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Winterstiefel statt Havaianas
Bild: Unsplash/ @krakenimages.

Winterstiefel statt Havaianas

Der Umzug von Brasilien in die Schweiz war für mich ein Kulturschock. Vor allem an Weihnachten.

In meiner Kindheit in Rio de Janeiro bedeutete Weihnachten: eine Wohnung voller Menschen. Man war nie nur mit der engsten Familie zusammen – nein, auch Nachbarn, Cousins dritten Grades und ehemalige Arbeitskolleginnen der Oma wurden einfach zu Verwandten erklärt und eingeladen. In der Wohnung meiner Cousine im 18. Stock eines Hochhauses schliefen wir gefühlt zu zwanzigst – auf Matratzen, Sofas oder notfalls unter dem Esstisch. Die Männer quartierten wir grosszügig im Gemeinschaftsraum ein.

Und gegessen wurde! Für Brasilianer wäre ein Fondue chinoise eine Beleidigung. Nein, bei uns gab es Pernil Assado, das grösste Schulterstück, das ein Schwein hergibt, samt Haxe. Dazu gefüllten Truthahn, Rollschinken und ganze Poulets – schliesslich sprechen wir hier von einem Festessen, nicht von einer Diät. Als Beilagen gab es mit Käse überbackenen Gemüse-Reis, und selbstverständlich schaute jeder Nachbar vorbei, um zu «degustieren». Sie blieben natürlich nicht – denn zur Ceia de Natal (dem Weihnachtsmahl) ist nur die Familie geladen.

«Für Brasilianer wäre ein Fondue chinoise eine Beleidigung.»

Doch das Highlight war die Geschenkvergabe, die Stunden dauerte und mehr einer Comedy-Show ähnelte. Nachdem ein Name gezogen worden war, beschrieb man die betreffende Person absichtlich falsch: «Dieses Kind ist friedfertig, widerspricht nie und ist unglaublich ruhig.» Ein Augenrollen und kollektives Lachen folgten, bevor mein Name geraten wurde. Es war der schönste Moment – die Mischung aus Witz, Chaos und viel zu vielen Menschen, die zu viel Cola und Guaraná, einen koffeinhaltigen Softdrink, getrunken hatten. Bier gab es nicht, weil wir Baptisten waren. Kinder durften bis vier Uhr morgens aufbleiben – was für eine Freude!

Zu stille Nacht

Mit 11 Jahren kam ich in die Schweiz, infolge der zweiten Heirat meiner Mutter. Der Kulturschock war gross, besonders an Weihnachten. Plötzlich sassen wir nur zu fünft am Tisch in einer ruhigen Stube. Es war so still, dass ich das Ticken der Wanduhr hören konnte. Als mein Schweizer Opa dann mit seiner kräftigen Bassstimme «Stille Nacht» anstimmte, konnte ich nicht anders als zu kichern: «Opi, du singst lustig!»

Das Essen? Fondue chinoise. Anstelle von Pernil und Truthahn bekam ich dünnste Fleischscheiben, die in heisse Brühe getunkt wurden. Zu trinken? Rimuss. Der schmeckte mir aber gut.

Doch der grösste Unterschied: die Kälte. In Rio rannte ich barfuss in Havaianas-Schlarpen herum, in Zürich zog ich zum ersten Mal Winterstiefel an. Ein echtes Highlight war der Tannenbaum, der tatsächlich nach Wald roch und nicht aus Plastik war wie in Brasilien.

«Ein echtes Highlight war der Tannenbaum, der tatsächlich nach Wald roch und nicht aus Plastik war wie in Brasilien.»

Nach der Feier durfte ich nach Brasilien telefonieren. 1996 ging das noch über Festnetz – ein epischer Akt. Ich hörte die Stimmen meiner Grosseltern, meines leiblichen Vaters und plötzlich kullerten die Tränen. Eine Weihnacht ohne 40 laute Verwandte war einfach zu still.

Doch irgendwann hat der Schmerz nachgelassen. Heute weiss ich beides zu schätzen: die Festlichkeit im chaotischen Rio und die stille Wärme eines Schweizer Heiligabends. Nur eines ist geblieben: Mama backt immer noch den gefüllten Truthahn. Und so werden wir auch dieses Jahr die eine oder andere brasilianische Spezialität verzehren und dankbar sein, dass Weihnachten beides sein kann: laut und leise, warm und kalt – und voller Liebe.

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