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Wieviel Politik verträgt die Geschichtsschreibung?

Die Bundesversammlung hat die Spanienkämpfer rehabilitiert. Damit hat sie das Recht einem veränderten Geschichtsbild angepasst. Doch die historische Debatte verarmt mit jeder neuen Staatswahrheit.

Später Freispruch für die Schweizer Spanienkämpfer. Die Bundesversammlung hat die Urteile gegen die Schweizer in Diensten der internationalen Brigaden aufgehoben – über 60 Jahre nach deren Verurteilung. Mit dem Rehabilitierungsgesetz giesst die Bundesversammlung eine neue Sicht auf die Spanienkämpfer in Gesetzesform. Wurden die Brigadisten über Jahrzehnte als Deserteure und Parteigänger Moskaus etikettiert, würdigt die Politik ihr Engagement nun als Kampf für «Freiheit und Demokratie».

Aus Kriminellen von einst werden so durch staatlichen Gnadenakt Lichtgestalten der Gegenwart. Diese offizielle Umdeutung der Vergangenheit wirft ein Schlaglicht auf die fortschreitende Etablierung eigentlicher Staatswahrheiten in der Schweiz. Die Rehabilitierung der Spanienkämpfer ist kein Einzelfall; ihr unmittelbarer Vorläufer ist der Erlass zugunsten der Fluchthelfer. Diese waren während des Krieges als vermeintliche Handlanger einer «fünften Kolonne» zu Hunderten verurteilt worden. 2003 erklärte das Parlament die entsprechenden Urteile für aufgehoben und brachte damit das Gesetz mit dem nun herrschenden Geschichtsbild in Einklang.

Die beiden Gesetze lassen sich ihrerseits in den Kontext von Vergangenheitsbewältigung und Wiedergutmachung stellen, wie er auch für die Schweiz zunehmend charakteristisch ist. Denken wir etwa an die Einsetzung der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz-Zweiter Weltkrieg (UEK) durch Parlamentsbeschluss, die Entschädigung einst abgewiesener jüdischer Flüchtlinge durch Bundesrat und Bundesgericht oder das strafrechtliche abgesicherte Verbot der Holocaustleugnung.

Gemeinsam ist diesen Massnahmen, dass sie – bei allen Unterschieden – eine veränderte offizielle Sicht auf die Jahre vor und während des Zweiten Weltkriegs zum Ausdruck bringen. Der General einerseits und Fluchthelfer und Spanienkämpfer anderseits tauschen die Plätze im Pantheon der Eidgenossenschaft. Und statt der von der Aktivdienstgeneration erbrachten Opfer wird der tatsächlichen Opfer der Kriegsjahre gedacht – der jüdischen Flüchtlinge.

Die Bedeutung der Massnahmen beschränkt sich nicht auf das Festlegen einer Vielzahl punktueller Wahrheiten. Vielmehr wird durch den Staat eine eigentliche «Wahrheitslage» geschaffen, ein Deutungsmuster, das die Erinnerung und den Blick auf die Vergangenheit über den Einzelfall hinaus beeinflusst und eingrenzt. Kennzeichen dieses neuen offiziellen Geschichtsbildes ist der Abschied vom Bild der strikt neutralen, zum Widerstand entschlossenen Schicksalsgemeinschaft. Stattdessen bestimmen die Verstrickungen der Schweiz in das NS-Unrecht die Wahrnehmung.

Mag es auch zutreffen, dass diese Sicht der alten Deutung der Kriegsjahre «dokumentarisch und argumentativ überlegen» ist, wie es der Historiker Mario König formuliert hat, so ist doch die Rolle, die dem Staat bei der «Arbeit am Mythos» (Jakob Tanner) zukommt, in Frage zu stellen. Denn der Staat ist nicht bloss einer von vielen Akteuren auf dem Feld der Geschichtsforschung. Sein Wort ist Gesetz.

Die Autorität amtlicher Wahrheiten wird zusätzlich verstärkt durch die Erwartungen der Öffentlichkeit. Von den Organen des Staates wird ein definitives Verdikt über die Geschichte verlangt. Aufgrund der Wirkungsmacht offizieller Wahrheiten fliessen Geschichte und Erinnerung mittelfristig zusammen. Die offizielle Geschichte wird zur Gedächtnisstrategie.

Das Schlagwort der «Vergangenheitsbewältigung» vernebelt diese Tendenz bloss. Formen offizieller Geschichte bergen stets das Risiko ihrer Instrumentalisierung. Wer Fluchthelfer und Spanienkämpfer als Referenzpunkte der Schweizer Geschichte ausmacht, strebt eine andere Gegenwart an als jener, dessen Geschichtsbewusstsein durch Rütli und Marignano bestimmt wird. Dieser praktische Aspekt der Geschichte macht diese erst zum Objekt der Politik.

