«Wir machen die Schweiz!»
Ein Gespräch über Zuversicht, Narrative, gute Politik und was zu tun wäre.
Aus Anlass des Buches «Die Schweizermacher – Und was die Schweiz ausmacht» über Rolf Lyssys «Die Schweizermacher» unterhielten sich Nathaly Bachmann Frozza (NBF), Andreas Müller (AM), Jobst Wagner (JW) und Georg Kohler (GK) über das schweizerische Selbstverständnis und dessen Hang, der Zukunft zu misstrauen.
Lyssys Film, der patriotische Selbstironie mit freundlichem Nachdenken über das verbindet, was wichtig ist für die gedeihliche Entwicklung des Schweizerlandes, ist auch ein Beispiel dafür, was eine optimistische Schweiz immer wieder zu leisten vermag: Integration des Anderen, des Nicht-Schweizerischen; und zwar so, dass Tradition und Lebendigkeit auf freundlichste Weise in eins kommen. Denn – um ans Happy End des Films zu erinnern: Moritz Fischers Heirat mit der schönen Serbin – sollten wir nicht froh sein, wenn dem helvetischen Genpool dank ausländischer Versuchungen die Chance auf Erneuerung zuwächst?
GK: Der Film erzählt die Geschichte von zwei Schweizern, Beamte, zuständig für die Beobachtung einbürgerungswilliger Ausländer. Sie heißen Max Bodmer und Moritz Fischer. Nur wer gesetzestreu und ordentlich ist, kann eine gute Schweizerin, ein guter Schweizer werden. Max Bodmer jedenfalls ist dieser Meinung. Moritz Fischer hingegen nimmt es lockerer und verliebt sich in die nicht restlos angepasste Schöne mit den schwarzen Haaren und dem höchstens halbherzigen Respekt für das städtische Güselreglement.
Da es sich beim Film um eine Komödie handelt, ahnen wir sofort, wie das Ganze ausgehen wird.
Max Bodmer und Moritz Fischer sind die Verkörperung einer die kollektive Identität der Schweiz seit eh und je bestimmenden Grundspannung; nämlich der Dualität und Gegensätzlichkeit von nationaler, kleinstaatlicher Abgrenzung und gesellschaftlich-wirtschaftlicher Weltoffenheit. Diese Gegenstrebigkeit kann im Gleichgewicht sein, doch schnell auch in Blockaden führen. Uns vier, die wir hier diskutieren, verbindet die Überzeugung, dass die gegenwärtige Schweiz allzu stark vom «Bodmer-Pol» dominiert ist. Zwar bleibt unser Land nach wie vor eine herausragende Globalisierungsgewinnerin der letzten Jahrzehnte, doch die Politik, genauer: die öffentliche politische Diskussion, die in der direkten Demokratie von besonderer Bedeutung ist, wird offensichtlich von den Themen der Abgrenzung, des Sonderfalls, der Defensive gegen die uns umgebende angebliche «Fehlkonstruktion» beherrscht.
Warum hat die Moritz-Fischer-Partei keine starke Stimme? Könnte es nicht eine Erzählung über unser Land geben, die etwas weniger von Max Bodmer, der Marignano-Deutung und dem Rütlischwur begeistert ist, stattdessen eine Vorstellung davon hat, wie sich die Schweiz als Schweiz in die seit dem Ende des Kalten Kriegs radikal veränderte Welt einpassen will und kann? Braucht es also ein anderes Narrativ? Können wir so etwas überhaupt (er-)finden?
AM: Narrative, Erzählungen – das sind entscheidende Elemente zur Selbstverständigung. Für die Orientierung eines Individuums sind sie nicht weniger wichtig als für die Bestimmung kollektiver Identitäten. Wer und was wir sind, vergegenwärtigen wir uns durch konkrete Geschichten und nicht mit abstrakten Konzepten. Mich stört, dass sich das derzeit dominante Schweiz-Narrativ so sehr auf Abgrenzung und Abschottung konzentriert. Zweitens stört mich, dass dadurch ein «ewiges Wesen» unseres Landes suggeriert wird, eine einzige Sinngestalt, die sich durch alle Zeiten hindurch, von der Vergangenheit über die Gegenwart bis in die Zukunft, als unveränderlich fest behaupten soll.
Das ist erstens historisch falsch und zweitens politisch gefährlich.
«Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben», so hieß es einmal. Geschichte ist Veränderung. Wer sich dem Wandel zu entziehen probiert, der erstarrt und wird früher oder später zerbrechen. Die Schweiz – eben dies halte ich für ihr Wesen – war stets vital, ergo anpassungs- und lernfähig. Doch genau dieser Aspekt der Zukunftsoffenheit ist in keiner starken Schweizerzählung präsent. Es gibt kein politisch durchschlagskräftiges Narrativ, das die Selbsterneuerungsenergie des Landes erinnert; das optimistisch ist, von keiner Furcht behindert oder von Angst beeinträchtigt. Dies Manko ist nichts Harmloses.
GK: Wie aber korrigieren wir dieses Defizit? Wer formuliert ein neues Narrativ? Und wie würde man es wirksam machen?
NBF: Einig sind wir im Punkt, dass es nötig ist, eine weniger nationalkonservative, identitätsstiftende Erzählung zu haben. Ich finde es eigentlich erstaunlich, dass wir nicht über ein solches Narrativ verfügen. Denn wer längere Zeit im Ausland gelebt hat, konstatiert rasch, dass es dort – bei aller Kritik am mittlerweile untergegangenen «Bankgeheimnis» – ein Schweizbild gibt, das dem Land viel mehr zutraut als Rückzug und Abwehr. Der andere Punkt, der wichtig ist, ist die emotionale Seite solcher Sachen: Sie müssen ausstrahlen auf die Volksseele. Statt eigensinnigem Trotz gegen die böse Welt sollen sie Neugier wecken, die Lust, etwas zu wagen. Und das muss über Identifikationsfiguren laufen, über Vorbilder und über die Erinnerung an Ereignisse, auf die man stolz sein darf.
JW: Das alles unterschreibe ich natürlich. Aber ich möchte jetzt nicht sofort über konkrete Antworten auf das geschilderte Defizit reden, sondern mit der Analyse, der Standortbestimmung, anfangen. Und zwar aus der Sicht eines international tätigen Unternehmers.
Dabei ist die primäre Einsicht, dass das Ende des Kalten Krieges die objektive Lage des Landes in der Welt und insbesondere in Europa fundamental verändert hat. Dass sich das allerdings noch nicht mit wünschenswerter Klarheit herumgesprochen hat, ist mir sofort aufgefallen, als ich nach fünf Jahren (1987–1991) aus den USA zurückkam. Ob sicherheitspolitisch oder wirtschaftspraktisch: Die Kräfteverhältnisse, in die man Jahrzehnte lang eingebettet gewesen ist, hatten sich beinahe schlagartig umgestellt. Ich war erstaunt, wie verhalten – um nicht zu sagen: wurstig – in der schweizerischen Öffentlichkeit auf diese Tatsache reagiert wurde.
Die einen schienen ohne weiteres anzunehmen, dass es trotz allem so weitergeht wie bisher; dass die Nische, die uns als neutralem Kleinstaat eine Komfortzone im Westen einräumte, in keiner Weise infrage gestellt werden würde. Die anderen, die immerhin ahnten, dass etwas vorbei war, trösteten sich mit dem Gedanken, ein Ausweg werde sich dann schon ergeben. Doch das ist eine grandiose Fehleinschätzung. Denn tatsächlich befinden wir uns seit mehr als 20 Jahren in einer komplexen, schwierigen Situation. Erst recht gilt das seit dem 9. Februar 2014, der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative. Und das ist nicht zuletzt deswegen so, weil jede kühl-rationale Debatte sogleich durch heftigste Emotionen durchkreuzt wird.
Nicht wenige Menschen sind seit ein paar Jahren in eine diffuse, gereizte, von unklaren Befürchtungen getriebene Stimmung geraten, die gefährdet, was sich die Leute vor allem bewahren möchten: den hohen Lebensstandard des Landes, seine vielfältigen Integrationsleistungen, die soziale Sicherheit, die institutionelle Bemühung um Chancengleichheit durch ein exzellentes Bildungssystem usw. Doch das ist nicht auf ewig garantiert. Es zu erhalten braucht unternehmerische Anstrengungen, und das bedeutet: Risikofreude und ein hohes Maß an wirtschaftlicher Freiheit. Also erstens eine ganz andere als die geschilderte Gefühlslage als Basis und zweitens keinen ökonomischen Heimatschutz. Wer furchtsam und mutlos ist, der ist rasch staatsgläubig und fordert von der öffentlichen Hand Dinge, die unvermeidlich lähmende Effekte auf Privatinitiative und Unternehmergeist ausüben.
