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«Wir haben uns in einer Traumwelt verloren»
Michael Shellenberger. Bild: WENN Rights Ltd/Alamy Stock Foto.

«Wir haben uns in einer Traumwelt verloren»

Trotz grossem Reichtum sind die Städte in Kalifornien verslumt, sagt der Autor Michael Shellenberger. Er erklärt, warum er sich mit den Progressiven überworfen hat und wie Hollywood die Menschen zu Opfern macht.

 

Read the English version here.

 

Jim Morrison, der Sänger von «The Doors», wurde einmal ­gefragt, warum in San Francisco so viel los sei. Er antwortete: «The West is the best.» Ist der Westen immer noch das Beste?

Das hängt davon ab, was wir «den Westen» nennen. In gewisser Weise ist das heutige San Francisco ein Symptom der westlichen Zivilisation, so dass man sich fragen könnte, ob die westliche Zivilisation noch die beste sei.

Wie lautet Ihre Antwort?

Auf jeden Fall. In der Geschichte der Menschheit haben wir noch nie so viel Wohlstand und Freiheit erlebt wie in der westlichen Moderne. Unser Erfolg hat uns dazu verleitet, zu vergessen, dass er von einer materiellen Realität abhängt. Wir sind ideologisch geworden – verloren in den Medien, verloren in einer Art Traumwelt. Das begann lange vor dem Aufstieg von Social Media.

Was geschieht jetzt?

Wir sehen jetzt, dass sich gerade die zivilisiertesten Teile der Gesellschaft gegen die Werte der westlichen Zivili­sation wenden und deren Grundlagen untergraben. Wir ­sehen das in den Vereinigten Staaten und besonders dramatisch an der Westküste, wo eine Ideologie der Dezivilisation gefördert wird, die im Grunde eine nihilistische Philo­sophie ist. Wir erleben die Zerstörung einiger der grössten Städte der Westküste wie Seattle, Portland, San Francisco oder Los Angeles, verursacht durch Menschen, welche die westliche Zivilisation ablehnen, aber keine ­positive Alternative anbieten.

Wie viele Menschen auf der ganzen Welt sind auch wir mit amerikanischen Filmen und Serien aufgewachsen. Hollywood hat eine lange Zeit viel Soft Power ausgeübt. Ist das immer noch so?

Hollywood verfügt nach wie vor über eine beträchtliche globale kulturelle Macht. Doch auch in Hollywood wird daran gearbeitet, die westliche Zivilisation zu zerstören. Der vielleicht grösste lebende Filmemacher ist Denis Villeneuve, der kanadische Regisseur von «Dune, Blade Runner 2049» und «Sicario». Villeneuve setzt in seinen Filmen die antihumanistischen, deterministischen Ideen des Philo­sophen Michel Foucault um. Darin haben die Helden keine Handlungsmacht, sondern sie sind Produkte eines Systems, das sie weder verstehen noch kontrollieren können. In «Sicario» wird die von Emily Blunt gespielte weibliche Hauptfigur in eine Verschwörung hineingezogen, deren Teilnehmer ihrerseits lediglich Spielbälle grösserer Kräfte sind. Das Gleiche können wir in den Filmen der Coen-Brüder beobachten. Es erinnert an den Pessimismus in Schopenhauers Werk, wo Menschen nur Fleischpuppen sind, Tiere, die von Instinkten und Wünschen getrieben werden, für die wir blind sind. Wenn man in einem Hollywoodfilm Protagonisten sieht, die ihr Schicksal in der Hand haben, dann stehen sie oft im Dienst eines Narrativs, das die chinesische Regierung begünstigt. Unsere besten Künstler machen Filme, die die Vorstellung verstärken, dass wir keine wirkliche Kontrolle über unser Leben haben, dass wir Opfer höherer Kräfte sind.

Neben Hollywood liegt auch das Silicon Valley in Kalifornien. Viele Europäer sehen den Bundesstaat daher als eine dynamische und erfolgreiche Region. Würden Sie das auch so sehen?

