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Wir Alkoholiker

Für die Krankenpflege sorgt der Staat, also fordert er auch die Gesundheitsvorsorge. Der Bund will gegen alle Widerstände durchsetzen, dass die Menschen weniger essen, rauchen, Alkohol trinken oder Salz zu sich nehmen. Ein Blick auf das amtliche Treiben, das ohne gesetzliche Grundlage auskommt.

Wir Alkoholiker
Bild: fotolia.

Zwei Deziliter Alkohol, nicht mehr, empfiehlt der Experte. Nationalrat Sebastian Frehner stutzt, schaut die anderen Sitzungsteilnehmer an und macht für sich eine Überschlagsrechnung: Er halte sich noch knapp im unproblematischen Bereich, findet er. Dann merkt er, dass der Vertreter des Bundesamtes für Gesundheit, der in der Nationalratskommission vor übermässigem Alkoholkonsum warnt, nicht die Ration eines Tages, sondern eines Monats meint. Und er stellt fest: «Wir sind alle Alkoholiker.»
Einen «missionarischen Geist» sieht der Basler SVP-Mann bei den Gesundheitsförderern des Bundes wehen: Sie spielten sich als «den Bürger erziehende Moralapostel» auf. «Nach Tabak und Alkohol wird unter dem Deckmantel der Gesundheitsförderung noch so mancher Bereich unter staatliche Kontrolle und Obhut kommen», glaubt der Parlamentarier aufgrund der Visionen des Bundesamtes. «Geplant sind Regelungen betreffend Schall, Laser und UV-Strahlung, folgen werden solche zu Fleisch, Zucker und Fett.»
Wie der Bund die Bürger zum gesunden Leben erziehen will, lässt sich nachlesen. So im Bericht «Gesundheit 2020» zu den gesundheitspolitischen Prioritäten des Bundesrates, den die Landesregierung auf Betreiben des sozialdemokratischen Innenministers Alain Berset im Januar 2013 abgesegnet hat. Er hält fest, neben den demographischen Veränderungen und dem medizinisch-technischen Fortschritt führe auch das «sich ändernde Gesundheitsverhalten» dazu, dass es immer mehr Krankheiten gebe. Und eine Fussnote stellt klar, was darunter zu verstehen ist: «Ungesundes Verhalten besteht vor allem darin, dass man sich zu wenig bewegt, zu viel isst, raucht und zu viel Alkohol trinkt.»

 

Wer stoppt das BAG?

Mit weniger chronischen Krankheiten würden weniger hohe Kosten für das Gesundheitswesen, für die Wirtschaft und für die anderen Sozialversicherungen anfallen, lehrt der Bericht: «Deshalb müssen wirksame und effiziente Massnahmen zur Prävention, zur Früherkennung und zur Gesundheitsförderung eingeführt werden.» Darauf drängt der Bund in hohem Tempo. Mit seinen Zielen für 2015 strebt der Bundesrat an, dass die Botschaft zum Tabakproduktegesetz, die Botschaft zum Bundesgesetz betreffend Schutz vor nichtionisierender Strahlung (Laser, Solarien) und Schall, der Bericht über beabsichtigte Massnahmen zur psychischen Gesundheit in der Schweiz sowie die nationale Strategie Sucht zur Vorbeugung, Früherkennung und Bekämpfung von Suchterkrankungen (bis hin zur Spiel- und zur Internetsucht) in diesem Jahr zu verabschieden sind. Nationalrat Sebastian Frehner sieht also keine etatistischen Gespenster, wenn er fordert, dem Treiben des «Bundesamtes für Provokation» Einhalt zu gebieten, und fragt, wer aus der Wirtschaft, den Verbänden und den anderen Parteien dabei helfe: «Wer stoppt mit uns das BAG?»
Aber hat er recht? Muss der Staat die Eigenverantwortung der Bürger in diesen Bereichen überhaupt achten? Soll er nicht eher auf die Erziehung der Menschen setzen? Und wenn er eingreift: wie? Mit Geboten und Verboten? Mit Hinweisen, Empfehlungen und Vorschriften? Oder mit «Nudges», also sanften Stupsern, mit denen die selbsternannten «libertären Paternalisten» die eigenverantwortlichen Individuen auf den richtigen Weg stossen wollen? Auf kaum einem anderen Politikfeld lassen sich diese Debatten über die Prinzipien der Regulierung so konkret beobachten und die Mechanismen der Politik im Sozialstaat so plastisch veranschaulichen wie im Falle der Gesundheitsförderung.