Zurück zur Überlegung, wie auf den Bruch von «1989», auf das Ende des Kalten Krieges und die damit verbundenen Konsequenzen, zu reagieren wäre. Natürlich spielt hier die Europafrage eine entscheidende Rolle. Eine nicht-defensive Strategie, obwohl sie notwendig wäre, scheint niemand zu haben. Mich interessierte einmal, warum das so ist. Dabei bin ich nach vielen Gesprächen mit Politikern zur unerfreulichen Erkenntnis gelangt, dass sie die Meinung hegen, die beste Strategie sei, gar keine Strategie zu haben, auf Sicht zu fahren. Grob gesagt: Durchwursteln als Prinzip.
Leider ist diese Haltung in der Schweiz ebenso auf vielen Politikfeldern zu beobachten. Wie man sich auf das Jahrhundertproblem der Migration einstellen soll, wird nicht wirklich ernsthaft diskutiert. Die Politik, oder exakter: die politische Führung, hat Angst vor der Angst der Leute. Kein Wunder, dass unter solchen Voraussetzungen niemand den Versuch unternimmt, das konservative Narrativ, das verspricht, alles bleibt gut, wenn wir nur nichts Neues machen, durch eine Gegenerzählung herauszufordern.
NBF: Noch ein kleiner Beitrag zur Standortbestimmung: Was die Schweiz attraktiv macht, ist einerseits dieser freiheitliche Sinn, den Jobst Wagner durch die zunehmende Versicherungsmentalität breiter Schichten zersetzt sieht. Dass zur liberalen Freiheit Chancengleichheit gehört, hat zwar zur Folge, dass auch bei uns, gerade im Bildungswesen, der Staat eine große Aufgabe hat. Aber immer nur in der Balance mit privatautonomer Tätigkeit. Diese Balance darf nicht verloren gehen. Und wenn in der direkten Demokratie Angst zum Ratgeber wird, dann gerät das Ganze aus dem Gleichgewicht. Ein Befund, der sich übrigens auch dort zeigt, wo mir die Schweiz besonders gefällt: in ihrer Natur. Ist denn alles, was unter dem Label der Ökologie manchmal sehr wirtschaftskritisch auftritt, immer gut für die Erhaltung der Freiheit? Jedenfalls ruft es stets und sofort nach staatlichen Regulierungen.
JW: Nathaly Bachmann Frozza erinnert die Wichtigkeit einer politischen Kultur, die wachsam ist für den sich vollziehenden Wirklichkeitswandel, die aber auch den Willen zum Ausgleich, zur Kompromisssuche hat. Dieser Wille ist unerlässlich, wie sich leicht an dem zeigen lässt, was mir an der Schweiz – zum Beispiel im Vergleich zu den USA – besonders gefällt: Da ist erstens der Sinn für das Kulturelle, der besonders auffällt, wenn man wieder aus Amerika zurückkehrt; diese Förderung und Pflege der Diversität, der verschiedenen Traditionen, in den einzelnen Sprachregionen genauso wie in den 26 Kantonen. Die große Museumsdichte ist dafür ein Indikator. Zweitens die soziale Durchmischung, oder sagen wir vorsichtiger, die nicht allzu krasse Separation der Gesellschaftsgruppen. Es gibt weder Armenghettos noch bewachte Reichenviertel. Und auf der Ebene der Einkommen finden wir in der Schweiz (laut Gini-Index) eine relativ ausgeglichene Verteilung. Der soziale Friede, der die Schweiz seit Jahrzehnten auszeichnet, ist Ausdruck und Resultat solcher soziologischer Fakten. Dazu gehört auch – hier spricht der Unternehmer –, dass bei all dem ein liberaler Arbeitsmarkt möglich geblieben ist. Drittens: Ohne eine politische Kultur, die die unterschiedlichen Interessen einerseits ernst nimmt, andererseits aber alle Kontrahenten zum Kompromiss nötigt, sind diese Dinge nicht zu erklären. Polarisierungsstrategien spalten unser Land und seine Gesellschaft, die ihre Errungenschaften dem genauen Gegenteil verdankt – der Fähigkeit, Gegensätze zu vermitteln. Mir scheint, dass dieses Talent zurzeit wenig Fürsprecher findet.
AM: Was eben gesagt worden ist, liefert den Einstieg in das Thema der Narrative. Zur politischen Kultur der Schweiz, die auf Gemeinsamkeit zielt, gehört noch ein anderes, inzwischen beinahe altmodisch gewordenes Merkmal: das Milizprinzip. Also der Anspruch des Staates an seine Bürger, zugunsten des Gemeinwohls oft sehr anspruchsvolle Aufgaben zu übernehmen; Funktionen, die Engagement verlangen, aber nicht berufsmäßig ausgeübt werden, sondern, mehr oder weniger, im Ehrenamt. Mit solchen Tätigkeiten ist dann wie selbstverständlich eine Praxiserfahrung verknüpft, die gewissermaßen von selbst dafür sorgt, dass man die anderen als Partner in einem gemeinsamen Prozess versteht und nicht primär als Gegner oder sogar als Feinde im Kampf um die Macht.
