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Wie wir uns betrügen

Wohlfahrtsverwahrlosung, Teil I Die Wohlfahrt westlicher Staaten scheint gross. Dennoch klagen viele. Sie fühlen sich betrogen. Das werden sie auch, aber anders, als sie denken. Eine neue Serie zum Thema.

Der Wohlfahrtsstaat ist ein Illusionsgebäude. Die Verfälschung der Begriffe – und somit auch des Denkens – ist zugleich Bedingung und Folge seines Wachstums. Das beginnt beim falschen Etikett «Solidarität». Diese kann nur als freiwillige, individuelle Entscheidung ausgeübt werden. «Erzwungene» oder «kollektive Solidarität» ist ein Widerspruch in sich. Statt der angeblichen «Solidargemeinschaft» erzeugt der Wohlfahrtsstaat rivalisierende Interessengruppen im Kampf um staatliche Zuwendungen und Privilegien.

Immer mehr Personen einer bestimmten ethnischen, sexuellen, religiösen oder sonstigen Zugehörigkeit halten sich für «Opfer» mangelnder Unterstützung. In Grossbritannien – so eine Studie von 2006 – meinen 73 Prozent der Bevölkerung, einer «Opfergruppe» anzugehören. Die bei ihnen auf Stimmenfang gehenden Parteien werden zu Spezialisten der Gesellschaftsspaltung (Gail Jarvis: «Victimology», lewrockwell.com vom 30.10.2006).

Neben dem Begriff des Rechts (Anspruchsrechte statt Abwehrrechte) wird im Wohlfahrtsstaat auch der Begriff der Gerechtigkeit sinnentstellt. Gerechtigkeit ist zuerst einmal ein moralischer Appell an den einzelnen, andere nicht anders zu behandeln, als man selbst behandelt werden möchte; wird die Gerechtigkeit auf ein Kollektiv bezogen, so kann sie bloss die Form der Gleichheit vor dem Gesetz annehmen. Den Begriff zur Rechtfertigung politisch erzwungener Umverteilung zu verwenden – also für systematische Eigentumsverletzung –, pervertiert ihn in sein Gegenteil.

Es gibt bekanntlich nur drei Wege, das Dasein zu fristen: 1) arbeiten, 2) betteln und 3) rauben. Der Wohlfahrtsstaat kultiviert Variante 3 und erhebt sie zum quasimoralischen Standard. Die systematische Eigentumsverletzung durch Umverteilung macht die Bürger bestenfalls zu Schmarotzern, schlimmstenfalls zu Verbrechern. Die Regierungen erfüllen hierbei – in einer Art «Vorbildfunktion» – den Tatbestand des Auftragsdiebstahls, wie das in der ironischen Neuformulierung des 7. biblischen Gebots durch den amerikanischen Think Tank «Ludwig von Mises Institute» zum Ausdruck kommt: «Du sollst nicht stehlen, es sei denn, du bedienst dich dazu der Regierung als deiner Beauftragten. In diesem Fall ist es nicht Diebstahl, sondern soziale Gerechtigkeit.»

Dass der Wohlfahrtsstaat die ökonomische Effizienz der Marktwirtschaft zerstört, hat sich herumgesprochen. Der Soziologe Ernst Topitsch nannte ihn ein «nicht mit reellen Mitteln finanzierbares Paradies auf Pump», wo die Bestechung der Wähler mit deren eigenem Geld erfolgt. Die Umverteilungsformel «Von jedem nach seinen Fähigkeiten an jeden nach seinen Bedürfnissen» garantiert, dass die Fähigkeiten dahinschwinden und die Bedürfnisse (Bedürftigkeiten) ins Uferlose wachsen. Diese sozialistische Illusion kann nur eine gewisse Zeit währen, dann bricht sie an ihrem eigenen Verarmungsmechanismus zusammen.

Der entscheidende Engpass jedoch liegt «nicht in den Finanzen, sondern in der menschlichen Seele» (Robert Nef) – sprich: im Zusammenbruch der moralischen Infrastruktur einer Wohlfahrtsgesellschaft. Das geschieht vor allem durch die zunehmende Verstaatlichung des Privaten – und somit durch die Zerstörung der Familie und der dort institutionell verankerten Eigenverantwortung. Zivilisation ist nicht vererbbar, sondern muss von jeder Generation neu eingeübt werden. Und das kann nur in kleinen Gemeinschaften und Gruppierungen geschehen.

Wie der Ökonom Friedrich August von Hayek in historischen Studien gezeigt hat, sind Eigentum und Familie die entscheidenden Institutionen für das Entstehen und den Bestand von Kultur und Zivilisation. Wird die Abhängigkeit der Kinder und Alten, der Kranken und Behinderten vom Liebesverband und von der gewachsenen Verantwortungs- und Solidargemeinschaft der Familie auf das «kälteste aller Ungeheuer» (Nietzsche), den Staat, übertragen, erlöschen die Lichter der Zivilisation und der Freiheit. Das Heer der Verwalter der Abhängigkeit, die Wohlfahrtsbürokratie, übernimmt die Herrschaft.

Letztlich ist der Wohlfahrtsstaat eine Ersatzreligion, die verkündet, dass der Staat den Menschen Heil und Gerechtigkeit bringe. In Wahrheit bewirkt er das genaue Gegenteil. Oder in religiöser Rhetorik, in Anlehnung an die Thesen des Theologen Peter Ruch: der Wohlfahrtsstaat erstickt die christlich gebotene Nächstenliebe, erodiert die in der Gotteskindschaft des Menschen angelegte Freiheit, verletzt das in den 10 Geboten doppelt gebotene Eigentumsrecht, und zerstört die in der Bibel vielhundertfach geforderte Moral.

Roland Baader, geboren 1940, ist Nationalökonom und Autor von «Freiheitsfunken. Aphoristische Impfungen» (2009) und «Markt oder Befehl» (2007).

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