Wird heute beanstandet, das lange dominierende Bild der «Schweiz im Krieg» als neutrale Abwehrgemeinschaft sei nicht das Resultat einer freien Selbstverständigung gewesen, sondern Produkt einer staatlichen Bewusstseinskosmetik, so muss umgekehrt der neue Umgang der Politik mit der Geschichte sich der Kritik stellen. So wie die «gebändigte Geschichte» nach 1945 den jeweiligen politischen und wirtschaftlichen Notwendigkeiten angepasst und darum von gewissen Eliten dankbar angenommen worden ist, so findet die von UEK und Parlament vorangetriebene Normalisierung der Erinnerung nun ebenfalls breite Zustimmung.

Der Eindruck entsteht, die eine offizielle Geschichte habe bloss die andere abgelöst. 1972, nach Erscheinen der ersten Bände des Bonjour-Berichts, befürchtete Niklaus Meienberg, die Geschichtsbücher in den Schulen würden nun für Generationen im Geiste Bonjours verfasst werden, was er als «Katastrophe» bezeichnete. Was würde der Querdenker heute sagen? Wir wissen es nicht, können aber davon ausgehen, dass der Kern von Meienbergs Diktum auch heute noch Gültigkeit besitzt: offene Gesellschaften bedürfen keiner offiziellen Geschichte. Den staatlichen Willen zur «historischen Wahrheit» gilt es deshalb zu bändigen.

Der Grund für diese Zurückhaltung liegt auf der Hand. Der Staat bezieht seine Legitimation nicht aus dem Dienst an der Wahrheit. Legitimation fliesst aus Prinzipien, die allgemein anerkennungsfähig sind, aus der Achtung der Gleichheit und Freiheit der einzelnen. In anderen sensiblen Bereichen, wie der Religion, zieht sich der Staat deshalb auf eine Position der Neutralität zurück. Die Wahrheitsfrage lässt er unbeantwortet.

Zudem verändert der Staat mittels offizieller Wahrheiten die Bedingungen historischer Debatten und damit den Prozess der Wahrheitsfindung. Wahrheiten über die Vergangenheit beruhen auf Vereinbarungen. Entscheidet sich die Frage der Wahrheit in Debatten, ist deren Ausgestaltung von zentraler Bedeutung. Der gesellschaftliche Prozess muss vor staatlichen Einflüssen geschützt werden. Aktuell geschieht das Gegenteil. Die Folgen sind absehbar. Längerfristig gilt die Staatswahrheit als Referenz.

Die historische Debatte verarmt. Juristische Begriffspaare wie Schuld und Unschuld oder Recht und Unrecht werden der Komplexität der historischen Wirklichkeit kaum gerecht. Dies macht auch die Rehabilitierung der Spanien-kämpfer deutlich. Kein Historiker würde die vom Parlament vorgenommene Wertung, «die» Brigadisten hätten in Spanien für «Freiheit und Demokratie» gekämpft, so unterschreiben. So heisst es etwa in einer neuen Publikation zum Thema Spanienkämpfer, diese seien weder als wirtschaftliche Flüchtlinge noch als «Heroen der Freiheit» zu betrachten. Doch die Breite historischer Wahrheiten findet im engen Korsett des Rechts keinen Platz.

Staatliche Vergangenheitsbewältigung sollte deshalb Abschied nehmen vom Mythos der historischen Wahrheit. Ansonsten droht eine Entwicklung wie in Frankreich, wo vom Parlament mittels sogenannter lois mémorielles verschiedene Staatswahrheiten etabliert worden sind: das Gesetz betreffend Anerkennung des Armenier-Genozids etwa, die mittlerweile korrigierte, gesetzlich befohlene positive Darstellung der französischen Kolonialvergangenheit oder die «loi Taubira», die Sklavenhandel und Sklaverei zurück bis ins 15. Jahrhundert zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit erklärt.

Arbeitet der Staat seine Geschichte auf, darf dies nicht für die Geschichtsbücher sein, sondern muss jenen zugute kommen, deren elementare Rechte in der Vergangenheit schwer verletzt worden sind. Wird dagegen nicht konkreten Menschen geholfen, geht es nur noch um eine Politik mit der Geschichte. Die Rehabilitierung der Spanienkämpfer hinterlässt deshalb einen schalen Nachgeschmack.

Stefan Schürer, geboren 1977, ist Journalist und Jurist. Seine Dissertation zum Thema ist unter dem Titel «Die Verfassung im Zeichen historischer Gerechtigkeit.

Schweizer Vergangenheits-bewältigung zwischen Wiedergutmachung und Politik mit der Geschichte» soeben im Zürcher Chronos-Verlag erschienen. Sie wurde mit dem Jahrespreis der Universität Zürich ausgezeichnet.

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