Wir brauchen Ihre Unterstützung — Jetzt Mitglied werden! Weitere Infos

«Wir hätten alle lieber die ­eierlegende Wollmilchsau»

Das Vorsorgesystem ist in einer Reformsackgasse. Ein FDP-Politiker, eine SP-Politikerin und eine Politologin loten Auswege aus.

«Wir hätten alle lieber die ­eierlegende Wollmilchsau»
Flavia Wasserfallen, fotografiert von Djamila Grossman.

 

Frau Wasserfallen, das Vertrauen in die staatliche Altersvorsorge ist nicht eben hoch. Gemäss Vorsorgebarometer der Raiffeisen ­haben nur gerade 16 Prozent der Bevölkerung Vertrauen in die erste Säule. Ein Bekannter in meinem Alter sagte mir kürzlich, er rechne nicht damit, dereinst eine AHV-Rente zu erhalten. ­Können Sie ihn beruhigen?

Flavia Wasserfallen: Es ist unsere politische Aufgabe, die Altersvorsorge mit ihren drei Säulen, vor allem die AHV, die mir sehr am Herzen liegt, zukunftsfähig zu gestalten. Wir haben keine umfassende Reform der Altersvorsorge mehr zustande gebracht seit 1995. Damals ist eine Erhöhung des Frauenrentenalters von 62 auf 64 Jahre gelungen, weil die Reform gleichzeitig grosse Kompensations- und Gleichstellungsmassnahmen enthielt und so im Gesamtpaket ausgewogen war. Reine Abbauvorlagen haben an der Urne nie bestanden.

Herr Silberschmidt, Sie sind noch weiter vom Rentenalter entfernt. Rechnen Sie mit einer AHV-Rente?

Andri Silberschmidt: Ich hoffe es schwer, und ich glaube, dass die Politik hier ihre Verantwortung wahrnehmen muss. Die letzten Vorlagen, die an der Urne gescheitert sind, waren Ausbauvorlagen: die Altersvorsorge 2020 ebenso wie die AHV-Plus-Initiative der Gewerkschaften. Die Zeichen sind klar: Wir haben in der ersten Säule in den nächsten 25 Jahren gemäss Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) ein Defizit von 190 Milliarden Franken – das ist 16mal der Neat-Tunnel. Das sind keine guten Zukunftsaussichten für die Jungen.

Wasserfallen: Diese 190 Milliarden Franken beziehen sich auf einen Zeitraum bis 2045. Es scheint mir problematisch, solch lange Zeiträume in Betracht zu ziehen für Reformen, weil sich Parameter auch ändern. Das Problem der Babyboomer-Generation, die in Rente geht, ist ein vorübergehendes. Ausserdem enthält diese Schätzung keine Reallohnentwicklung, und sie geht von einer linearen Fortsetzung der Lebenserwartung aus, was nicht realistisch ist, wenn man die Entwicklung betrachtet.

Silberschmidt: In der Klimapolitik betrachtet man noch längere Zeiträume – das ist doch inkonsequent! Für mich ist Nachhaltigkeit in der Umwelt ebenso wichtig wie in der Sozial­politik. Natürlich gibt es Unschärfen in den Voraussagen, aber die 190 Milliarden sind das Basisszenario, man könnte es auch noch schwärzer malen – die Coronakrise ist zum Beispiel darin noch nicht berücksichtigt.

Frau Häusermann, warum gelingt es der Politik nicht, die ­Sozialwerke auf eine stabile Grundlage zu stellen, damit die junge Generation Vertrauen in sie haben kann?

