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Willkommenin der Willensnation

Willkommenin der Willensnation

Die Schweiz wird nicht von einer einheitlichen Sprache oder Kultur zusammengehalten, sondern von gemeinsamen Werten. Das macht das Land offen für Zuwanderer – wenn sie sich zu ihnen bekennen.

Nachdem meine Familie und ich im Jahr 1979 in die Schweiz eingewandert waren, brachte mich mein Vater an das Ufer des vom Nebel überzogenen Zugersees und führte mit mir ein Vater-Sohn-Gespräch. Wir seien in die Schweiz eingewandert, um hier zu bleiben, und zwar permanent, sprach er. Daher sei es sehr wichtig, dass ich so schnell wie möglich die deutsche Sprache erlerne. Wenn ich mich vor allem mit türkischen Kindern unterhalte, würde mir das nicht gelingen. Daher müsse ich mich unbedingt mit Schweizern befreunden.

Nach diesem Gespräch ging es schnell. Thomas, dessen Familie aus dem Muotathal stammte, und ich wurden bald zu besten Freunden. Noch bevor ich überhaupt richtig Deutsch sprechen konnte, brachte er mir den «Hosenlupf» bei, und da die Welt von damals die Krankheit Aids noch nicht kannte, waren meine Eltern keineswegs entsetzt, als sie erfuhren, dass Thomas und ich Blutsbrüder geworden waren. Dank meines jungen Alters und Freundschaften zu Schweizer Kindern hatte ich nach nur rund einem Jahr die deutsche Sprache erlernt.

Kurz nach meinem achtzehnten Geburtstag schickten mich meine Eltern vom katholischen Zug an die Evangelische Mittelschule in Schiers ins Internat. Anders als viele solcher Bildungsinstitute war unsere Schule sehr schweizerisch geprägt. Sie wurde von Jugendlichen aus der ganzen Deutschschweiz und von externen Schülern aus dem Prättigau und der Bündner Herrschaft besucht, und ich war dort einer der wenigen Schüler mit Migrationshintergrund. Nach der Matura 1991 zog es mich nach Genf, wo ich für Studienzwecke zwei Jahre verbrachte, bevor ich nach Basel ging, wo ich Jus studierte und mein Anwaltspraktikum absolvierte. Unterbrochen wurde mein Genfer Aufenthalt von der Rekrutenschule, die hauptsächlich in Thun stattfand. Meine «Tour de Suisse» kam in die letzte Etappe, als ich im Jahr 2000 nach Zürich kam, wo ich seither wohne.

Unterschiedliche Kulturen auf kleinstem Raum

Meine Aufenthalte an den verschiedensten Orten und Regionen der Schweiz, meine Begegnungen mit den jeweiligen Kulturen, Sprachen, Religionen und Mentalitäten haben mir gezeigt, dass die Schweiz auch ohne Berücksichtigung der Zuwanderung ein multikulturelles Land ist. Diese Schweizer Eigenheit ist sogar innerhalb von Kantonsgrenzen deutlich spürbar. Prättigauer unterscheiden sich nicht nur sprachlich von den Davosern; diese sind wiederum anders als Menschen aus der Bündner Herrschaft, die ihrerseits kaum mit den Churern zu vergleichen sind. Dann gibt es noch das Engadin und das Puschlav, wo sogar eine andere Sprache gesprochen wird als Deutsch. Damit ist nur schon der Kanton Graubünden, wo nur rund 200 000 Menschen leben, ein Mosaikbild von unterschiedlichsten Kulturen und Sprachen.

Was die unterschiedlichsten Kulturen im kleinsten Raum zusammenhält, ist die Tatsache, dass die Schweiz eine Willensnation ist. Unser Land ist dazu auch prädestiniert, weil wir alle so unterschiedlich sind. Die Schweizer haben keine gemeinsame Religion, keine gemeinsame Sprache, ja nicht einmal eine gemeinsame Ethnie. Was sie zu Schweizern macht, ist das gemeinsame Einstehen für die Schweiz. Wenn man von einer Willensnation spricht, stellt sich natürlich die Frage danach, was der gemeinsame Wille der Schweizer ist. Dieser besteht aus dem Bekenntnis zur halbdirekten Demokratie, zum Föderalismus, zur Volkssouveränität und zur Freiheit, die im liberalen Rechtsstaat zum Ausdruck kommt.

Integration ist eine Bringschuld

Meine persönliche Erfahrung hat mir gezeigt, dass die Mehrheit der Schweizer offen gegenüber Zugewanderten ist, die Teil dieser Willensnation werden wollen. Da ich seit Jahren selbst Schweizer bin und mich als Teil der Schweiz betrachte, verfüge auch ich über die entsprechende Offenheit. Mit anderen Worten hat meine grundsätzlich positive Einstellung gegenüber der Migration weniger mit meinem eigenen Migrationshintergrund zu tun als mit meinem Selbstverständnis, ein Schweizer zu sein. Sofern ich diesen Willen bei einem Migranten nicht feststelle, keine Bemühungen beim Erlernen der am jeweiligen Ort gesprochenen Landessprache wahrnehme und stattdessen einen Rückzug in eine Parallelgesellschaft beobachte, habe auch ich grösste Vorbehalte. Das hat sehr wesentlich mit meinem Bekenntnis zu diesem Land und seiner Einzigartigkeit zu tun. Wenn man will, kann man das als Patriotismus bezeichnen.

Ich denke nicht, dass mir meine Assimilation gleich gut gelungen wäre, wenn meine Familie in Deutschland eingewandert wäre. Dort wäre ich wohl ein «Deutschtürke» respektive ein «Passdeutscher» geworden. In der Schweiz hat man mir hingegen das Gefühl gegeben, Teil dieser Willensnation zu sein, weil ich einerseits den Willen gezeigt habe, Schweizer zu sein, und andererseits dieser Wille bereitwillig angenommen wurde.

«Ich denke nicht, dass mir meine Assimilation gleich gut gelungen wäre, wenn meine Familie in Deutschland eingewandert wäre.»

Einzigartigkeit beibehalten

Die Zuwanderung in die Schweiz orientiert sich heute vor allem an den wirtschaftlichen Bedürfnissen unseres Landes. Sie findet primär aus Staaten der Europäischen Union statt, was mit dem Personenfreizügigkeitsabkommen zusammenhängt, das EU-Bürger priorisiert. In den meisten Fällen hängt diese Migration mit einem abgeschlossenen Arbeitsvertrag zusammen. Dieser Mechanismus hat in den vergangenen Jahren sehr erheblich zu Wohlstand und wirtschaftlichem Wachstum beigetragen.

Obwohl ich diese Entwicklung grundsätzlich als positiv wahrnehme, denke ich, dass die Schweiz ihre Einzigartigkeit und das Bestreben, eine Willensnation zu sein, niemals aufgeben sollte. Daher habe ich persönlich eine gewisse Skepsis gegenüber dem gegenwärtig verhandelten Rahmenabkommen mit der EU, weil einige Elemente dieser Willensnation, namentlich die halbdirekte Demokratie und die Volkssouveränität, sehr unmittelbar tangiert werden.

«Bleiben wir ruhig, stark, einig. Auf diese Weise werden wir freie Menschen bleiben», sagte einst General Henri Guisan. Wenn wir diese Worte beherzigen, wird die Erfolgsgeschichte Schweiz weitergehen.

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