Wir Rohstoffriesen
Die Schweiz ist seit Jahrhunderten eine der wichtigsten Drehscheiben für den Handel mit Ressourcen, obwohl hierzulande weder Baumwolle noch Kakao oder Öl vorkommen. Ent-scheidend sind andere Rohstoffe: eine freiheitliche Wirtschaftsordnung, Fachwissen und Unternehmergeist.
Kein Kakaobaum wächst in der Schweiz, kein Kaffeestrauch blüht hier, und doch gingen schon vor 50 Jahren 10 Prozent des Welthandels an Kaffee über die Schweiz, und gar 25 Prozent des Kakaos. Kein Tropfen Öl kommt aus dem Genfer Boden, aber heute bedienen seine Welthandelsfirmen 20 Prozent der Weltnachfrage. Dieser gewaltige Handel läuft sozusagen «hors sol» über die Schweiz, ohne dass die Ressourcen im Land gewonnen werden. Es sind andere Ressourcen, von denen die Schweiz profitiert: eine freiheitliche Gewerbeordnung. Tiefe Steuern für Firmen, für deren Kader und Inhaber. Und weltläufige Fachleute mit Kenntnissen in Sprachen, Märkten sowie Materialien und mit persönlichen Beziehungen an Orten der effektiven Ressourcenproduktion.
Weltgewandt dank Handel
Man sagt, dass die Schweiz arm an natürlichen Ressourcen sei. Das stimmt nur bedingt. Im Mittelalter profitierte das Land von eigenen Rohstoffen. Der Alpenbogen war reich an Wasser, an dessen Gefälle, an Holz – reicher als irgendwer in Europa, bevor Kohle und Öl aufkamen. Den Bogen von diesen lokalen Ressourcen zur Welt schlug die Leinenwirtschaft. Leinen handelten die Schweizer seit 1400 von Krakau bis Lissabon. Dank diesem Handel sowie dem kontinentalen Verkehr über die Pässe kannten sie die damalige Welt.
Von Leinen weiteten die Händler ihr Tätigkeitsfeld aus auf Baumwolle und Seide. Sie waren vor Ort, und vor über 250 Jahren mischten Firmen aus der Schweiz im weltweiten Baumwollhandel an vorderster Front mit, obwohl Baumwolle hier nicht wächst. Ebenso handelten Basler und Neuenburger Familien mit Kaffee, Zucker, Alaun (als Farbe und Desodorant). Die alten Handelsverbindungen trugen neue Früchte. Die daraus entstandenen Vermögen dürften gewaltiger gewesen sein als jene aus der Frühindustrialisierung – in heutigem Geld wohl jedes Mal Hunderte von Millionen Franken.
Aus der Ostschweiz führten St. Galler Kaufleute, vor allem aber die Appenzeller Zellweger-Dynastie zur gleichen Zeit enorme internationale Handelsgruppen – mit Kontoren und Filialen in Genua, Lyon, Preussen und Kuba. Die Basler Gebrüder Merian kauften und verkauften ungerührt, was immer möglich war. So erwarb Christoph Merian in der Grande Terreur 1793 in Paris günstig enorme Mengen an Kunstwerken von Adelsfamilien, die ihr Oberhaupt – wörtlich – eingebüsst hatten. Dreissig Jahre lang schleuste er dann diese Werke wieder in den internationalen Kunsthandel ein. Als Frankreich 1796 Importe aus England und vielen anderen Ländern verbot, führte Merian über das englische Helgoland für Mitteleuropa, über Lissabon für die Abnehmer im Mittelmeerraum so viele Waren ein, dass die Schweiz zur Drehscheibe der Zollumgehung kontinentalen Ausmasses wurde.