 

Die Verfassung

 Die Debatte beginnt beim Verfassungsrecht, also bei der Grundsatzfrage, was der Staat tun muss, soll und darf. Die erst fünfzehn Jahre alte, angeblich nur «nachgeführte» Bundesverfassung von 1999 schreibt im ersten Absatz von Artikel 118 fest: «Der Bund trifft im Rahmen seiner Zuständigkeiten Massnahmen zum Schutz der Gesundheit.» Dabei wiegt die Einschränkung bisher schwerer als die Ermächtigung. Seit je pochen im Gesundheitswesen, also im Führen von Spitälern und im Beaufsichtigen der Ärzte, die Kantone auf ihre Zuständigkeit; «diese wird allerdings durch die gesundheitsrelevante Krankenversicherungsgesetzgebung faktisch immer mehr ausgehöhlt», wie die eben erschienene neue Ausgabe des St. Galler Kommentars zur Bundesverfassung einräumt. Das heisst: seit 1996 das Krankenversicherungsgesetz in Kraft trat, schlittern die Kompetenzen von den Kantonen zum Bund – und der machtbewusste Gesundheitsminister Alain Berset rafft alles an sich, was sich nicht subsidiär-föderalistisch, zivilgesellschaftlich und privatrechtlich regeln lässt.
Was der Bund tun soll, legt der zweite Absatz von Artikel 118 fest, nämlich das Erlassen von Vorschriften über den Schutz vor ionisierenden Strahlen (Radioaktivität), über die Bekämpfung «übertragbarer, stark verbreiteter oder bösartiger Krankheiten» und über den Umgang mit Lebensmitteln sowie Organismen, Chemikalien oder Gegenständen, «welche die Gesundheit gefährden können». Auf diesem weiten Feld übernimmt die Schweiz im autonomen Nachvollzug den Ausstoss des Regulierungsapparats der EU oder des global geltenden Codex Alimentarius – vom Händewaschen in Küchen über die Färbung von Schnullern bis hin zum Betruf beim Metzgen von Halal-Fleisch.
Während der Bund immer mehr Kompetenzen im Behandeln von Krankheiten an sich reisst, gibt ihm die Verfassung bisher keine zum Bewahren der Gesundheit. Bei der Totalrevision sprach die Kommission zwar über eine Bestimmung, dass der Bund die Selbsthilfe und die Prävention fördere, nahm sie aber aufgrund des Widerstands vor allem der Kantone nicht in die Verfassung auf. Das hinderte den freisinnigen Innenminister Pascal Couchepin nicht daran, schon sechs Jahre nach der Annahme der Bundesverfassung ein Präventionsgesetz zu verlangen und eine Fachkommission mit einem Bericht zu beauftragen.

 

Die Kommission

Der Vordenker des Bundesrates drängte sich für den Vorsitz auf: der Jurist und Pathologe Thomas Zeltner, Professor an der Uni Bern und damals Direktor des Bundesamtes für Gesundheit. «Er hat eine lange Geschichte als innovativer Leader in Public Health», preist der Wikipedia-Eintrag, nur auf Englisch verfügbar, den heutigen Verwaltungsratspräsidenten der Krankenkasse KPT, Sonderbeauftragten der Weltgesundheitsorganisation WHO und Berater des Bundes für die Strategie «Gesundheit 2020». «Er ist mehrfach unter die zwölf einflussreichsten politischen Akteure der Schweiz gewählt worden.»
Der Ruhm ist nicht übertrieben, das zeigt auch der Bericht «Zukunft von Prävention und Gesundheitsförderung in der Schweiz», den die Kommission 2006 vorlegte. Er lohnt die Lektüre immer noch, denn die Experten mit Thomas Zeltner als Motor planten nicht weniger als eine «Neuorientierung des schweizerischen Gesundheitssystems» – und sie ziehen ihre Pläne zur Volkserziehung gegen alle Widerstände durch.
Soll ein liberaler Staat die Gesundheit des Volkes fördern? Die Kommission, der mehrheitlich Präventivmediziner und Gesundheitsökonomen angehörten, hielt sich nicht mit verfassungsrechtlichen und staatspolitischen Fragen auf. Sie erwähnt in ihrem Bericht nur beiläufig, dass ein eidgenössisches Präventivgesetz 1982 scheiterte, und unterschlägt völlig, dass das Parlament noch in der Bundesverfassung von 1999 keine Bestimmung dazu wünschte. Denn sie erkennt «seit einigen Jahren auf gesamtschweizerischer wie auf kantonaler Ebene Bestrebungen, die Prävention und die Gesundheitsförderung zu stärken», ob mit Verfassungsgrundlage oder nicht.
Dieser Trend lasse sich damit erklären, dass zwei wichtige Prämissen der Gesundheitspolitik immer mehr in Frage gestellt würden. Einerseits: «Während in den letzten Jahrzehnten mit einem Anstieg der (gesunden) Lebenserwartung der Bevölkerung gerechnet werden konnte, muss heute angesichts der starken Zunahme der chronischen Erkrankungen, wie z.B. Übergewicht, Diabetes oder stressbedingter Störungen, eine Trendwende befürchtet werden.» Anderseits: «Aufgrund der demografischen wie auch der medizintechnologischen Entwicklung dürften verstärkte Effizienzbestrebungen allein nicht mehr ausreichen, um das Steigen der Kosten in der Gesundheitsversorgung zu dämpfen.»
Das heisst: seit der Einführung der obligatorischen Krankenversicherung und der Ausbreitung der Prämiensubventionen auf einen Drittel der Bevölkerung, also der faktischen Verstaatlichung der Krankenpflege, müssen sich die Menschen nicht mehr eigenverantwortlich um ihre Gesundheit kümmern – deshalb soll sie der fürsorgliche Staat dazu zwingen. Prävention und Gesundheitsförderung, hält die «Vision» der Experten denn auch fest, seien von Politik und Bevölkerung als «politikbereichübergreifende Aufgabe» zu verstehen: «Sie tragen verstärkt zur Sicherung und Verbesserung der Gesundheit, der Lebensqualität, aber auch der Leistungs- und Arbeitsfähigkeit der in der Schweiz lebenden Bevölkerung bei.»

