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Wiki und die starken Fakten
Pavel Richter, fotografiert von Michael Nanz.

Wiki und die starken Fakten

Wie sich Wissen in einer Enzyklopädie, an der alle mitarbeiten dürfen, verändert – und was die verschiedenen Sprachversionen von Wikipedia über die jeweiligen Gesellschaften aussagen.

 

Die Erde ist der Mittelpunkt des Universums. Alle Himmelskörper (Mond, Planeten, Fixsterne und die Sonne) drehen sich um sie.» So könnte es heute in Wikipedia stehen, wenn es die Kopernikanische Wende nicht gegeben hätte. Das geozentristische Weltbild war zwar falsch, aber über lange Zeit wissenschaftlicher Konsens. Man sollte dies im Blick behalten, wenn man sich der Frage nach dem Verhältnis von Wahrheit und Wikipedia widmet. Denn Wikipedia bildet nach eigenem Verständnis nicht die Wahrheit ab, sondern das, was eine Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt über einen Sachverhalt weiss. Wissenschaftlich könnte man Wikipedia also als Tertiär­literatur bezeichnen – als eine ­Aggregation, eine Zusammen­fassung des aktuellen wissenschaft­lichen oder gesellschaftlichen Konsenses.

Das führt oft zur Verärgerung von Menschen, die diesen ­Konsens gerade nicht akzeptieren. Auf den ersten Blick neigt Wiki­pedia dazu, deren Sichtweisen als Verschwörungstheorien zu bezeichnen. Auf den zweiten Blick ist dies jedoch eine folgerichtige Entscheidung, wenn man eine Enzyklopädie sein möchte. Diese definiert sich (nach dem einschlägigen Wikipediartike1 ) als «eine überblickende Anordnung des Wissens einer bestimmten Zeit und eines bestimmten Raumes». Es geht also nicht um Wahrheit oder darum, was objektiv richtig ist, weswegen auch nicht jede Sichtweise gleichwertigen Eingang in Wikipedia findet, sondern nur gesichertes Wissen. So gibt es etwa einen Artikel zur Mission von Apollo 11, mit der die ersten Menschen auf dem Mond landeten.2 Der Artikel stellt auf rund 14 ausgedruckten ­Seiten die Vor­geschichte, die Auswahl der Crew um Neil Armstrong, die ­Planung der Mission, ihren eigentlichen Verlauf und die Wirkung dieses epochalen Ereignisses dar. Damit gibt Wikipedia den Stand der Forschung zu Apollo 11 wieder, wie er derzeit Konsens in der ­Wissenschaft ist (dafür bürgen nicht zuletzt die 23 Einzelnachweise und Verweise auf zahlreiche Fachveröffentlichungen). Was der Artikel jedoch nicht macht, ist, den Fakt der Mondlandung in Frage zu stellen. Wer den Artikel liest, wird ­keinen Zweifel daran haben, dass Neil Armstrong und seine beiden Mitstreiter Michael Collins und Buzz Aldrin tatsächlich zum Mond und wieder zurückgeflogen sind.

Dabei gibt es eine umfangreiche Diskussion zu dieser Frage: Seit den 1970er Jahren wird kontinuierlich bezweifelt, dass die Nasa tatsächlich eine erfolgreiche Mondmission unternommen hat, und dies wird mit unterschiedlichen Begründungen und scheinbaren Beweisen untermauert. Die Anhänger dieser These würden nur zu gerne auch im entsprechenden Wikipedia-Artikel vorkommen. Zwar vertreten sie, das würde wohl sogar jeder von ihnen zugeben, eine Minderheitsmeinung – aber diese müsse ebenso in Wikipedia dargestellt werden wie die (vermeintliche) Mehrheitsmeinung. Und tatsächlich finden sich im Archiv des Wikipedia-Artikels immer wieder Versuche, solche «Zweifel» an der «offiziellen» Version im Artikel unterzubringen. Freilich ohne Erfolg.