Erste Phase: neue Eigentumstechniken
Diese erste Phase des Welthandels der Schweizer war nicht Welthandel «der Schweiz», sondern grosser Familien der noch souveränen eidgenössischen oder zugewandten Orte wie der de Pury, DuPeyrou, de Pourtalès aus Neuenburg. Diese Familien waren international und unter sich verschwägert. Oft lagen ihre Ursprünge im Ausland, viele stammten von Hugenotten ab, die aus Frankreich eingewandert waren. Dadurch konnten sie ihre Geschäfte überall rasch an die «Internationale Huguenote» anknüpfen, an deren Kirchgemeinden, Handelsplätze, Mentalitäten. Denn Vertrauen ist in wenig regulierten Gesellschaften unerlässlich.
Diese Welthandelsfirmen waren als Frühformen von Aktiengesellschaften aufgebaut, mit Teilhabern und ihren Gewinnanteilen. Die Prinzipale reisten selbst umher, sahen vor Ort zum Rechten, kannten die Verhältnisse. Die Jungen wurden schon mit 15 Jahren auf die Comptoirs der Familie in aller Welt geschickt, nach Lyon, Manchester, Marseille, Genua oder Lissabon. Dieses spezifische Wissen, das Kapital der Väter im Rücken und die damit geknüpften Vertrauensbeziehungen in allen Handels- und Hafenplätzen der westlichen Welt waren Sprungbretter, wie sodann die Ehe mit einer Tochter aus gleichen Kreisen.
Eine wichtige Rolle spielten auch die Eigentumstechniken, lange vor den heutigen geschwätzigen Texten zu Aktienrecht, Governance und Buchführung. Die Zellweger liessen sich wöchentlich aus allen Niederlassungen Briefe senden. Geldsendungen dieser Handelshäuser wurden über Wechsel metallfrei vollzogen und auf Bankplätzen wie Amsterdam, Genua oder Lyon gegeneinander verrechnet. Viele Waren wurden für andere Geschäftsleute gegen Kommission mitgeführt oder eingekauft; dazu waren Verträge nötig. Die Welthandelshäuser skalierten so ihre Geschäfte. Aus all dem ergaben sich bankähnliche Transaktionen, manchmal wurden auch eigentliche Banken angegliedert. Die Überreste der damals erwirtschafteten, enormen Vermögen findet man heute versteinert in Form von prunkvollen Bauten wie den Zellweger-Palästen in Trogen, dem DuPeyrou-Palast in Neuenburg oder den Stadthäusern des Basler Daigs.
Zweite Phase: von der Industrialisierung getrieben
Eine zweite Phase des Welthandels von der Schweiz aus entwickelte sich durch die massiven Rohstoffbedürfnisse der Industrialisierung, durch den Telegrafen, Eisenbahnen, Dampfschiffe und durch die straffer geführten, grossen Kolonialimperien. Im Ende des 19. Jahrhunderts zunehmenden nationalistischen Wettbewerb der Mächte nahm sich die Neutralität der inzwischen zum Bundesstaat gewordenen Schweiz vorteilhaft aus. Ihre Firmen waren und blieben unverdächtig; sie vermittelten Kapital, Handelstechniken und boten Kontakte über feindliche Grenzen hinweg.
Die grossen Namen dieser neuen Welt beginnen mit der Basler Mission, die sich der Verbreitung des Christentums verschrieben hatte und zur Versorgung ihrer Stationen in Westafrika 1855 einen «Shop» gründete, der 1859 als Aktiengesellschaft eingerichtet wurde. Das alte Handelskapital half mit – ein grosser Teil des Aktienkapitals kam aus dem Legat des schwerreichen Christoph Merian. 1866 kaufte die Basler Mission fünf Meerschiffe. Ein schwunghafter Handel mit Baumwolle, Palmöl und Kaffee kam auf, die Kakaopflanzung im heutigen Ghana wurde sogar von dieser Firma dort eingeführt. Ein weiterer Coup gelang der Firma, die sich inzwischen mit Handel und Fabriken nach Indien ausgedehnt hatte: Sie erfand 1903 die Farbe Khaki, die von allen Kolonialarmeen des Empire übernommen wurde.