 

Das Präventionsgesetz

Um in diesem Sinn den Volkskörper pflegen zu können, legte der Bundesrat 2009 ein Präventionsgesetz vor. Er stützte sich dabei, mangels einer expliziten Verfassungsgrundlage, auf den halben Satz in Artikel 118, der den Bund zum Bekämpfen von übertragbaren, stark verbreiteten oder bösartigen Krankheiten auffordert: Was die Bundesverfassung von 1874 bloss für den Kampf gegen Seuchen vorsah, liess sich flugs auf Herz-Kreislauf-, Tumor- oder Atemwegserkrankungen als häufigste Todesursachen ausweiten. Denn, wie der St. Galler Kommentar festhält: «Ob eine Krankheit ’bösartig’ ist, beurteilt sich nicht nur nach der individuellen Auswirkung, sondern danach, ob die Krankheit soziale und wirtschaftliche Schäden für die Gesellschaft nach sich zieht.» Ausserdem konnte sich das Bundesamt für Gesundheit dank enger Beziehungen zu den internationalen Organisationen seinen Auftrag geben lassen: Der Bundesrat folgte nicht nur seiner Fachkommission, sondern auch «einem zentralen Vorschlag der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur Weiterentwicklung des schweizerischen Gesundheitssystems».
Das Parlament beriet das Gesetz 2009 bis 2012. Nach zähen Verhandlungen sprachen sich im Nationalrat wie im Ständerat knappe Mehrheiten dafür aus, aber am Schluss fehlten im Ständerat zwei Stimmen zum absoluten Mehr, die nötig gewesen wären, um wegen der zusätzlichen Ausgaben für die Gesundheitsförderung die Schuldenbremse zu lösen. Damit war das Gesetz gescheitert. «Über die tatsächlichen Inhalte der Vorlage wurde kaum gesprochen», schimpft der aufschlussreiche Bericht «Das gescheiterte Präventionsgesetz: ein Lehrstück», den «Gesundheitsförderung Schweiz» herausgab, eine 1989 nach dem Scheitern des ersten Präventionsgesetzes von den Kantonen und den Versicherern gegründete Stiftung mit einem Budget von 18 Millionen Franken, die sich aus Zwangsbeiträgen der Versicherten speist. Und weiter: «Im Mittelpunkt stand vielmehr eine ideologisch gefärbte Grundsatzdiskussion zum Gegensatz von staatlicher und individueller Verantwortung.» Aha. Wer recht hatte, steht für die Autoren des Berichts fest: Die Gegner zogen mit «unzulässigen Vereinfachungen» die Diskussion über konkrete Massnahmen auf eine ideologische Ebene, die Befürworter setzten sich mit ihren «fachlich fundierten Stellungnahmen» nicht durch. «Es hat keine faktenbasierte Argumentation mehr stattgefunden», gab der freisinnige Ständerat und Präventivmediziner Felix Gutzwiller zu Protokoll. Auch die Gewinner, die das Gesetz knapp bodigten, freuten sich allerdings nicht. Der Bericht zitiert den christdemokratischen Ständerat Ivo Bischofberger, der warnte: «Wir haben zwar eine Schlacht, aber noch nicht den Krieg gewonnen.» Er hatte, wie sich heute zeigt, allen Grund für die Warnung: Die Volkserzieher machen einfach weiter, auch ohne Gesetz.