Silja Häusermann: Zunächst möchte ich Ihren Kollegen beruhigen. Ich denke, er kann darauf zählen, eine AHV zu erhalten – ich weiss nicht, ob er sie mit 65 Jahren bekommt und ob sie genau gleich hoch sein wird wie heute. Aber es gibt kaum etwas Stabileres im Staat als die Rentenversicherung. Rentensysteme sind schwer manövrierbare Tanker. Das ist ein Vorteil für die Stabilität – und ein Nachteil für die Reformfähigkeit. Die Schweiz hat 1995 für die AHV und 2003 für die berufliche Vorsorge erstaunlich umfassende und innovative Reformprojekte beschlossen, die auch Rentenkürzungen enthielten. Seither ist es sehr viel schwieriger geworden, grosse Reformprojekte durchzubringen, und zwar aus zwei Gründen. Zum einen ist die Zustimmung zu Rentenkürzungen in der Bevölkerung unglaublich tief. Wir haben in unseren Umfragen immer wieder gefragt, ob die Leute zur Sicherung der Renten gewisse Einbussen bei den Leistungen hinzunehmen bereit wären. Konstant haben über sechzig Prozent Nein gesagt; etwa ein Drittel findet, man müsse eine Balance finden zwischen Mehreinnahmen und Minderausgaben, und weniger als zehn Prozent sind wirklich bereit, Leistungseinschränkungen in Kauf zu nehmen. Das macht Reformen schwierig, besonders in einem Land wie der Schweiz, wo es eine Mehrheit an der Urne braucht.

Und der zweite Grund?

Häusermann: Es ist in der Schweiz schwieriger geworden, Reformpakete zu schnüren, aus Gründen, die nichts mit Renten zu tun haben, sondern mit dem verstärkten Parteienwettbewerb. Dieser erschwert die Kompromissfindung, insbesondere zwischen den in diesem Dossier zentralen Parteien FDP und SP.

Der jüngste Reformanlauf bei der AHV (AHV 21) sieht eine Er­höhung des Rentenalters der Frauen auf 65 Jahre vor, allerdings mit Kompensationsmassnahmen. Dafür soll die ­Mehrwertsteuer um 0,7 Prozentpunkte erhöht werden. Ein guter Kompromiss, Frau Wasserfallen?

Wasserfallen: Mir ist es wichtig, das Ganze im Auge zu haben. Den Frauen in der Schweiz entgehen jährlich 7,7 Milliarden Franken Einkommen wegen der Lohndiskriminierung. Dadurch entgehen auch der AHV Einnahmen von über 700 Millionen jährlich. Wenn wir Lohngleichheit hätten, könnte man das Rentenalter angleichen und sich die Kom­pensations­zahlungen sparen. Wir haben aber noch keine Lohngleichheit, und deshalb ist es auch richtig, dass Kompensationszahlungen vorgesehen sind.

Jetzt haben Sie meine Frage nicht beantwortet. Ist das ein guter Kompromiss?

Wasserfallen: Er ist für mich noch verbesserungswürdig. Die Kompensationsmassnahmen für die Frauen sind tiefer als bei der Altersvorsorge 2020. Hier braucht es Verbesserungen.

Wie sehen Sie das, Herr Silberschmidt?

Silberschmidt: Man muss sich einfach bewusst sein, von welchen Summen wir hier sprechen. Die AHV schreibt ein Defizit von bald 4 Milliarden Franken pro Jahr. Die Erhöhung des Frauenrentenalters alleine würde etwa 1,5 Milliarden Franken bringen, mit Kompensationen sind es noch etwa 600 bis 700 Millionen Franken. Wir bieten sicherlich Hand für Kompensationen. Wichtig ist, dass diese den Direktbetroffenen zugutekommen und nicht ein genereller Ausbau sind – das war der Fehler bei der Altersvorsorge 2020. Aber es kann nicht sein, dass wir die Defizite in der AHV einfach mit höheren Steuern decken. Mit der Vorlage Steuerreform und AHV-Finanzierung (STAF) haben wir schon 60 Milliarden ins System gepumpt. Ich wäre zu haben für einen Kompromiss, bei dem wir die AHV hälftig über höhere Einnahmen und hälftig über das Rentenalter sanieren. Doch im Moment machen wir es praktisch nur über höhere Steuern.