Nach 1919 beschlagnahmte England jedoch die Geschäfte in Afrika und Indien, erstattete nur wenig, so dass die Basler 1921 die von der Mission getrennte Union-Handels-Gesellschaft UTC gründeten. Diese entwickelte sich zu einem der 20 grössten Schweizer Unternehmen, kaufte 1977 die Warenhäuser Jelmoli, wurde aber unprofitabel und 1994 zu einer Finanzholding umgebaut.
Auch bei der Firma Gebrüder Volkart in Winterthur folgte auf den Aufstieg der Fall. Bereits 1851 als «Gebr. Volkart, Winterthur und Bombay» gegründet, trug sie ihre künftige Expansion schon im Namen. Salomon Volkart war 1844 im Auftrag verschiedener Schweizer Textilfirmen aufgebrochen, um den Absatz am Mittelmeer und in Indien voranzutreiben. Die Textilindustrie setzte schon damals weit über die Hälfte ihrer Produktion in Übersee ab, der Handel sicherte deren frühe Expansion. Volkart und seine Nachfolger sahen das Geschäft mit dem Export von der Schweiz aus, aber noch viel mehr Indien als Lieferland für Baumwolle. Volkart wurde, wie man heute sagt, ein integrierter Konzern, seine vielen Fabriken in Indien fügten der Baumwolle die Verarbeitungsstufen an.
Wie bei allen Welthandelsgesellschaften der Zeit erweiterte sich das Angebot schnell auf Kaffee und Kakao. Nach dem Ersten Weltkrieg war Volkart in Schanghai, Bremen, New York, Triest und an anderen Orten vertreten. Um 1912 traten alle Namensträger aus der Firma aus und die Reinhart-Dynastie erwarb die Anteile. Immer waren aber neben den Hauptträgern des Geschäfts zahlreiche Miteigentümer beteiligt, so auch die Vorsteher der wichtigen Agenturen und Filialen. Das stärkte das Vertrauen in der Firma. Denn immer noch waren die Handelsplätze weit entfernt, die Transparenz mühsamer als heute.
Auf dem Höhepunkt der Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg wickelte Volkart 10 Prozent des Welthandels mit Baumwolle ab sowie ähnliche Anteile an Kaffee und Kakao. Sie war eine der sechs grössten Welthandelsfirmen. Aber schon Ende der 1980er Jahre wurden die Zweige Kaffee und Kakao eingestellt, und 1999 wurden die restlichen Aktivitäten verkauft. Die modernen Kommunikationstechniken dürften die Vorteile der vielen über die Welt verstreuten Agenten überholt haben, die früher Wetter- und Ernteberichte exklusiv an die Zentrale vermittelten und ihr den entscheidenden Vorsprung gaben. Diese Veränderung nahm auch dem ehemals grössten Getreidehändler der Welt, André & Cie aus Lausanne, den Vorsprung.
Dritte Phase: im Zeichen neuer Kommunikationstechniken
Die technische Entwicklung ist ein strenger Zuchtmeister. In der dritten Phase der Welthandelsfirmen aus der Schweiz nutzen die Unternehmen unterdessen entstandene Rohstoffbörsen mit ihren Finanzkonstrukten. Durch die Entwicklung der Volkswirtschaften Südamerikas, Afrikas und vor allem Asiens sind lokal versierte Anbaugesellschaften und Verarbeitungszweige entstanden, deren Produkte über diese Börsen gehandelt werden. Es sind nicht mehr unverheiratete Jünglinge aus Winterthur oder Neuenburg, die selber an Ort und Stelle zur Sache sehen müssen, koordiniert von einem telefonbewehrten Büro in der Schweiz oder in London.