Leider sind die allgemeinen Tendenzen in Wirtschaft und Gesellschaft diesem Prinzip nicht günstig gesinnt. Überall sind Professionalisierung und Spezialisierung angesagt. Wer vorwärtskommen will, der will nicht Zeit in Dinge investieren, die nicht unmittelbar karriererelevant sind. Die schweizerischen Parteien wandeln sich gemäß dem europäischen Trend immer mehr von mitgliederorientierten zu wählerorientierten Parteien. Das bedeutet auch, dass heute diejenigen politischen Kräfte eindeutige Vorteile besitzen, die dank großer Finanzmittel in ihrem institutionellen Kern hoch professionell organisiert sind. Und wir werden nicht lange darüber streiten, wenn ich sage, dass es die nationalkonservative Seite ist, die hier besonders gut positioniert ist.
So gesehen, ist es kein Zufall, dass das momentan einzig wirksame, professionell gemanagte Narrativ von dort kommt und in den verschiedenen Kontexten erfolgreich zur Geltung gebracht wird. Womit ich bei meiner zweiten Feststellung bin. Unter den aktuellen Bedingungen ist professionelles Storytelling entscheidend. Durchsetzungsfähige Politik muss mit einfachen, einleuchtenden Erzählungen und Bildern operieren können. Komplizierte Argumente, graue Statistiken und Sowohl-als-auch-Überlegungen stören da nur. Und wie gesagt, all dies wird in der nationalkonservativen Öffentlichkeitsarbeit hervorragend gemacht. Nun will ich jetzt ja nicht diese Strategie analysieren, sondern, zum einen, generell etwas über politische Strategien sagen, zum anderen für ein liberales, auf die Zukunft mit Optimismus und Neugierde reagierendes Narrativ werben.
Doch bleiben wir zunächst beim Stichwort «Angst». Angst ist ohne Zweifel ein zentraler Stoff für jede Art von Politik. Und man kann an der Weise, wie mit Ängsten politisch umgegangen wird, drei Muster politischer Führungsmacht erkennen. Sie darf man die drei verschiedenen Strategien des «Amtsinhabers», des «Demagogen» und des «Staatsmannes» nennen.
Der Amtsinhaber ist derjenige, der auf Ängste am liebsten gar nicht eingeht. Er überspielt alles Unangenehme, beruft sich auf den normalen Lauf der Dinge; entweder weil er die Ängste nicht erkennt oder weil er selbst diesen nicht gewachsen ist und sie per Verdrängung zu bannen versucht. Das ist ein Politikmuster, das in der Schweiz häufig vorkommt; Jobst Wagner hat zu Recht darauf hingewiesen. Dann gibt es den Demagogen. Er schürt Ängste, weil er damit auf Machtzuwachs hofft. Schließlich die schwierigste Rolle, die des Staatsmannes. Er schiebt die Ängste nicht weg, er nimmt sie ernst. Aber er will sie nicht zu seinen Gunsten steigern, sondern bearbeiten und überwinden. Dadurch, dass er aufzeigt, dass wir sie zu meistern vermögen. Also dadurch, dass er die Zukunft nicht düster zeichnet, sondern auf die Möglichkeiten des Besser-Werdens und auf die Chancen gemeinsamer Bewältigung dessen hinweist, was für viele furchterregend am Horizont erscheint. So löst er Angstlähmungen und beseitigt die Politik des Demagogen, der die Leute erschreckt, um sie in die Arme desjenigen zu treiben, der die einfachsten Rezepte verschreibt.
Dass auch der Staatsmann eine gute Geschichte, ein Narrativ braucht, ist klar. Und das ist das Problem: Weder wie es aussieht, noch wer es repräsentieren kann, ist in der Schweiz unserer Tage zu erkennen. Diese Leerstelle muss man zu füllen versuchen. Ich gebe zu, dass es einfacher gesagt als getan ist.
