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«Wir investieren oft am falschen Ort in Sicherheit»

Wir nehmen Risiken als Bedrohung wahr. Das ist gefährlich. Denn nur wer sie kalkuliert, kann sie reduzieren. Ein Gespräch mit dem Risikomanager Hans Bohnenblust über vergessene Hochwasser, vorschnellen Aktionismus und die vermeintliche Sicherheit von Skihelmen.

Das Leben ist ein grosses Risiko. Jeder neue Tag birgt neue Risiken, die wir nicht überblicken. Ist Risikomanagement auch ein Geschäft mit unserer Hoffnung, dass sich Risiken vermeiden lassen?
Machen wir uns keine Illusionen: absolute Sicherheit gibt es nicht. Aber das sollte uns nicht zu einer fatalistischen Haltung animieren. Risikomanagement ist der Versuch, den intuitiven Umgang mit Risiko durch einen systematischen Umgang mit Risiko zu ergänzen. Risiken bleiben Bestandteil unseres Lebens, aber die Risiken werden berechenbarer.

Die Lebenserwartung ist in den letzten Jahrzehnten markant gestiegen. Wir befinden uns heute in einem sicheren und gesunden Umfeld. Der Grenznutzen nimmt ab – weitere Steigerungen sind mit relativ hohen und immer höheren Kosten verbunden.
Das ist ein allgemeines Phänomen unseres hohen Wohlstands. Umso wichtiger wird es, sich Rechenschaft abzulegen, wie wir unsere Mittel einsetzen. Nehmen wir das Beispiel eines Bahnhofs. Um entscheiden zu können, ob und wie die Sicherheit erhöht werden soll, braucht es zuerst einen Überblick über die Risiken des aktuellen Zustandes. Welche Unfallszenarien können sich auf einem Bahnhof mit welcher Wahrscheinlichkeit und welchen Auswirkungen ereignen? Um wie viel werden die Risiken reduziert und welche Kosten entstehen? Daraus ergibt sich eine Liste mit Möglichkeiten, die nach ihrem Kosten-Wirksamkeits-Verhältnis geordnet werden. Erst wenn diese Grundlagen vorliegen, können Entscheidungsträger wählen, ob und welche Massnahmen ergriffen werden sollen. Dabei geht es nicht nur darum, Sicherheit weiter zu erhöhen, sondern auch darum, das Sicherheitsniveau mit möglichst geringem Mitteleinsatz zu halten.

Risikomanagement kostet. Bei Unfällen kommt das Thema aufs Tapet. In ruhigen Zeiten hingegen ist die Bereitschaft klein, für die Verminderung von Risiken viel Geld auszugeben. Könnte man sagen, dass Ihr Job von der Konjunktur von Unfällen bzw. von deren Wahrnehmung in der Öffentlichkeit abhängt?
Manchmal ist das so – leider. Denn die besten Zeiten, um Unfällen vorzubeugen, sind die ruhigen Zeiten. Aber die Welt funktioniert nun mal nach den Prinzipien der Aufmerksamkeitsökonomie. Wenn gerade etwas Schlimmes passiert ist, wächst die Bereitschaft von Verantwortlichen in der Politik und Wirtschaft, Geld zu investieren, leider oft am falschen Ort. Nur wer auf systematische Risikoanalysen zurückgreifen kann, ist vor Aktionismus gefeit und kann auch nach einem Unfallereignis überlegt reagieren. Man kann prüfen, ob das Ereignis in einem kritischen Bereich ist, wo man handeln muss. Oder man erkennt, dass die Risiken nicht kritisch sind, sich keine zusätzlichen Massnahmen aufdrängen und man letztlich einfach Pech hatte.

Es ist paradox: je seltener ein Ereignis, desto grösser sein Schaden. Doch gleichzeitig gilt: je seltener ein Ereignis, desto weniger Daten haben wir und desto weniger wissen wir darüber…
…und je neuer eine Technologie ist, desto weniger können wir Risiken abschätzen. Alltagsrisiken machen uns keine Angst. Jeder geht täglich über die Strasse, ohne sich davor zu fürchten, überfahren zu werden. Neue, unbekannte und seltene Risiken machen uns mehr Angst.

In der Öffentlichkeit herrscht grosses Unwissen über neue Technologien wie Nano- oder Gentechnologie. Und trotzdem massen wir uns an, ein Urteil über die Risiken dieser Zukunftsthemen zu fällen. Ist das ignorant oder massvolle Vorsicht?
Die Angst vor dem Unbekannten ist dem Menschen eigen, zweifellos. Man kann diese neuen Technologien schwer einschätzen. Deshalb setzt man wo möglich auf das Prinzip Vorsicht. Das spiegelt sich im Vorsorgeprinzip: wenn man über etwas nur wenig weiss, meidet man das Risiko. Das ist durchaus rational, aber eben nicht immer möglich. Darum muss man auch in solchen Fällen das verfügbare Wissen nutzen. Das schliesst auch das Nichtwissen ein: zu wissen, was man nicht weiss, ist auch Wissen. Jedes Risikomanagement beruht auf Annahmen. Man muss erklären, wo man über wenig Wissen verfügt und auf Annahmen zurückgreift. Und je weniger man weiss, desto vorsichtiger müssen die Ergebnisse interpretiert werden.

