Welt unterzugehen. Da ist der Wunsch nach Kontrolle im Spiel: Wenn ich mein Essen kontrollieren kann, habe ich auch ein Stück weit Kontrolle über mein Leben und meinen Alltag. Das ist natürlich eine Illusion. Aber solche Illusionen haben viele.
«Beim Essen soll es vor allem um Genuss gehen, nicht so sehr um Moral.» – Hiltl
Hiltl: Dass diese Fragen so wichtig geworden sind, hat viel mit unserem Wohlstand zu tun. Wir sind weit oben auf der Maslow-Pyramide, vielleicht sogar ganz oben. Dort angekommen, macht man sich über Dinge wie Essen intensiv Gedanken.
Essen ist also von einem Grundbedürfnis zu einem Objekt der Selbstverwirklichung geworden?
Hiltl: Absolut. Deswegen gibt es so viele Restaurants, in denen man Essen zelebrieren kann. Essen ist etwas Wunderschönes. Man kann sein Leben damit verbringen, von einem schönen Restaurant ins nächste zu gehen.
War für dich immer klar, dass du die familieneigene Restaurantkette übernehmen wirst?
Hiltl: Als ich etwa sechs Jahre alt war, fragten mich meine Eltern, was ich später einmal werden möchte. Da habe ich auf den Sessel meines Vaters gezeigt. Kochen hat mir schon immer Freude bereitet.
Wird man eigentlich zum Unternehmer geboren oder ist Unternehmertum etwas, das man erlernen kann?
Hiltl: Es hat viel mit der Familie zu tun, in die man hineingeboren wird. Wächst man in einer Unternehmerfamilie auf, werden andere Gespräche am Tisch geführt. Es geht immer auch um das Business und die Firma – das prägt einen sehr.
Wie bist du zur Literaturwissenschaft gekommen, Kaltërina?
Latifi: Meine Eltern hatten beide einen akademischen Hintergrund. Meine Mutter begann ein Medizinstudium, das sie jedoch nicht abschliessen konnte, weil sie mit meinem Vater in den 1980er-Jahren aus dem Kosovo emigrieren musste. Mein Vater studierte Philosophie und Musik. So habe ich früh zu lesen angefangen und mich für Musik, Literatur, Kunst und Philosophie interessiert. Max Frisch war meine erste grosse Liebe in der Literatur.
Du hast eine Masterarbeit über das Buch «Der Sandmann» von E.T.A. Hoffmann geschrieben, in dem es unter anderem um das Verhältnis zwischen Mensch und Maschine geht.
Die Geschichte handelt von einem jungen Studenten, der sich in eine schöne, aber seltsame Frau verliebt. Alle finden sie ein bisschen seltsam, weil sie irgendwie hölzern ist. Doch er findet sie ganz toll. Jedes Mal, wenn er ihr in die Augen schaut, funkelt es. Er nähert sich ihr an, verliebt sich, sie tanzen gemeinsam. Am Ende stellt sich heraus, dass diese Frau in Wirklichkeit eine Maschine ist.
«Max Frisch war meine erste grosse Liebe» – Latifi
Kann man daraus etwas für die heutige Zeit lernen? Stichwort: künstliche Intelligenz.
Die Puppe kann symbolisch mit unserem Handy verglichen werden. Es ist ein Projektionsprozess, bei dem wir unser eigenes Ich auf die Maschine projizieren. Wir machen die Maschine durch unser Handeln lebendig und möchten, dass das von aussen reflektiert wird. Das Smartphone erfüllt eine ähnliche Funktion; je mehr wir hineinstarren, desto mehr glauben wir, etwas Lebendiges und etwas Dynamisches zu spüren. Doch wenn sich die Realität offenbart, erkennen wir, dass das eine Illusion ist.
In Zukunft könnte diese Illusion allerdings vielen egal werden. Sie verlieben sich in ihren Chatbot, und dieser kennt dann jedes Detail über sie. Der Chatbot hört aufmerksam zu, gibt einfühlsame Rückmeldungen und durchdachte Ratschläge, widerspricht nie und ist stets bestätigend.
Latifi: Ich versuche mich, soweit es geht, gegen diese Vereinnahmung zu stemmen. Viele Chatbots liefern falsche Informationen; nur wenn man selber Ahnung hat und nochmals überlegt, kann man sie korrigieren. Ich habe diesbezüglich grosse Bedenken, weil man nach dem «Gespräch» mit dem Chatbot nicht mehr so frei denkt wie davor. Und wenn man nicht mehr selber recherchiert oder selbst zusammenfasst, wird man mit der Zeit etwas lahm im Denkvermögen. Uns trifft das noch weniger stark, aber wie wird es den nächsten Generationen ergehen, die nur noch damit aufwachsen?