Sieht man sich die Zahlen an, ist Kalifornien die grösste wirtschaftliche Erfolgsgeschichte in der Geschichte der Menschheit. Mit einem Bruttoinlandsprodukt, das grösser ist als jenes Indiens, ist es die fünftgrösste Volkswirtschaft der Welt. Eine gigantische Zahl von Milliardären lebt hier. Auf der anderen Seite haben wir die höchste Armutsrate in den Vereinigten Staaten. Eine Unterschicht von illegalen Wanderarbeitern verrichtet Arbeiten, die kalifornische Bürger nicht machen würden, unter oft gefährlichen Bedingungen. Die Elite lebt auf Hügeln wie Beverly Hills oder Berkeley Hills, ohne das menschliche Elend und Leid zu ­sehen. Die Innenstädte von San Francisco, Los Angeles oder San Diego sind allesamt von offenen Drogenszenen übernommen worden. Menschen in schockierender Zahl sterben an Überdosen von Fentanyl und Meth. Einen Block weg vom Civic Center, der wichtigsten U-Bahn-Station in San Francisco, wurde vor einigen Jahren ein 16jähriges Mädchen vergewaltigt, nachdem sie eine Überdosis genommen hatte. Diese Verderbtheit, dieser Zusammenbruch der Zivilisation findet im Herzen unserer Städte statt. Diese Städte haben den Rest der USA belehrt, wie wichtig fussgängerfreundliche, lebenswerte Strassen seien. Und nun kann man sich in ihnen nicht mehr sicher bewegen.

In Ihrem Buch «San Fransicko» schreiben Sie, dass sich in San Francisco die Beschwerden wegen menschlicher Fäkalien auf den Strassen zwischen 2014 und 2018 fast verdoppelt ­hätten. 2015 stürzte ein von Urin verätzter Laternenpfahl ein und ­zerquetschte ein Auto.

Fäkalien auf den Trottoirs, Zeltlager, Menschen auf harten Drogen, die sich wie Zombies verhalten: Diese Dinge sind nicht die Folge von Armut. Sie sind die Folge von Dekadenz und Reichtum. In gewisser Weise könnte man sagen, dass dies das Ende der amerikanischen Zivilisation ist: Amerika ist selbstgefällig geworden, es hat sich gegen sich selbst ­gewandt, so wie es alle Imperien irgendwann tun. Und doch war die Wirtschaft noch nie so produktiv wie heute. In diesem Sinne hat Kalifornien immer noch ein unglaub­liches Potenzial. Ich glaube, dass Determinismus eine Illusion ist, er ist arrogant. Der verstorbene demokratische ­Senator Patrick Moynihan aus New York sagte einmal, die zentrale konservative Einsicht sei, dass die Kultur und nicht die Politik den Erfolg einer Gesellschaft bestimme; aber die zentrale linke Einsicht sei, dass die Politik eine Kultur verändern und vor sich selbst retten könne. Ich denke, Kalifornien ist reif für eine politische Intervention.

«Fäkalien auf den Trottoirs, Zeltlager, Menschen auf harten Drogen, die sich wie Zombies verhalten: ­Diese Dinge sind nicht die Folge von Armut. Sie sind die Folge von ­Dekadenz und Reichtum.»

Was sind die Hauptprobleme, die man angehen müsste?

Das Hauptziel ist die Wiederherstellung unserer Zivili­sation und unserer Menschlichkeit. Das bedeutet, dass wir die offenen Drogenszenen schliessen müssen, was drei Dinge erfordert. Erstens brauchen wir eine Politik, die Menschen Schutz bietet, aber mit Regeln: Subventionierter Wohnraum sollte von den Menschen, die ihn brauchen, als Belohnung für gutes Verhalten verdient werden, und sie sollten ihn verlieren, wenn sie sich schlecht benehmen. Zweitens brauchen wir eine flächendeckende Versorgung mit Psychiatrie, die psychische Erkrankungen und Drogenabhängigkeit nach dem gleichen Ansatz behandelt wie in Europa. Und drittens müssen wir die geltenden Gesetze durchsetzen. Es gibt eine grosse Debatte darüber, ob wir die Möglichkeit, psychisch Kranke oder Drogenabhängige in Kliniken zwangseinzuweisen, ausweiten sollten. Vielleicht müssen wir das, aber es würde schon helfen, wenn wir einfach die Gesetze durchsetzten.