GK: Das nationalkonservative Narrativ setzt sowohl historisch wie institutionell auf «das Volk». Was mich daran stört, ist die gleichzeitige Diskreditierung der sogenannten classe politique, die Missachtung der rechtsstaatlichen Gewaltentrennung zwischen den direktdemokratischen Verfahren, dem Parlament und der Jurisdikative. «Das Volk» – und das bedeutet in concreto: die jeweilige Ja-Mehrheit, die in der Regel nicht mehr darstellt als 20–25 Prozent der Bevölkerung – soll als letzter Herrscher, oberster Richter und uneingeschränkt verbindlicher Gesetzgeber gelten.
Erstens ist das keineswegs die Idee unserer Bundesverfassung, die aus guten Gründen nur halbdirektdemokratische Verfahren enthält. Zweitens ist es mehr als kurzsichtig, wenn man leugnet, dass das jeweils aktiv partizipierende Volk immer auch eine durch zufällige Stimmungen und durch professionelle Öffentlichkeitsarbeit beeinflussbare Menge ist. Eben darum gehören zur guten pluralistischen Demokratie rechtsstaatliche Schranken und die cheques und balances der Gewaltenteilung.
Warum ich an diese elementaren Prinzipien erinnere? Deshalb, weil wir – neben und mit dem noch nicht gefundenen Narrativ – die offensive Verteidigung der Rolle von Parlament und Gerichten benötigen. Und drittens: Weil es ohne neue Persönlichkeiten, politische Führungsfiguren, die die liberale Erfolgsstory der Schweiz glaubwürdig vertreten, nicht geht.
NBF: Einverstanden. Solche »Leuchttürme« der liberalen Zukunftsschweiz sind derzeit nicht zu bezeichnen …
JW: … Was nicht heißt, dass es sie nie mehr geben kann. Bloß möchte ich jetzt etwas anderes betonen: die Kraft und Aufgabe der Zivilgesellschaft. «Zivilgesellschaft» meint nicht dasselbe wie «Milizsystem». Das Wesen der Zivilgesellschaft besteht zwar auch in der Beteiligung der betroffenen Menschen in der Auseinandersetzung mit den Problemen des sozialen Lebens, wie sie unter heutigen Bedingungen entspringen. Doch im Gegensatz zum altschweizerischen Milizprinzip verlangt zivilgesellschaftliches Engagement nicht die gleiche Langzeitbindung und Praxisverpflichtung. Zivilgesellschaftliche Partizipation darf flüchtiger und weniger verbindlich sein; dafür erlaubt sie mehr Beweglichkeit, den freieren Einsatz gegebener Potenziale.
Ich denke, dass es wichtig ist, diese Potenziale zu entfesseln, wo immer sie sich finden; bei den Jüngeren wie bei den Älteren. Gruppen sollten entstehen, die sich auf Plattformen (wohl vor allem im Netz) treffen, die diskutieren und eine gemeinsame Meinung, einen kollektiven Willen ausbilden – und natürlich auch Ideen, die das nationalkonservative Schweizbild konkurrenzieren und dessen Schwächen benennen; im Verhältnis zu Europa beispielsweise und im Gegenzug zur geläufigen EU-Verteufelung.
Wie wichtig das wäre, zeigt sich an simplen Sachverhalten. Weil es kaum eine zivilgesellschaftlich dicht geführte Debatte gibt, sind viele Begriffe und Tatsachen für die meisten Menschen nur «schwarze Wolken», Begriffe, die für das Verständnis gegenwärtiger Politikprobleme aber unabdingbar sind. Wer weiß schon präzise, was «bilaterale Verträge» bedeutet; wer weiß, was die «Souveränität» ist, auf die sich die SVP immer wieder beruft? Gleiches gilt für Schlagworte wie «Unabhängigkeit» und «Neutralität». Sie sind effektiv, aber nicht als klare Konzepte, sondern als emotional wirksamer Nebel.
Ich habe jetzt vom Europa-Problem der Schweiz gesprochen. Nicht weniger dringlich wären alle Fragen, die mit Migration, Immigration, Überalterung verbunden sind. In der direktdemokratischen Öffentlichkeit werden sie und die mit ihnen verknüpften Probleme nicht wirklich tiefgehend erörtert. Sondern zugedeckt mit furchterregenden Stichworten wie «Asylchaos». Kurz: In der direktdemokratischen Schweiz wäre es eigentlich unverzichtbar, dass man sich bei entscheidenden Problemen nicht bloß durchwurstelt, weder auf Regierungsebene noch im Volk.