Hiltl: Ich war kürzlich an einem Vortrag, an dem jemand den Unterschied zwischen menschlicher und künstlicher Intelligenz erklärte. Er zeichnete den Buchstaben D und erläuterte, dass KI-Systeme Millionen von Ds weltweit analysieren, um schliesslich zum Konzept des Buchstabens D zu gelangen. Wenn man einem Kind sagt: «Zeichne ein D», dann beginnt es zu zeichnen. Der Mensch ist kreativ, die künstliche Intelligenz kann nur kopieren. Deswegen habe ich keine Angst davor.
«Es ist sehr mutig, neutral zu sein – fast mutiger, als sich auf eine Seite zu schlagen.» – Hiltl
Die Nutzung von Chatbots als Hilfsmittel ist das eine. Das andere ist, wenn man Denkprozesse komplett an sie delegiert.
Hiltl: Kommende Generationen werden besser mit KI umgehen können. Wir tragen die Verantwortung, diese Tools angemessen zur Verfügung zu stellen. Ich selbst sehe keinen Grund, weshalb ich mit einer KI wie mit einem Mitmenschen sprechen sollte.
Latifi: In London hat jüngst ein Verlag ein Buch mit einem Hinweis veröffentlicht, dass es von einem Menschen geschrieben worden sei und nicht von der KI. Offenbar ist es notwendig geworden, das hervorzuheben, und das finde ich schon gruselig. Ein anderes Beispiel: Bei ChatGPT kann man Fotos von seinem Kind hochladen, und die KI kann vorhersagen, wie es in 20 Jahren aussehen wird. Man hat dann doch stets ein Bild von seinem Kind vor Augen und erwartet, dass es diesem Bild entsprechen muss. Die Frage ist: Sieht man das eigene Kind noch, wie es wirklich ist und wie es sich selbst entwickelt?
Kaltërina, du hast kürzlich mit einer Kolumne zur Neutralität in der linksliberalen Leserschaft des «Magazins» Widerspruch hervorgerufen. Was ist passiert?
Latifi: Was ich erstaunlich finde, ist, dass viele Leser meine Kolumne gar nicht gelesen haben, sondern lediglich den Titel und den ersten Absatz – dann sprangen sie schon zu den Kommentaren und fanden darin die Bestätigung für das, was sie denken. Ich habe in meiner Kolumne ziemlich klar gesagt, dass ich mir eine «bewusste» Neutralität wünschen würde. Das heisst, dass man bewusst reflektiert, sich also anhört, was die eine und die andere Seite sagen, und dann entscheidet, wie man selbst dazu steht. Der wahre Neutrale ist der, der eine bestimmte Position hat, diese aber anderen nicht aufdrängt. Es ist immer einfach, Überzeugungen zu haben und für diese zu kämpfen – bis man vergisst, warum man diese Überzeugungen eigentlich hat. Ich bin froh darüber, dass die Schweiz neutral ist.
So gesehen erfordert Neutralität Mut. Wenn alle eine bestimmte Haltung vertreten, braucht es Mut, beide Meinungen anzuhören und sich nicht instinktiv auf eine Seite zu schlagen.
Hiltl: Man ist dann nicht per se Freund der einen oder anderen Seite. Das heisst, man ist in der Mitte. Es ist sehr mutig, neutral zu sein – fast mutiger, als sich auf eine Seite zu schlagen.
«Der wahre Neutrale ist der, der eine bestimmte Position hat, diese aber anderen nicht aufdrängt.» – Latifi
Ist die Schweiz noch mutig genug?
Hiltl: Wenn man die Welt aus einem marktwirtschaftlichen Blickwinkel anschaut, so stellt man fest, dass nur sehr wenige Länder fähig sind, sich neutral zu verhalten. Wie die Neutralität ausgelegt wird, muss man natürlich im Detail anschauen. Grundsätzlich würde ich es aber nicht clever finden, wenn die Schweiz nicht mehr neutral wäre. Warum muss man eigentlich immer seine Meinung sagen? Es ist durchaus eine Stärke, Diskussionen auszuhalten und zu sagen: Ich nehme eine neutrale Position ein, halte daran fest und versuche zu vermitteln. Ein neutraler Vermittler kann effektiver sein als jemand, der Partei ergreift.