Exemplarisch für diesen Wandel zur dritten Phase steht Marc Rich. In den USA aufgewachsen, war er als Angestellter der damals weltgrössten Handelsfirma Philipp Brothers zu Beginn der 1970er Jahre an der Gründung des Spotmarktes für Rohöl beteiligt. Diese elektronischen Plattformen entwickelten sich für alle Rohstoffe. Die Zwischenlager sind nicht in Handelshäusern, sondern auf Schiffen und in Rohren, für den Rest bieten die Plattformen den Händlern eigene Lager zum Anmieten. Marc Rich sah die Chancen, gründete mit einigen Kollegen die Marc Rich + Co mit Sitz in Zug. In bester Tradition der Familie Merian geschäftete die Firma hart an der Grenze, unterlief das Embargo gegen die Apartheid in Südafrika, was ihr laut Rich einen Riesengewinn bescherte. Geschäfte zwischen den verfeindeten Iran und Israel liefen jahrelang gut. 1993 verkaufte Rich die Handelsaktivitäten an seine Manager, woraus dann die heutige Glencore entstand. Rich aber war bald international als ruchloser Trader und Erzkapitalist verschrien und wurde in den USA angeklagt. Nur eine Begnadigung durch Präsident Clinton an dessen letztem Amtstag 2001 setzte dem ein Ende.
Heute schätzt der Bundesrat die in der Schweiz tätigen Welthandelsfirmen auf 500 Unternehmen, wovon allein die fünf grössten zusammen ein Fünftel der Ölnachfrage der Welt und 30 bis 55 Prozent des Handels mit Agrarrohstoffen decken. Sie erzielen einen Jahresumsatz von 25 Milliarden Franken (2017), beschäftigen 24 000 Personen und bringen den Banken Kredite über 62 Milliarden Dollar, wogegen Londoner Banken für solche Firmen nur 20 Milliarden und amerikanische 15,6 Milliarden aufbringen.
Neue Cluster
Wenn die Schweiz über 250 Jahre lang Heimatboden für Welthandelsfirmen war, müssen einige Konstanten dafür massgeblich sein. Das Land war politisch stabil, der Staat redete wenig drein – freies Wirtschaften war stets möglich, auch für zugezogene Personen und Firmen. Die Schweizer waren seit je auswärts interessiert, orientiert, sie reisten viel und kannten Sprachen. So kamen sie mit Geschäftspartnern überall in Kontakt. Schwierig zu belegen, aber wohl vorhanden ist die Bedeutung bürgerlicher Normen und Ehrlichkeit im persönlichen Verkehr. Hinzu kommt eine leicht anarchistische Ader gegenüber dem, was die Behörden alles so wollen. Zentral waren die Cluster, die sich verknüpfenden Branchen. Die Textil-, die Nahrungsmittelindustrie suchten Absatz und Rohprodukte, wurden Lieferanten und Kunden der Handelsfirmen. Versicherungen, Banken, Prüfgesellschaften, alle schafften sich in die Hand, bildeten Junge aus, steigerten gegenseitig ihre Umsätze und Bedeutung. Schliesslich hat die Schweiz seit 1945 das Heraufregulieren in Aktien-, Börsen-, Steuerrecht der anderen Staaten nicht gleichermassen mitgemacht, sie blieb attraktiv.
Heute blicken manche vom Schreibtisch aus vorwurfsvoll auf die früheren (und gegenwärtigen) Handelsfirmen. Ausbeutung, Sklaverei, «koloniale Komplizenschaft» werden angeführt. Diese Sicht auf die Vergangenheit ist ahistorisch, reisst einzelnes heraus und folgt einer pietistischen Gesinnungsethik. L’Empire français und The British Empire waren die Welt, und wer in einem kleinen Land ohne Baumwolle, Kakao und Öl Erfolg haben wollte, musste sich darin umtun.
Wenn die Technik massgeblich ist, dann bildet sich vielleicht in Zug ein neuer Cluster heraus, wie er eben im alten Basel und zwischen den produzierenden und handelnden Firmen üblich war: neue Finanzierungen, Netzwährungen, Verbuchungen über Netze (Blockchain) werden in Zug entwickelt. Manche schätzen, dass diese das Rückgrat künftigen Welthandels und des Finanzwesens sein werden.