In seiner Botschaft schreibt der Bundesrat, es brauche «eine ­Dynamik mit regelmässigen AHV-Reformen». Sollte das Ziel einer Reform nicht sein, Probleme zu lösen statt in die Zukunft zu ­verschieben, Frau Häusermann?

Häusermann: Die Idee eines Befreiungsschlags, der den Reformbedarf für 30 Jahre erledigt, ist unrealistisch, gerade im schweizerischen politischen System, das für solche Würfe überhaupt nicht geschaffen ist, da bräuchten Sie ein sehr viel zentralistischeres System.

Die Politik der kleinen Schritte ist also nicht so schlecht?

Häusermann: Zumindest ist sie quasi der natürliche Weg im schweizerischen System. Wobei in der Altersvorsorge zumindest die letzten gelungenen Reformen sehr beachtlich waren. Sie haben systemische Veränderungen gebracht, wie sie seit 15 Jahren nicht mehr möglich sind. Die AHV 21 hingegen ist ein wirklich kleiner Schritt, da sollten sich Überschneidungen zwischen den Parteien finden lassen. Aber sie ist sicher nicht der Weisheit letzter Schluss für das Schweizer Rentensystem für die nächsten Jahrzehnte.

Kommen wir auf die Revision der zweiten Säule zu sprechen. Dort soll der Mindestumwandlungssatz von 6,8 auf 6,0 Prozent ­gesenkt werden. Auch hier sind Kompensationsmassnahmen ­vor­gesehen. Gleichzeitig sollen die Beiträge erhöht werden. Sind ­Mehreinnahmen und Mehrausgaben heute der einzige Weg, das Vorsorgesystem zu sanieren, Frau Wasserfallen?

Wasserfallen: Ich halte dieses Reformprojekt für einen guten Kompromiss. Die Senkung des Umwandlungssatzes ist gerechtfertigt, weil wir in der zweiten Säule eine störende Umverteilung von der jüngeren zu den älteren Generationen haben. Wobei oft vergessen geht, dass es zugleich eine Umverteilung von Personen mit tieferen Einkommen, die eine tiefere Lebenserwartung haben, zu jenen mit höheren Einkommen gibt. Diese Umverteilung kann man etwas auffangen mit dem vorgesehenen, solidarisch finanzierten Rentenzuschlag.

Aber eigentlich ist doch die Idee, dass die Umverteilung in erster ­Linie in der AHV erfolgt, während in der zweiten Säule jeder für sich spart. Steht der Rentenzuschlag nicht im Widerspruch dazu?

Wasserfallen: Dass jeder für sich spart, wäre die Idee. Aber ­sagen Sie das einmal einer Coiffeuse, die 600 Franken BVG-Einkommen pro Monat hat. Davon kann man nicht leben. Deshalb ist es wichtig, dass der Koordinationsabzug gesenkt wird. Und deshalb ist auch der Zuschlag eine gute Lösung.

Silberschmidt: Die Reform geht in die richtige Richtung. Die 7-Milliarden-Franken-Umverteilung pro Jahr ist systemwidrig und muss beseitigt werden. Nur habe ich ein bisschen Mühe, wenn ich schon wieder von einem Rentenzuschlag höre, den notabene auch Leute erhalten sollen, die gar nicht von der ­Reform betroffen sind. Natürlich müssen wir schauen, dass Coiffeusen besser versichert sind. Aber als heikel betrachte ich, dass man Angestellten von Pensionskassen, die gut wirtschaften und ihre Hausaufgaben gemacht haben, Geld entnimmt und damit jene Kassen querfinanziert, die eine Unterdeckung haben. Da wäre es ehrlicher, wenn man das Geld aus der Bundeskasse nimmt und sagt: Wir haben mit dem Mindestumwandlungssatz ein Versprechen gemacht, wir haben zu viel Rente versprochen und dafür kommen wir nun auf.