NBF: Zivilgesellschaftliche, öffentliche Arbeit an den Begriffen ist nötig; sicher. Doch deren Ergebnisse werden nur dann in den Köpfen verankert bleiben, wenn sie zugleich an persönlichen Erfahrungen haften. Beispielsweise daran, was es heißt, am Flughafen einmal dort stehen und warten zu müssen, wo sich jetzt alle Nicht-EU-Bürger beziehungsweise Nicht-Angehörigen der Schengenländer versammeln. Und ein weiteres; speziell die europäische Verflechtung und die damit notwendig gewordene «transnationale Führung» betreffend: Wenn die Menschen das Gefühl haben, im EU-Kontext werde normalerweise über die Köpfe hinweg, alternativlos, entschieden, dann wird das bald mit Misstrauen quittiert oder, was nicht weniger schlimm ist, mit Gleichgültigkeit. Die komplexe Situation, in der wir existieren, fordert nicht nur Respekt vor der Regierung; sie braucht vor allem einen Führungsstil, der sich um die positive Zustimmung der Bevölkerung kümmert. Ich gebe zu, dass damit ein Basisproblem transnationaler Politik angesprochen ist, nämlich deren «Demokratiedefizit». Wer die Schweizer Mentalität kennt, weiß, wie schwierig es ist, auf die entsprechende Euro-Skepsis zu antworten.
AM: Einverstanden. Aber das neue Narrativ, für dessen Entwicklung und Durchsetzung ich einstehe, will ein schweizerisches Selbstverständnis beliebt machen, das generell auf Nicht-Pessimismus, Nicht-Einigelung, auf Zuversicht, Lernfähigkeit und Weltoffenheit programmiert ist. Auch das Europa-Problem erscheint in seinem Licht dann nicht mehr als Inbegriff drohender Überwältigung, gegen die man alle Kräfte der Abwehr aufbieten muss, sondern als etwas, das zwar herausfordernd und kompliziert, aber durch vernünftige Dosierung zwischen Souveränitätsgedanken und Anpassungsbereitschaft überwindbar ist. In solcher Perspektive begegnet das erwähnte Demokratiedefizit nicht mehr als etwas, das uns den gewissermaßen absoluten Widerstand wie damals, in der Epoche des Dritten Reiches, abverlangt.
Ich möchte, dass der Einigelungsreflex vieler Schweizer unterbrochen wird, auf den sich das nationalkonservative »Marignanonarrativ« so zuverlässig verlassen darf. Ein Beispiel für die andere Möglichkeit, auf Zukunft zu reagieren, ist Obamas berühmtes «Yes, we can». Eine charismatische Formel, ausgesprochen von einer charismatischen Figur, die an die Kraft und das Selbstbewusstsein einer Nation appelliert und auf deren historisch gut belegte Gewissheit bauen darf, sich immer wieder neu erfunden und bewährt zu haben; offensiv und nicht durch Isolationismus und die Wiederholung alter Rezepte; indem sie eben Dinge getan hat, die neu und anders und, das vor allem, der Zeit entsprechend waren.
Warum sollte Entsprechendes nicht auch in unserem Lande gelingen? Dass in der Schweiz das Charisma einer Person nicht zur Geltung kommen könne, ist evidentermaßen falsch, Christoph Blocher ist der lebende Gegenbeweis.
GK: Ich möchte das Bisherige zusammenfassen: Erstens plädieren Jobst Wagner und Nathaly Bachmann Frozza für ein zivilgesellschaftliches Engagement, das im herkömmlichen Muster des schweizerischen Milizsystems nicht ohne weiteres Platz findet. Wir sind – das ist hier Konsens – an einer geschichtlichen Wegscheide, die in der direktdemokratischen Nation eine breite Diskussion provozieren muss – und nicht ein von Stereotypen gesteuertes Igelverhalten. Zweitens sollte versucht werden, diejenigen zu mobilisieren, die nicht bereits vom «Marignanomodell» überzeugt sind; also die schweigende Mehrheit, um es etwas kühn zu formulieren. Drittens geht es nicht ohne Personen, die mit ihrem Gesicht und ihrer Ausstrahlung einen Fokus der Öffentlichkeit zu bilden imstande sind. Viertens muss eine Erzählung, ein Narrativ, formuliert werden, das die Schweiz auf Zukunftslust und -meisterung eicht; dabei inhaltlich gegen gewisse antieuropäische Klischees opponiert, die im Grunde doch sehr unschweizerisch sind, denn die Schweiz ist seit mindestens 100 Jahren vor allem dank ihrer Bereitschaft, sich europäisch zu öffnen, wirtschaftlich und kulturell erfolgreich gewesen. Und schließlich wäre es wichtig, Botschafter des neuen Modells in der jüngeren Bevölkerung zu finden und zu etablieren, also mit Mitteln und Strategien zu operieren, die auch die U40 erreicht, nicht lediglich die Ü50.