Konsens statt Wahrheit

Dies liegt daran, dass es unter Fachwissenschaftern oder ­Experten schlichtweg keine ernsthafte Debatte zu dieser Frage gibt. Zwar sind viele Details der Mondlandung bis heute umstritten, aber der Fakt, dass Menschen auf dem Erdtrabanten gelandet und dann wieder zurück zur Erde geflogen sind, gilt unter allen Experten als gesichert. Wikipedia entscheidet nicht selbst, was aufgenommen und wie es dargestellt wird, sondern bildet den derzeitigen Konsens ab. Darunter fallen auch kulturelle Phänomene wie Verschwörungstheorien, weswegen es auch zur Behauptung, die Mondlandung sei Fake News, einen ausführlichen eigenen Artikel gibt.3 Nur stellt Wikipedia eben nicht beide Behauptungen als gleichwertig nebeneinander, sondern orientiert sich an dem, was wissenschaftlicher Konsens ist.

«Wikipedia entscheidet nicht selbst, was aufgenommen und

wie es dargestellt wird, sondern bildet den derzeitigen Konsens ab.»

Weil Wikipedia eben nicht die Wahrheit, sondern den aktuellen Wissensstand darstellt, ist sie auch voller Fehler. Vom erfundenen Vornamen des ehemaligen deutschen Verteidigungsministers Guttenberg4 über die angeblich als «Stalins Badezimmer» im Ber­liner Volksmund bekannte Karl-Marx-Allee5 bis zur falschen Länge des Rheins6 : Immer wieder werden Fehler in den Einträgen der Enzyklopädie gefunden. Es ist eine der wichtigsten Aufgaben der ehrenamtlichen Wikipedianer, neue Einträge darauf zu überprüfen, ob das, was in diesen steht, auch tatsächlich durch Quellen abgesichert ist. Jeder, der beim Lesen eines Artikels einen ­Fehler findet, kann diesen selbst beheben. Ein Sonderfall ist ­sicherlich, wenn Autoren bewusst falsche oder verfälschende Eintragungen in Wikipedia vornehmen. Die Wikimedia Foundation ist als Betreiberin der Plattform, noch dazu mit Sitz im amerikanischen San Francisco, in den meisten Fällen praktisch aus der Haftung, die einzelnen Autoren hingegen nicht – sie müssen einstehen für das, was sie tun in Wikipedia. Dies musste Anfang 2021 ein Wikipedianer erfahren, der wegen schwerwiegender Ver­letzung des all­gemeinen Persönlichkeitsrechts einer lebenden Person zu einer Entschädigungszahlung von 8000 Euro verurteilt wurde. Das Gericht setzte die Entschädigung wohl auch deshalb verhältnismässig hoch an, weil Wikipedia eine enorme Reichweite hat und die betroffene Person dadurch nachvollziehbare persönliche und berufliche Nachteile geltend machte. Dieses – noch nicht rechtskräftige – Urteil zeigt, dass Wikipedia kein rechtsfreier Raum ist, sondern den gleichen Mechanismen (und Schwierig­keiten, Verstösse auch effektiv zu verfolgen) unterliegt wie der Rest des Netzes.7

Unabschliessbares Wissen

Hinzu kommt, dass der Produktionsprozess von Wikipedia demjenigen der Naturwissenschaften ähnelt. Mitten in der Corona­pandemie kritisierte «BILD» im Mai 2020 den Virologen Christian Drosten dafür, dass sich in seiner Studie im Nachhinein statistische Fehler gefunden hätten. Die Zeitung bezog sich auf Kritik von Biometrikern an Drostens Auswertungsmethoden. Diese ­Biometriker und auch Drosten selbst reagierten jedoch – ­gelinde ­gesagt – verwundert über die harsche Kritik. Für sie war der ­Ablauf völlig normal: Jemand forscht und arbeitet, fasst seine Ergebnisse in einer Publikation zusammen, Fachkollegen überprüfen diese Arbeit und kritisieren sie. Sie machen Vorschläge, was man besser machen könnte, zeigen Fehler und Unstimmigkeiten auf. Diese Kritik nimmt der erste Autor (hier: Drosten) auf und passt seine Methoden entsprechend an, daraus ergeben sich neue Erkenntnisse (oder aber die Ergebnisse werden bestätigt, wie es hier der Fall war), dies wird wieder publiziert – und der Kreislauf beginnt von neuem.