Vor drei Jahren kämpften Sie gegen das Reformpaket Alters­vorsorge 2020 in der Hoffnung, einen besseren Deal zu bekommen. Hand aufs Herz: Wirklich besser ist das nicht, was jetzt vorliegt.

Silberschmidt: In der AHV sieht es danach aus, dass es keinen generellen Rentenausbau gibt. In der zweiten Säule haben wir gute Chancen, einen überparteilichen Kompromiss zu finden, indem wir Teilzeitarbeitende und Personen mit weniger Einkommen besser ins System einbeziehen. Hier ist es möglich, eine Lösung zu finden, da bei der beruflichen Vorsorge die Fronten nicht so verhärtet sind wie in der AHV, in der die SP auch ein bisschen ihre Existenzgrundlage sieht und wo wir die grossen Herausforderungen ausmachen. Es geht mir auch nicht darum, recht gehabt zu haben. Man kann eine Vorlage immer nur im Moment diskutieren.

Silja Häusermann, fotografiert von Djamila Grossman.

Frau Häusermann, die AV 2020 wurde von zwei Seiten bekämpft, und nach der Abstimmung war umstritten, ob das Nein ein ­«rechtes» oder ein «linkes» Nein war. Sagen Sie uns: Was will das Volk eigentlich?

Häusermann: Das ist eine gute Frage, aber es gibt natürlich nicht «das Volk». Wie gesagt will eine klare Mehrheit keine Rentenkürzungen. Zugleich sagen 80 bis 90 Prozent der Befragten in unseren Umfragen, dass der Reformdruck hoch sei und man unbedingt etwas tun müsse. Das ist enorm widersprüchlich – und das ist der grosse Clinch. Anders als Herr ­Silberschmidt glaube ich, dass die Lösungsfindung in der beruflichen Vorsorge schwieriger ist als in der AHV. Natürlich ist die AHV sehr politisiert, aber es ist auch klar, wo man sich finden kann, und die nächste Reform ist kein revolutionärer Schritt. Die Renten der zweiten Säule sind im Gegensatz zur AHV nicht nur für Menschen mit mittleren und tieferen Einkommen sehr wichtig, sondern insbesondere auch für die mittleren und oberen Einkommen. Deshalb ist die Ablehnung eines tieferen Umwandlungssatzes noch viel stärker und breiter – und zwar nicht nur im linken Elektorat, sondern quer durch alle Parteien, auch bei FDP-Wählerinnen und -Wählern. Das heisst nicht, dass sie nicht überzeugt werden können, aber die Ausgangslage ist sehr schwierig. Man muss auch sehen: Vorlagen, die beispielsweise Rentenalterserhöhungen oder einen tieferen Umwandlungssatz vorsehen, starten in der Regel mit einer Zustimmung von nicht einmal 30 Prozent. Die grosse Frage ist, wie man diese Zustimmung auf 50 Prozent hochkriegt. Bei der Altersvorsorge 2020 hat es knapp nicht gereicht, aber es ist nicht unmöglich, auch bei der BVG-Reform nicht.

Silberschmidt: Ich möchte klar sagen: Wir haben noch nie Renten gekürzt, werden es auch nie tun. Die Renten der Frauen beispielsweise sind in den letzten vierzig Jahren real um 33 Prozent gestiegen. Aufgrund der gestiegenen Lebenserwartung bezieht man immer mehr Rente, als man einbezahlt hat. Indem man einen politisch festgesetzten Umwandlungssatz senkt, nimmt man niemandem etwas weg, sondern gibt im schlimmsten Fall weniger zu viel aus als zuvor. Fakt ist, dass wir ein Loch haben in beiden Säulen, und die Frage ist: Wer leistet welchen Beitrag, um dieses Loch zu stopfen? Natürlich: Wenn man die Menschen fragt, ob sie freiwillig länger arbeiten wollen, sind sie abgeneigt. Wir hätten alle lieber die eierlegende Wollmilchsau, aber es gibt auch ökonomische Zwänge in den Sozial­werken, und da erwarte ich auch von der Politik, dass wir diese ansprechen. Ich denke, die Bevölkerung ist gedanklich schon viel weiter, als wir es teilweise in der Politik sind.