 

Präventionsmassnahmen

Was sie alles treiben, lässt sich in der aktuellen Ausgabe von «Spectra» nachlesen, dem Newsletter zur Gesundheitsförderung, den das Bundesamt für Gesundheit herausgibt. Noch bis 2016 laufen die 2008 – also vor der Beratung des Präventionsgesetzes im Parlament! – beschlossenen und 2012 verlängerten nationalen Programme zu Alkohol, Tabak, Drogen sowie Ernährung und Bewegung. Sie sollen abgelöst werden durch die Strategie zur Prävention nichtübertragbarer Krankheiten und die Strategie Sucht, die im Sommer in die Anhörung geht.
«Daran arbeiten heute die Akteure des Gesundheitswesens mit voller Kraft», schreibt Pascal Strupler, der freisinnige Direktor des Bundesamtes für Gesundheit. «Die Menschen sollen in die Lage versetzt werden, für ihre Gesundheit die möglichst besten Entscheide zu treffen. Nicht mittels Verboten oder Zwang. Gesundheitsförderung und Krankheitsvorbeugung soll vermehrt über Wissensvermittlung, Beratung und Sensibilisierung erfolgen. Nicht als Ersatz für die Eigenverantwortung des einzelnen, sondern – im Gegenteil – zu ihrer Stärkung.»
Der Direktor kennt also die Sprachregelung der «libertären Paternalisten» Thaler und Sunstein. Sein Bundesamt setzt allerdings beim angeblichen Stärken der Eigenverantwortung weiterhin nicht auf «Nudges», sondern lieber auf Intervention. Das lässt sich beispielhaft an der Salzstrategie zeigen, die seit 2008 läuft. Zu viel Salz – gemäss WHO alles über fünf Gramm pro Tag – führt angeblich zu Bluthochdruck; Schweizer Männer nehmen aber gemäss einer Studie mehr als zehn Gramm ein. Deshalb drängt das Bundesamt die Nahrungsmittelfirmen, aber auch Bäcker, Metzger und Wirte dazu, ihre Rezepte zu ändern – der Grund, weshalb das Brot oder die Pommes frites oft nicht mehr schmecken. Und nachsalzen lässt sich nicht, denn in Kantinen müssen die Ménagen von den Tischen verschwinden. Dabei bleibt umstritten, ob Salz, egal in welchen Mengen, bei Gesunden überhaupt schadet.
Das heisst: Nationalrat Sebastian Frehner hat recht mit seiner Kritik. Das Bundesamt reisst Aufgaben an sich, ohne dass es dafür einen Auftrag im Gesetz oder gar in der Verfassung gibt. Es bläht sich deswegen stetig auf: Sein Personalbestand wuchs von 2007 bis 2013 um 70 Stellen auf 476 Angestellte an, also um ein Fünftel. Es masst sich an, das Volk zum richtigen Verhalten zu erziehen. Und es stützt sich dabei auf fragwürdige Wissenschaft.

 

Reale Situation

Schon die Prämisse für den Eifer der Gesundheitsförderer ist falsch. Wegen der starken Zunahme der chronischen Krankheiten sei eine Trendwende hin zu einer Abnahme der (gesunden) Lebenserwartung zu befürchten, behaupteten die Experten um Thomas Zeltner vor acht Jahren. Und der Bericht «Gesundheit 2020» des Bundesrates geht immer noch von diesem Szenario aus. Die Lebenserwartung stieg aber seither stetig weiter, mit 82,8 Jahren halten die Schweizer jetzt den Weltrekord vor den lange führenden Japanern. Weil die Menschen immer älter werden, müsste eine Zunahme der chronischen Krankheiten niemanden besorgen; die Todesfälle wegen Herz-Kreislauf- und wegen Atemwegserkrankungen haben aber seit 1990 sogar um ein Viertel abgenommen, jene wegen Tumoren blieben gleich. Der Alkoholkonsum hat sich im 20. Jahrhundert von 15 auf 8 Liter reinen Spiritus fast halbiert; der Anteil der Raucher ist in den letzten zehn Jahren von 33 auf 26 Prozent zurückgegangen, bei den Jungen gar von 36 auf 24 Prozent. Und beim Better-Life-Index der OECD zeigen sich die Schweizer mit ihrem Leben immer am zufriedensten – ohne dass ihnen der Bund sagt, wie sie leben sollen.

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