Genau das passiert auch in Wikipedia: Ein Artikel zeigt stets das Beste dessen, was wir derzeit wissen (bzw. was jemand in ­Wikipedia geschrieben hat). Niemals ist das fertig, abgeschlossen, gar wahr, weil Artikelgegenstände oder unser Wissen über diese sich stets weiterentwickeln. Und noch wichtiger: Weil sich unser Wissen, unsere Bewertung zu bestimmten Dingen verändert. Dies geschieht, weil sich Menschen mit dem Status quo, wie er sich in einem Wikipedia-Artikel widerspiegelt, kritisch auseinander­setzen. Sie ergänzen den Text, streichen Dinge, fügen anderes hinzu. So wie Drostens Kollegen seinen Text kritisch hinterfragten und ihn damit besser machten, stehen auch alle Wikipedia-Artikel stets in dieser Kritik. Wikipedia ist unfertig, macht sich selbst verletzlich durch ständige Kritik – bildet damit aber eben den kontinuierlichen Entwicklungsprozess des menschlichen Wissens ab. Wikipedia-Artikel sind nicht falsch – sie sind nur noch nicht fertig. Mehr noch: Sie können gar nicht fertig sein. Denn wenn ein Wikipedia-Artikel fertig wäre, dann wäre unser menschliches Streben nach stetiger Erkenntnis erloschen. Eine schreckliche Vorstellung.

Vom Nutzen der Versionsgeschichten

Wikipedia-Inhalte sind somit zugleich statisch und fluid. Sie zeigen, was wir zum jetzigen Zeitpunkt wissen, sie verändern sich, wenn dieses Wissen sich verändert. Dies führt zu zwei noch viel zu wenig beachteten Möglichkeiten, die uns Wikipedia bietet: Zum einen speichert die Enzyklopädie jeden einzelnen Bearbeitungsschritt in jedem Artikel automatisch ab. Diese Funktion – technisch sprechen wir von der Versionsgeschichte – ermöglicht zunächst, dass überhaupt jeder mitarbeiten kann. Denn mit einem Knopfdruck kann auch jede Änderung wieder zurückgesetzt und der alte Stand wiederhergestellt werden. Mit keiner Änderung kann also jemand tatsächlich einen Text «kaputtmachen». Weniger bekannt, aber fast noch wichtiger ist es, dass wir anhand der Versionsgeschichte in jedem Artikel die Genese des Textes Schritt für Schritt nachvollziehen können. Besteht ein Artikel schon länger, so können wir hiermit auch sich wandelnde Wahrnehmungen und Gewichtungen nachvollziehen. Wenn ein Artikelsubjekt ­einen gesellschaftlichen Bedeutungswandel vollzogen hat, so ist dies über die Versionsgeschichte nachvollziehbar.

«Wikipedia-Artikel sind nicht falsch – sie sind nur noch nicht fertig.

Mehr noch: Sie können gar nicht fertig sein. Denn wenn ein

Wikipedia-Artikel fertig wäre, dann wäre unser ­menschliches

Streben nach stetiger Erkenntnis erloschen. Eine schreckliche Vorstellung.»

Als konkretes Beispiel bietet sich der Artikel zur «Ratingagentur» an. Dieser besteht laut Versionsgeschichte seit dem 9. März 2004, bis Ende 2007 ist der Text mit einer Seite recht kurz und sachlich. Eine Ratingagentur beurteile, so heisst es in der Version vom 28. September 2007, «die Kreditwürdigkeit von Unternehmen und Ländern durch eine Buchstabenkombination, die in der Regel von AAA bis D reicht. Ratingagenturen sind zwar private und ausschliesslich gewinnorientierte Unternehmen, jedoch geniessen sie im Markt ein hohes Ansehen.»8 Mit dem Jahreswechsel 2007/08 bricht die Weltfinanzkrise mit voller Wucht über uns alle herein – und im Zentrum stehen die Ratingagenturen. Jahrelang hatten sie viele der Banken, die über Nacht in eine Schieflage geraten waren, mit den besten Bewertungen versehen und damit einen wesentlichen Beitrag zur Bildung der Blase geleistet, die dann platzte. Diese veränderte Wahrnehmung schlug sich auch unmittelbar im Wikipedia-Artikel nieder. Nicht nur wurde der Beitrag deutlich ausgebaut, sondern auch die grundsätzliche ­­Arbeitsweise und die Macht der Agenturen ausführlich dar­gestellt. Heute umfasst der Artikel nicht nur 17 Seiten, sondern auch eine ausführliche Darstellung der wissenschaftlichen und politischen Debatten über die Rolle und Macht der Agenturen.