Nun also, wie sähen die konkreten Konturen eines solchen Zukunftsnarrativs aus?
AM: Genau dort liegt noch das aktuelle Problem. Denn natürlich kann man nicht einfach die richtige Geschichte aus dem Ärmel ziehen. Um das derzeitige Schweigekartell über die Zukunft zu brechen, müssen wir uns erst einmal klarmachen, dass uns damit etwas Wichtiges fehlt. Ohne dieses Bewusstsein wird auch das beste Narrativ nicht wirken können. Darüber hinaus glaube ich aber, dass es gar nicht so schwierig ist, ein starkes Zukunftsmodell zu entwickeln. Man müsste nur mit überzeugenden Beispielen erzählen, wie die Schweiz heute wirklich ist. Nämlich alles andere als sich abschottend. Sie ist im Gegenteil seit Langem ausgesprochen integrationsfreudig und zwar sehr konkret; 50 Prozent der Eheschließungen zum Beispiel sind derzeit binational. Wir sind tatsächlich ein Volk von »Schweizermachern«; nicht im Sinn des isolationistischen Max Bodmer, vielmehr in der Art von Moritz Fischer …
GK: Genau! Lyssys «Schweizermacher» – der Film liefert ein ebenso liebens- wie glaubwürdiges Zukunftsnarrativ. Man denke nur an die Schlusssequenz: Der von Bill Ramsey gespielte Jazzer, der Schweizer werden möchte, spielt die Nationalhymne; besser gesagt, er variiert, verjazzt und verjüngt sie. Und sie klingt prächtig!
AM: Es ist bemerkenswert, welche tiefe mentale Diskrepanz zwischen dem besteht, was in den letzten gut 30 Jahren geschehen ist, in denen – gewissermaßen – viele Italiener helvetisiert und die Fußballnationalmannschaft mit Balkan- und sonstiger Immigrantenhilfe wieder auf beachtliches Niveau gebracht wurde, und der seinerzeitigen Schwarzenbach-Argumentation in den 1970ern, die vor exakt diesen Vorgängen mit der Parole der «Überfremdung» warnte. Sozusagen unter der Hand hat die Schweiz also die «Nationale Aktion» Lügen gestraft. Bloß scheint sie sich dessen nicht bewusst zu sein und orientiert sich stattdessen an Ängsten, die sie selbst widerlegt hat.
So vieles hat sich in der Wirklichkeit verändert – und in der politischen Gegenwart reüssiert eine Erzählung, die das Gegenteil behauptet. Diese Diskrepanz wäre zu beleuchten, zugleich mit der Feststellung, dass die in der letzten Generation neu formierte Schweiz doch großartig ist. Und dann muss man nur noch betonen, dass die Richtung offensichtlich stimmt und ergo, wenn wir ihr weiter folgen, auch die Zukunft gelingt. Wir brauchen keine heroischen Anstrengungen; normales Selbstvertrauen genügt und das Wissen, dass die Schweiz nur wurde, was sie ist, weil sie sich den Anforderungen neuer, ungewohnter Situationen nie entzogen hat, sondern stets anzupassen verstand.
JW: Bin ganz Ihrer Meinung. Freilich darf man nicht vergessen, dass im Jahre 2016 Immigration / Migration nicht mehr das Gleiche bedeuten wie vor 30, 40 Jahren. Dennoch haben Sie recht: Die Schweiz sollte sich nach wie vor als Einwanderungsland begreifen. Das ist die eine Seite. Die andere ist die Tatsache, dass die weltweiten Migrationsbewegungen, die heute den europäischen Westen erreichen, eine ganz eigene – und gewiss transnationale – Strategie erfordern. Die Schweiz – und nicht nur sie! – ist diesem Problem, das stärker als vor 40 Jahren, auch ein kulturelles Problem ist, noch viel zu wenig auf den Grund gegangen. Vor »Überfremdung« sollten wir keine Angst haben, doch unsere fundamentalen Wertvorstellungen der liberalen, den Prinzipien der individuellen Autonomie verpflichteten Gesellschaftsordnung müssen wir verteidigen. Integration darf nicht bedeuten, unsere Kernideen, die in der Verfassung formuliert sind, dem Anspruch beispielsweise eines Schariarechtsbegriffs zu opfern. Auf dieser Ebene der Auseinandersetzung sehe ich Defizite …
Dass man mich richtig versteht. Ich bin natürlich nicht für ein Minarettverbot, ich will lediglich betonen, dass das Thema «Kultur» im Zusammenhang der aktuellen Migrationsbewegungen doch noch wichtig ist. Und dass es zivilgesellschaftlich breit bearbeitet werden muss. Was ich in der notwendigen Dichte und Intensität noch nicht erkennen kann. Wir reden hier ja nicht von den Diskursen, die in den sogenannten Funktionseliten geschehen, sondern von einer Meinungs- und Willensbildung, die großmehrheitlich effektiv ist. Die neuen Migrationsbewegungen sind im Übrigen nicht der einzige Bereich, wo ich dieses zivilgesellschaftliche Manko sehe, aber darüber haben wir ja bereits gesprochen.
