Willkür und Verantworung
Begriffserklärung IV «Gerechtigkeit»
Von Aristoteles stammt die Idee der iustitia communitativa, dass also der Kern der Gerechtigkeit sei, Gleiches gleich zu belohnen oder gleich zu bestrafen. Für die anonyme arbeitsteilige Grossgesellschaft kann das nur in die Norm übersetzt werden «Gleiches Recht für alle und gleiche Spielregeln für alle». Friedrich A. von Hayek hat das in die prägnanten Sätze gegossen: «Es gibt für mich nur eine Gerechtigkeit, das ist die Gleichheit vor dem Gesetz. Jede Abweichung davon, selbst mit besten Absichten, öffnet der Willkür alle Türen, zerstört die Freiheit und damit den höchsten Wert, weil sie Voraussetzung für alle anderen Werte ist.»
Trotz der abschreckenden Beispiele in den sozialistischen Staaten ist es auch in der sogenannten «freien Welt» in den letzten 40 Jahren zu einer Perversion des Gerechtigkeitsbegriffs im Sinne von «Ergebnisgerechtigkeit» oder «Verteilungsgerechtigkeit» und «Gleichheit der Lebensumstände» (vor allem der Einkommen und Vermögen) gekommen. Der allgegenwärtige Tarnbegriff dafür lautet «soziale Gerechtigkeit». Während sich Gerechtigkeit klar und deutlich als Gleichheit aller vor dem Gesetz definieren lässt, ist es noch niemandem gelungen zu erklären, was genau unter «sozialer Gerechtigkeit» zu verstehen sei. Und es wird auch niemals gelingen, da es sich um ein Täuschungsunwort handelt.
Jedes Individuum ist einzigartig, es unterscheidet sich von allen anderen Menschen, ist verschieden in seinen Fähigkeiten und Fertigkeiten, in seinen Kenntnissen und Anlagen, in seinen Erfahrungen und Vorstellungen, in seinen Vorlieben und Abneigungen, in seinen Wünschen und Lebensprojekten, in Geschmack und Gehabe, in Zielsetzungen und Träumen, in Wertsetzungen und Verhalten. Wer für Millionen dieser unterschiedlichen Individuen nach Gleichheit der materiellen Lebensumstände strebt, muss alle ungleich behandeln, muss allen verschiedenen Menschen seinen Einheitswillen und seine Vorstellung von Gleichheit aufzwingen, muss befehlen und unterdrücken – kurz: muss alle Regeln der Gerechtigkeit brechen und zerstören.
Wer den staatlich sanktionierten «Himmel» auf Erden will, lesen wir bei Hölderlin in «Hyperion», wird den Staat und damit auch die Erde zur «Hölle» machen. Mao hat mit seinem Gleichheitswahn vorgeführt, wie eine solche Hölle aussehen kann: 70 Millionen Tote hat sein kulturrevolutionärer Gerechtigkeitsfeldzug gekostet. Schon Cicero hat vor über 2000 Jahren gewarnt: «So kommt es, dass überhaupt keine Gerechtigkeit ist, wenn sie nicht von der Natur ist und wenn die Gerechtigkeit, die aus Nützlichkeitserwägungen aufgestellt wird, durch diese Nützlichkeit wieder zerstört wird.»
Man kann heute nicht selten vom «uralten Gegensatzpaar von Freiheit und Gerechtigkeit» lesen. Das ist ein Irrtum, denn die Regeln des gerechten Verhaltens – und somit das gesamte Moralsystem einer Gesellschaft – stehen in engstem Zusammenhang mit der Verantwortlichkeit der Person. Und verantwortlich handeln kann der Einzelne nur bei freier Entscheidung. Verantwortung übernehmen heisst zunächst, für sich selbst verantwortlich zu sein und anderen nicht zur Last zu fallen. Es heisst als nächstes, für die Seinen (Kinder, Eltern, Partner) mitzusorgen. Verantwortung tragen heisst ferner, anderen nicht zu schaden, weder psychisch noch materiell-physisch. Zu all dem ist Eigentum unerlässlich, Eigentum am eigenen Leben, am eigenen Körper und am rechtmässig erworbenen Besitz.
Verantwortung kann nur das Individuum tragen, nicht aber ein Kollektiv; denn in diesem Fall müssten die Individuen ihre Verantwortung aufgeben und auf die Leiter des Kollektivs übertragen. Persönliche Verantwortung (eine andere gibt es nicht!) erfordert persönliche Freiheit (es gibt keine andere!) und persönliches Eigentum (es gibt kein anderes!). Gerechtigkeit im Sinne gerechten Verhaltens ist das Spiegelbild verantwortlichen Handelns. «Die Aufzwingung irgendeines Bildes von ‹sozialer Gerechtigkeit›», so Hayek, «vernichtet unweigerlich jene Freiheit persönlicher Entscheidungen, auf der alle Moral fussen muss. In Wirklichkeit beruht jene systematische Verfolgung des Irrlichts der ‹sozialen Gerechtigkeit› … durchweg auf der grauenhaften Idee, dass politische Macht die materielle Position von Einzelpersonen und Gruppen bestimmen sollte… Es war der grosse Vorzug der marktlichen Ordnung … dass sie jeden solcher Macht entkleidete, die nur in willkürlicher Weise gebraucht werden kann. Sie hat tatsächlich die weitestgehende jemals erreichte Beschränkung willkürlicher Macht bewirkt. Diesen grössten Triumph persönlicher Freiheit droht die Verführung ‹sozialer Gerechtigkeit› uns wieder zu nehmen.»
Mein Fazit: Freiheit, Verantwortung (Moral) und Gerechtigkeit bilden eine Einheit. Das verführerische Machtinstrument namens «soziale Gerechtigkeit» zerstört alle Komponenten dieser Einheit. Gerecht ist nur die Freiheit.
ROLAND BAADER, geboren 1940, ist Nationalökonom und Autor, unter anderem von «Markt oder Befehl» (Lichtschlag 2007). In seinen vorhergehenden Kolumnen hat er sich mit den Begriffen «Freiheit», «Sicherheit» und «Nachhaltigkeit» befasst.