Die Strafverfolgung allein löst das Drogenproblem jedoch nicht. In Zürich gab es in den 1980er-Jahren eine offene ­Drogenszene. Das änderte sich zum Besseren, als die Regierung aufhörte, Junkies zu jagen, und sie in einer sauberen ­Umgebung Drogen konsumieren liess. Könnte das auch eine ­Lösung für Kalifornien sein?

Der Schlüssel liegt in der Strafverfolgung und sozialen Einrichtungen. In Zürich hat man die offene Drogenszene am Platzspitz geschlossen, aber sie ist zum Bahnhof Letten umgezogen. Wenn man nur Sozialfürsorge anbietet, dann sagen die Süchtigen: «Nein, danke.» Wenn man die Leute nur in den Knast steckt, funktioniert das auch nicht, denn man muss den Leuten helfen, wieder gesund zu werden. Zürich hat 2000 Wohnplätze für verschiedene Zielgruppen. Aber es gibt keine Toleranz für Verhaltensweisen wie Drogenhandel oder grosse Versammlungen von Drogenkonsumenten. Zürich hat die «4-Säulen-Strategie» ent­wickelt, die aus Prävention, Therapie, Schadensbegrenzung und Repression besteht. Es gibt soziale Einrichtungen, die jedoch eng mit der Polizei zusammenarbeiten. Ja, man braucht Liebe, aber Liebe ist nicht alles, was man braucht.

Was hat Sie dazu bewogen, sich mit Obdachlosigkeit und ­Drogensucht zu befassen?

In den 1990er-Jahren habe ich mich im Auftrag von George Soros, dem wichtigsten Financier solcher Bemühungen in den USA, für die Entkriminalisierung von Drogen ein­gesetzt. Die ursprüngliche Vision, an die ich glaubte, war, dass wir Süchtigen bei der Rehabilitation helfen würden. Daran habe ich geglaubt. Im Jahr 2000 starben in den USA 17 000 Menschen an einer Überdosis oder einer Drogenvergiftung, was bereits zu viel ist. Aber 17 Jahre später war die Zahl auf 70 000 gestiegen. Ich fragte mich: Was ist falschgelaufen? Warum werden Städte und Leben von Menschen ruiniert, die behaupten, progressiv zu sein und sich am meisten um die Opfer zu kümmern?

Sie zeichnen ein ziemlich düsteres Bild von Kalifornien. Die ­Demokraten haben seit Jahren sämtliche Hebel der Macht in der Hand. Was machen sie falsch?

Sie haben die Vorstellung, dass man die Welt in Opfer und Unterdrücker einteilen könne und dass die Menschen aufgrund ihrer Identität oder ihrer Erfahrungen in diesen Identitäten gefangen seien. Den Opfern sollte man alles ­geben und nichts abverlangen. Ausserdem glauben die sogenannt Progressiven, dass sie sich an den Tätern rächen müssen, indem sie ihnen etwas wegnehmen und es an die Opfer umverteilen. Diese Opferideologie ist für die Zer­störung unserer Städte von zentraler Bedeutung. Es gibt ­jedoch auch finanzielle Beweggründe für die Aufrecht­erhaltung einer unbehandelten psychisch kranken und süchtigen Bevölkerung. Wohnungsanbieter beispielsweise profitieren, weil sie Wohnungen an den Staat vermieten können.

Sie bezeichnen sich selbst als lebenslangen Demokraten und Progressiven, doch Sie klingen wie ein Konservativer. Haben Sie sich geändert, oder haben die Progressiven sich geändert?

Heute sterben 106 000 Menschen pro Jahr an einer Überdosis Drogen und Vergiftungen, und es gibt etwa 200 000 Obdachlose in Kalifornien. Das ist ein Anstieg auf mindestens das Fünffache in den letzten 30 Jahren. Als ich in meinen 20ern war, waren meine Helden Martin Luther King und Nelson Mandela. Die Idee war, eine Gesellschaft zu schaffen, in der Rassismus und Rasse keine Rolle mehr spielen. Heute ist die vorherrschende Meinung unter den Linken, dass Rasse und Rassismus das Wichtigste seien. Und wenn man das Gegenteil behauptet, wird man des Rassismus bezichtigt. Offensichtlich hat sich etwas geändert. Habe ich mich verändert? Ja, das habe ich auch.

Inwiefern?