Sicherheitsentscheidungen erfolgen immer unter Bedingungen einer fundamentalen Unsicherheit. Ein Beispiel: ich baue ein Haus auf einem Stück Land, das zwar schon über 150 Jahre keine Überschwemmung mehr erlebt hat, aber trotzdem gefährdet ist. Wie kann ich dieser Falle entgehen?
Hier erreicht Intuition ihre Grenze. In vielen potentiellen Hochwasser- oder Lawinengebieten wurde in den letzten Jahren gebaut. Diese Gebiete sind vielleicht nur alle 100 Jahre betroffen, und die Standorte sind attraktiv. Die Leute sehen vor allem den Nutzen. Die damit verbundenen Risiken werden intuitiv verdrängt. Gerade in diesem Bereich sind systematische Überlegungen nötig. Eine Gefahrenkarte mit Risikozonen ist eine Grundlage, die hilft, zu entscheiden, wo man mit welchem Risiko bauen kann.

Das Problem ist doch: für die Abschätzung seltener Ereignisse brauchen wir Daten, die es nicht gibt. Wir treffen Annahmen. Diese Annahmen produzieren dann Daten, die wir dann für die Abschätzung von Risiko benutzen. Wir befinden uns also in einem Loop.
Die Abschätzung seltener Daten kann sich nicht auf Daten alleine stützen. Dazu braucht es analytische Modelle und immer auch Annahmen. Die damit ermittelten Werte müssen kritisch hinterfragt werden. Da gibt es nur ein Rezept: man muss mit skeptischer Distanz die eigenen Einschätzungen hinterfragen. Dieser Schritt zurück ist Teil des Prozesses. Dabei können einem Leute helfen, die nicht in den Prozess involviert sind, also einen anderen Blickwinkel einnehmen können.

Können Sie konkreter werden?
Vor einem Jahr waren wir mit der Gefahr der Schweinegrippe-Pandemie konfrontiert. Niemand wusste zu Beginn, wie sich das Virus ausbreiten wird und welche Gefahren davon ausgehen.

Man greift in solchen Fällen gerne auf das Beispiel der Spanischen Grippe von 1918 zurück.
Genau. Man beobachtete das Virus und untersuchte dessen Verbreitung im Kontext bereits gemachter Erfahrungen. Dabei berücksichtigte man zu wenig, dass sich das Virus zwar weltweit ausbreitete, es aber weniger tödliche Krankheiten auslöste als jenes von 1918. Die Forscher oder die Entscheidungsträger, die sich im Loop befanden, haben diese Möglichkeit wohl zu wenig berücksichtigt. Leute von aussen haben diese Möglichkeit früher realisiert. Wenn man systematisch Aussensichten eingeholt hätte, hätte man vermutlich angemessener reagieren können.

Kämpft der Risikomanager letztlich gegen die Irrationalität des Menschen an?
Systematischer Umgang mit Risiken bedeutet, dass man Risiken nachvollziehbar und transparent macht. Das ist keine Frage von Rationalität und Irrationalität. Sogenannt irrationales Verhalten ist Teil des menschlichen Wesens. Damit ist es nicht irrational, sondern Tatsache und muss in das Risikomanagement einbezogen werden.

Der amerikanische Soziologe Aaron Wildavsky sagte: «No risk is the highest risk of all.»
Wildavsky hat auch die Theorie der Risiko-Homeostasis entwickelt. Diese besagt, dass das Niveau von Risiko konstant bleibt. Wenn man an einem Ort die Risiken reduziert, fährt man sie einfach anderswo hoch. Wenn man im Auto ein ABS einbaut, passen die Fahrer ihren Fahrstil an. Das Risikoniveau bleibt konstant.

Stimmt das? Ich bin überzeugt, dass ich mich auf der Skipiste unbewusst risikofreudiger verhalte, wenn ich einen Skihelm trage.
Das mag sein. Aber beim Tragen eines Skihelms müssten Sie sich nicht nur überlegen, wie Sie selbst fahren, sondern auch das Risiko des Verhaltens von anderen einbeziehen.

…und die anderen tragen in zunehmender Zahl Skihelme und verhalten sich risikofreudiger…
…die Theorie des konstanten Risikos hat ihren Reiz: Wir sind heute weniger Risiken als vor 100 Jahren ausgesetzt, und gleichzeitig betreiben viele Leute Extrem- und Risikosportarten. Dies ist eigentlich nichts anderes als eine Kompensation des risikofreien Alltagslebens. Die Kompensation findet jedoch auf individueller Ebene statt. Auf kollektiver Ebene halte ich die Theorie jedoch für falsch. Denn dort führt der systematische und bewusste Umgang mit Risiken letztlich zu sichereren Gesamtsystemen.

Es besteht auf kollektiver Ebene die Tendenz, auf jedes Problem mit neuen Gesetzen zu reagieren. Je mehr reguliert wird, desto mehr nimmt der Verantwortungssinn des einzelnen ab. Somit wären wir zum Schluss wieder bei einem Paradox: das riskante Verhalten der Individuen nimmt wegen Risikovermeidung durch Gesetze wieder zu.
Um dieser Falle zu entgehen, brauchen wir eben Risikomanagement. Man kann beispielsweise bei einer Seilbahn im Detail alle möglichen Sicherheitsmechanismen vorschreiben. Oder man kann dem risikobasierten Ansatz folgen und sagen, dass die Risiken unter einem zu definierenden Niveau liegen müssen. Wie dieses Niveau erreicht wird, ist dann aber letztlich Sache des Betreibers. Es gibt eine Zielvorgabe, aber die Umsetzung wird jenen überlassen, die am besten mit einem System vertraut sind.

 

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Risiken und ihre Nebenwirkungen

Wir treffen täglich Risikoentscheide. Beim Planen einer Bergtour von der Mönchsjochhütte auf die Jungfrau sind uns diese bewusst, beim Verzehr von Ballotines de Poulet provençale eher nicht. Eine kleine bis gar keine Rolle spielt in unseren Überlegungen zu Bergtour und Poulet, dass es 2009 in der Schweiz 112 tödliche Bergunfälle gab und weltweit jedes Jahr […]

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