NBF: Es wäre noch so viel zu sagen! Zum Zukunftsnarrativ; zu den Dingen, auf die es anspielen sollte, zu seiner zeitgerechten netztauglichen Gestalt. Außerdem möchte ich, dass die Schweiz fehlerfreundlicher würde. Dass man, ohne für den Rest des Lebens gebrandmarkt zu sein, scheitern darf. Und um breitenwirksam zu werden, müssen wir auch auf «Botschafter» jenseits der etablierten Politikszene setzen. Warum darf nicht auch Roger Federer für eine offene, liberale, anpassungsfähige Schweiz sprechen? Dann scheint mir das Thema «Bildung», genauer: Staatsbürger- und Staatsbürgerinnenkunde ein Feld zu sein, das wir bis jetzt eher unterschätzt haben. Die Defizite in Hinsicht auf Kategorien wie »Neutralität«, »Souveränität« oder »bilaterale Verträge« haben ihren Ursprung genau hier.
Wie dem immer sei: Zivilgesellschaftliches Engagement für die Zukunft einer offenen Schweiz muss die Social-Media-Welt der Gegenwart noch viel besser durchdringen, als es heute der Fall ist. Daran sollten wir arbeiten. Vom Geist der Zuversicht getragen und nach dem Motto «Wir machen – jetzt – die Schweiz!»
Nathaly Bachmann Frozza, 1980, ist Unternehmerin (Wirtschaftspsychologin, Universität Zürich). Sie ist Inhaberin der Consultingfirma Essence Relations GmbH und berät Kunden in der strategischen Kommunikation. Gleichzeitig ist sie Geschäftsführerin der Bürgerinitiative StrategieDialog21 (SD21). Die Diskussionsplattform setzt sich parteiübergreifend für eine sachliche Auseinandersetzung mit der Zukunft der Schweiz ein, wobei unternehmerische Freiheit, liberale Werte und eine offene Volkswirtschaft im Zentrum stehen.
Andreas Müller, 1965, Lic. phil, MAES, ist Vizedirektor von Avenir Suisse und betreut schwergewichtig staats- und gesellschaftspolitische Themen. Er ist u.a. Herausgeber der Publikation »Bürgerstaat und Staatsbürger: Milizpolitik zwischen Mythos und Moderne« (NZZ Libro, 2015). Nach dem Studium der Geografie in Lausanne absolvierte er den »Master of Advanced European Studies« an der Universität Basel. Er war persönlicher Mitarbeiter von Bundesrat Johann Schneider-Ammann und Kommunikationsberater der Bundesräte Pascal Couchepin und Didier Burkhalter.
Georg Kohler, Prof. em. Dr. phil. Lic. iur., 1945, studierte Philosophie und Jurisprudenz in Zürich und Basel. Nach seiner Habilitation in Philosophie lehrte er zunächst in München. 1994–2010 Ordinarius für Philosophie an der Universität Zürich, mit besonderer Berücksichtigung der Politischen Philosophie. Zahlreiche Bücher und Aufsätze zur Praktischen und Politischen Philosophie, zur Ästhetik und zu den Gegenwartsproblemen der Schweiz. 2005 erschien im rüffer&rub Sachbuchverlag »Über das Böse, das Glück und andere Rätsel«, 2010 »Bürgertugend und Willensnation. Über den Gemeinsinn und die Schweiz« im Verlag NZZ libro.
Jobst Wagner, 1959, ist Unternehmer (Jurist, Universität Bern). Seit 2000 leitet er als Verwaltungsratspräsident die REHAU-Gruppe, ein globales Familienunternehmen mit Sitz in Muri bei Bern, das im Bereich der Polymerverarbeitung tätig ist. Er ist Initiant und Förderbeirat des StrategieDialog21, Stiftungsrat AVENIR Suis-se, Aktionär und Verwaltungsrat der SMH Verlag AG, die den »Schweizer Monat« herausgibt, und Präsident der Stiftung Kunsthalle Bern.