Zeit- und Raumreisen mit Wikipedia

Die Veränderung über die Zeit ist das eine – hinzu kommt noch die zweite, wenig beachtete Möglichkeit, die Wikipedia bietet: Es gibt insgesamt 300 unterschiedliche Sprachversionen in Wikipedia. Und in jeder davon schreiben die jeweiligen Ehrenamtlichen die Artikel selbst, basierend auf ihren sprachlichen, historischen und kulturellen Schwerpunktsetzungen. Reine Übersetzungen ­zwischen Wikipedia-Ausgaben sind eher selten und zum Teil ­sogar verpönt. Vielmehr möchte Wikipedia gerade den unterschiedlichen Betrachtungsweisen in unterschiedlichen Sprachen und Kulturen zum jeweils gleichen Artikelsubjekt Raum geben. Der Artikel zum Schwangerschaftsabbruch etwa ist in der deutschen Wikipedia ein gänzlich anderer als in der englischen Ausgabe. Im deutschen Artikel spielt neben den medizinischen und recht­lichen Aspekten vor allem die Relevanz des Themas in der Frauen­bewegung eine grosse Rolle. Die Auseinandersetzung um den ­Paragrafen 218 im deutschen Strafgesetzbuch wird ausführlich dargestellt. Und der Artikel ist überraschend stabil: In den letzten fünf Jahren wurde der Text knapp 500mal bearbeitet, und nur 28mal musste die Seite kurzfristig für die Bearbeitungen gesperrt werden, was zumeist dann passiert, wenn jemand versucht, seine Sichtweise mit aller Macht und ­gegen den Konsens in den Artikel zu drücken.

Ganz anders das Bild zum gleichen Artikelsubjekt, nur in der englischen Wikipedia-Ausgabe. Der Artikel «Abortion» wurde ­allein in den letzten drei Jahren mehr als 500mal bearbeitet und 66mal gegen Vandalismus gesperrt. Und auch inhaltlich ist dieser Artikel anders gewichtet: Die religiösen Aspekte der Abtreibungsgegner spielen eine deutlich grössere Rolle, den unterschied­lichen Positionen für und gegen Abtreibung wird grösserer Raum gewidmet. Kurz: In der deutschen Wikipedia spiegelt sich der gesellschaftliche Umstand wider, dass vom Schwangerschaftsabbruch keine grosse Debatte mehr ausgeht, denn politisch sind diese ­Fragen längst entschieden. In den USA, die die englische Wiki­pedia stark prägen, ist diese Debatte hingegen noch im vollen Gange. Dort gibt es insbesondere religiös geprägte Gegenpositionen, die im deutschsprachigen Raum kaum eine Rolle spielen; gleiches gilt auch für einen Artikel aus einem islamisch geprägten Land.

So zeigt gerade der Vergleich mehrerer Sprachversionen: Das, was als Wahrheit gilt, ist abhängig von Zeit und kulturellem und sprachlichem Raum. Wikipedia bildet diese nicht nur hier und heute ab, sondern erlaubt uns auch, Zeit- und Raumreisen durch unser kulturelles Gedächtnis zu unternehmen.

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Porträt des Kinderarztes Beat Richner in seiner Rolle als Musikclown Beatocello, aufgenommen mit seinem Cello anlässlich des Internationalen Jahres des Kindes 1979. Bild: Keystone / Susann Schimert-Ramme.
Der Triumph der ­Gesinnung über die Urteilskraft

In der Ablehnung einer westlichen Fortschrittsgeschichte konzentrierte sich die Geschichtswissenschaft zuletzt einseitig auf die Dekonstruktion von Mythen. Debatten sollten heute wieder näher an die Praxis rücken.

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