Frau Häusermann, Sie sagten zuvor, dass früher Reformen, die ­erfolgreich waren, sehr innovativ waren. Wie könnte eine ­innovative Reform heute aussehen?

Häusermann: Die grosse Frage ist, ob man grundsätzlich etwas am System ändert oder ob man eine Übergangslösung finanziert, eine Abfederung für 10 oder 20 Jahre. Bei der AHV-Reform 1995 war die grosse Errungenschaft die Einführung der Erziehungs- und Betreuungsgutschriften. Das war wirklich eine Revolution im System, ebenso wie das Ehegatten-Splitting, dass also während der Ehe die Beiträge aufgeteilt werden. Beim BVG hat man 2003 die Eintrittsschwelle gesenkt und damit tieferen Einkommen eine Rente ermöglicht. Heute könnte man in der zweiten Säule dem Umstand Rechnung tragen, dass die meisten Frauen in der Schweiz während eines grossen Teils ihrer Erwerbsbiografie Teilzeit arbeiten. Das Rentenproblem der Frauen rührt primär von den tiefen Pensen her und nicht von niedrigen Löhnen. Dem könnte man Rechnung tragen, indem man Teilzeitpensen in der zweiten Säule zum Beispiel immer kumuliert oder den Koordinationsabzug und die Eintrittsschwelle senkt.

Das System grundsätzlich neu zu denken, könnte auch deshalb ­nötig sein, weil sich die Arbeitswelt rasant verändert. Die Altersvorsorge ist auf die klassische Berufskarriere mit 100-Prozent-­Anstellung bis 64 oder 65 Jahre ausgerichtet. Bloss entsprechen ­immer weniger Menschen diesem Modell. Müsste man da nicht ­einmal etwas grundsätzlich Neues denken?

Wasserfallen: Ich bin überzeugt, dass wir mit der ersten Säule ein Modell haben, das zukunftsfähig ist, und ich bin auch überzeugt, dass eine gute Reform möglich ist. Die SP hat verschiedene Vorschläge eingereicht. Ich erinnere daran, dass jährlich über 90 Milliarden Franken quasi steuerfrei an Menschen über 60 vererbt werden. Hier könnte man eine sinnvolle zusätzliche Finanzierung für die AHV finden, welche die Löhne nicht belastet. Es gibt viele kreative Ideen.

Die sozialdemokratische Kreativität scheint sich darauf zu ­beschränken, mehr Einnahmen zu generieren…

Wasserfallen: Lassen Sie mich noch den zweiten Teil meiner Aussage machen! Man muss auch ausserhalb des Vorsorgesystems ansetzen. Wir möchten beispielsweise eine Elternzeit einführen, das würde die Verteilung der Erwerbs- und Betreuungsarbeit nachhaltig ändern. Ich denke auch, dass wir die Debatte über Lohngleichheit nicht einfach der Wirtschaft überlassen können, ohne Druck aus der Politik aufzubauen. Dadurch wird die Altersvorsorge von aussen her gestärkt.

Andri Silberschmidt, fotografiert von Djamila Grossman.

Kreative Vorschläge von Ihrer Seite, Herr Silberschmidt?

Silberschmidt: Mehr Steuern sind aus meiner Sicht nicht ­innovativ. Neue Finanzierungsquellen lösen das Grundpro­blem nicht. Eine sinnvolle Innovation wäre, in der AHV die Anreize, länger zu arbeiten, massiv auszubauen. Etwa, indem man bei Rentnern die Freigrenze erhöht, ab der sie auf ihr Einkommen Beiträge bezahlen müssen. In der zweiten Säule sehe ich Potenzial beim dritten Beitragszahler: der Anlagerendite. Sie trägt heute schon 40 Prozent zum Sparen bei. Wenn ich sehe, dass Pensionskassen in einem Negativ­zinsumfeld 30 Prozent Obligationen halten, auf die sie eine garantierte negative Rendite erwirtschaften, glaube ich, dass sie mit dem gleichen Risiko viel mehr erwirtschaften könnten. Es geht mir nicht darum, dass die Pensionskassen zu spekulieren beginnen, aber sie gehen heute zum Teil die ­falschen Risiken ein, weil sie an Anlagelimiten der Verordnung gebunden sind, die aus der Zeit vor den Negativzinsen stammen.

