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Wir

«Das Wir gewinnt.» – Motto der Förderorganisation «Aktion Mensch»

Wohlig und warm klingt es, das winzige Wörtchen «wir». Nach Gemeinschaft. Nach dem Ende der Einsamkeit. Wir sind wieder wer, und gemeinsam sind wir stark. Wir sind Papst und Fussballweltmeister, wenn auch meistens nur vom Sofa aus. Yes, we can! Das Wir gewinnt. Drei kleine Buchstaben bloss, ein unschuldiges Pronomen – und dann solche Kraft! Aber Vorsicht: nicht selten stecken hinter einem «Wir» auch Kollektivismen, Willkür und Ausgrenzung.

Denn wer ist «wir» eigentlich? Manchmal ist «wir» nur einer, und zwar ein verschämtes, verdruckstes «Ich». Viele wissenschaftliche Autoren frönen der sprachlichen Unsitte, das Pronomen zu verwenden, um sich Mut zu machen, vielleicht um mit ihren Theorien nicht so allein dazustehen. Und früher haben Regenten das «Wir» als Pluralis majestatis benutzt, um sich bedeutender zu machen. Aber sonst bezeichnet das «Wir» stets ein Kollektiv. Diese Gruppe braucht nicht gross zu sein. Schon eins und eins sind zwei; ich und du ergeben ein Wir. Solange ich und du ein Wir sein wollen, ist alles gut. Wenn nicht, nicht. Auch nicht, wenn sich ein Dritter aufdrängt, den beide nicht dabeihaben wollen. Soll heissen: das Wort «wir» kann Individuen zum Kollektiv verschmelzen, denen das in ihrer Unterschiedlichkeit möglicherweise gar nicht passt: Wir Weissen. Wir Asiaten. Wir Moslems. Schnell steckt so in einer kollektiven Identitätsschublade, wer doch nur als einzigartiger, facettenreicher Mensch zu betrachten ist. Ebenso rasch verbinden sich damit auch Forderungen: Wir müssen uns einen Ruck geben! Wir müssen gewinnen! Wir müssen solidarischer sein! Was so ein «Wir» nicht alles muss!

Handkehrum kann das «Wir» auch dazu dienen, Menschen auszuschliessen: Die Nichtweissen, die Nichtasiaten, die Nichtmoslems. Im Spanischen hat sich die Form «nosotros» erhalten: wir anderen, von euch Verschiedenen. Wegen der Möglichkeit einer solchen Grenzziehung unterscheiden Sprachwissenschafter das inklusive vom exklusiven «Wir», eines bindet den Adressaten ein, das andere gerade nicht. Sehr alte Sprachen wie das Chinesische, das Malaiische, das Cherokee und das Quechua haben dafür jeweils ein eigenes Wort. In den meisten Idiomen der Welt hingegen gibt es wie im Deutschen nur eines. Hier herrscht also Zweideutigkeit – und genau deshalb heisst es wachsam sein, wenn wieder jemand ein «Wir-Gefühl» beschwört.


Karen Horn
ist Dozentin für ökonomische Ideengeschichte, freie Autorin sowie Chefredaktorin und Mitherausgeberin der Zeitschrift «Perspektiven der Wirtschaftspolitik».

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