Ich glaube, dass wir die Zivilisation brauchen. Die west­liche Zivilisation ermöglicht die Befreiung aller, nicht nur der reichen weissen Männer. Ein Freund von mir sagte, die Linken kümmerten sich um die Armen, die Libertären um die Freiheit und die Konservativen um die Zivilisation. Wenn das der Fall ist, dann bin ich alle drei. Um sich um die Schwachen zu kümmern und in Freiheit leben zu können, braucht man eine funktionierende Zivilisation mit Regeln und Gesetzen.

Wie Sie erwähnten, scheint es für diejenigen, die es sich leisten können, die bevorzugte Lösung zu sein, nach Beverly Hills oder in eine andere reiche Gegend zu ziehen. Fehlt es der ­kalifornischen Gesellschaft an einer gemeinsamen Basis?

In Kalifornien gibt es das Sprichwort «Crime don’t climb». Wenn Sie in Ruhe vor den offenen Drogenszenen leben wollen, ziehen Sie auf einen Hügel. Denn die Süchtigen schieben ihre Einkaufswagen nicht den Hang hinauf. Das ist die aktuelle Realität, aber nicht das Ende der Geschichte. Ich schöpfe viel Hoffnung aus den Erfahrungen mit offenen Drogenszenen in Amsterdam, Frankfurt, Wien und Zürich. Sie haben auch einen grossen Teil ihrer Innenstädte an die Opferideologie verloren, bis sich die Bewohner organisiert und gesagt haben: «Nein, wir wollen unsere Zivilisation nicht verlieren. Wir wollen unsere Städte behalten.» Ich bin kein pessimistischer Republikaner. Zivilisationen müssen nicht sterben, schon gar nicht die grösste Zivilisation, die es je gab. Die meisten Menschen würden lieber in einem freien, demokratischen und kapitalis­tischen Kalifornien leben als in Putins Russland oder Xis China. Solange dies der Fall ist, gewinnen wir.

Lassen Sie uns über eine andere Bedrohung der Zivilisation sprechen: die Umweltpolitik. Umweltaktivisten wollen, dass wir weniger Auto fahren, weniger fliegen, weniger Fleisch ­essen. Was ist daran falsch?

Es ist nichts falsch daran, wenn Menschen diese Dinge für sich selbst entscheiden. Falsch ist, wenn Menschen diese Dinge anderen aufzwingen wollen, insbesondere Menschen, die schwächer sind als sie selbst. Diese Art von apokalyptischem Umweltschutz ist menschenfeindlich, nihilistisch und zerstörerisch. Sie ist ein Machtspiel der Privi­legierten, um Afrikaner und Südasiaten in erneuerbarer, organischer Armut gefangen zu halten. Das ist nicht nur unmoralisch, sondern auch schrecklich für die Natur. Damit wird eine wenig effiziente Landwirtschaft aufrecht­erhalten, welche die grösste Bedrohung für unsere Regenwälder ist. Auch verhindert der apokalyptische Umweltschutz den Übergang von Holz und Kohle hin zu Atomkraft und Erdgas. Die radikalen, menschenfeindlichen Umweltschützer haben versucht, die Erdgasförderung weltweit zu stoppen. Sie haben Lobbyarbeit betrieben, um das Fracking für Erdgas zu stoppen, und offenbar wurden viele von ihnen direkt von Russland finanziert. Sie haben Blut an ihren Händen. Wir sollten Greta Thunberg, Al Gore und das Umweltprogramm der UNO zur Verantwortung ziehen.

Wieso die UNO?

Die UNO hat letzten Herbst vorgeschlagen, dass die Afrikaner keine fossilen Brennstoffe verwenden sollten, gerade jetzt, da Europa seine Atomkraftwerke abschaltet und zur Kohle zurückkehrt. Am besten wäre es für die Afrikaner, wenn sie sich ganz aus der UNO zurückziehen würden. Die europäischen und amerikanischen Eliten wollen, dass Afrika ein Spielplatz bleibt, auf dem sie herumfliegen und auf Safaris gehen können, ein Ort, auf den sie herabschauen können. Was sie am meisten bedroht, ist, dass die Afrikaner durch Staudämme, fossile Brennstoffe und moderne Landwirtschaft reich werden. Wir befinden uns in einer globalen Revolte gegen diese groteske, menschenfeindliche Ideologie. Und am nötigsten ist diese Revolte für Afrikaner und Südasiaten.

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