Wasserfallen: Zum ersten Punkt möchte ich noch sagen, dass ein wichtiges Element der AHV-21-Vorlage die Flexibilisierung des Pensionsalters zwischen 62 und 70 Jahren ist, einerseits über Kürzungen beim Rentenvorbezug, andererseits über Zuschläge beim Aufschub. Das ist sinnvoll, weil 65-Jährige eine sehr heterogene Gruppe sind: In manchen Berufsgruppen sind die Leute körperlich sehr erschöpft, während andere noch länger arbeiten möchten. Diesem Umstand müssen wir unbedingt Rechnung tragen.

Frau Häusermann, besteht nicht ein grundsätzliches Problem ­darin, dass in der Schweiz diejenigen, die bei einer Reform ­verlieren, eigentlich immer ein Vetorecht haben? Das Medianalter der Stimmenden bei Volksabstimmungen liegt um die 60 Jahre. Die Älteren können jede Rentenreform abblocken.

Häusermann: Es wird oft gesagt, dass es hier einen Generationenkonflikt gebe, aber wenn man die Daten anschaut, ist das nicht der Fall. Die politischen Einstellungen und Werte haben einen sehr viel grösseren Einfluss auf das Stimmverhalten als das Alter.

Trotzdem könnte man ja die Frage stellen, ob es nicht besser wäre, das Rentenalter zu entpolitisieren.

Häusermann: Tatsächlich könnte man die Rentenformeln an Parameter wie Wirtschaftswachstum und Lebenserwartung knüpfen. Einige Länder, etwa Deutschland, haben das gemacht. Aber das ist natürlich auch eine politische Reform, die in der Schweiz vom Volk angenommen werden müsste, und ich sehe wenig Evidenz, dass die Zustimmung zu einem solchen Systemwechsel höher wäre als direkt zu einem höheren Rentenalter. Eine Entpolitisierung ist durchaus ein bedenkenswerter Vorschlag, aber er ändert nichts an der grundsätzlichen Ausgangslage.

Frau Häusermann hat den verstärkten Parteienwettbewerb ­angesprochen, der Reformen im Weg steht. Ich möchte daher zum Schluss von Ihnen, Frau Wasserfallen und Herr Silberschmidt, je ­einen Punkt hören, bei dem Sie der jeweils anderen Seite recht ­geben.

Silberschmidt: Als das BVG eingeführt wurde, dachte man, dass es weniger Ergänzungsleistungen brauchen würde, weil die Leute in der beruflichen Vorsorge sparen. Tatsächlich sind die Ergänzungsleistungen aber angestiegen. Man kann nicht leugnen, dass es viele Menschen gibt, die ihr ganzes Leben wenig verdient haben und bei denen die Leistungen aus den ersten beiden Säulen nicht zum Leben reichen. Hier können wir über Verbesserungen sprechen.

Wasserfallen: Ich sehe das Problem, dass es Leute gibt, die zu früh in Rente gehen; wir haben heute ein effektives Renten­alter von 63 beziehungsweise 64 Jahren. Frühpensionierungen sind zum Teil ein Privileg für gut Situierte mit guter zweiter und dritter Säule. Es liegt im gesamtgesellschaftlichen Interesse, dass diese Leute länger arbeiten, wenn es ihnen möglich ist. Wir können die Bedingungen dafür verbessern.

»
Abonnieren Sie unsere
kostenlosen Newsletter!