Wie viel Umverteilung
für die 2. Säule?
Generationengerechtigkeit in der beruflichen Vorsorge ist eine Utopie – daran orientieren sollten wir uns trotzdem. Denn ohne Solidarität ist die zweite Säule sinnlos.
Sieben Milliarden Franken: So viel Geld wurde 2017 gemäss Daten der Oberaufsichtskommission Berufliche Vorsorge (OAK BV) von den aktiven Versicherten an die Rentnerinnen und Rentner in der zweiten Säule umverteilt. Das entspricht rund 1,4 Prozent der gesamten Sparkapitalien oder 15 Prozent der reglementarischen Beiträge, die in der gleichen Periode entrichtet wurden. Dass dieses Mass an Quersubventionierung nicht mehr gesund ist, gilt – zumindest in der Branche – als unbestritten. Gleichzeitig ist aber auch klar, dass Solidarität, das heisst ein kollektives Tragen von Risiken, zum Kern der beruflichen Vorsorge gehört. Damit stellt sich unweigerlich die Frage, wann Solidarität zu Umverteilung wird und welches Ausmass erstrebenswert ist.
Das Schicksal entscheidet
Der erste Teil der Frage ist vergleichsweise einfach zu beantworten: Bei der Solidarität entscheidet – vereinfacht gesagt und auf die Zwecke der beruflichen Vorsorge gemünzt – der Zufall oder das Schicksal, ob eine Leistung fällig wird oder nicht. Das heisst, zunächst sind alle Mitglieder einer Solidaritätsgemeinschaft einander gleichgestellt und die zu erbringenden Leistungen lassen sich nur als Summe bestimmen. Hierzu wird basierend auf den Erkenntnissen in der Vergangenheit und den besonderen Eigenschaften der gesamten Gruppe eine Prognose der tatsächlichen Leistungsflüsse errechnet. Entscheidend ist damit, dass sich Leistungserbringer und Leistungsempfänger erst nach Eintritt eines Schadensereignisses individuell erkennen lassen.
Im Gegensatz dazu sind bei der Umverteilung die Vorzeichen schon von Beginn weg klar. Hier handelt es sich um eine systematische Leistungserbringung von einer bestimmten Teilgruppe an eine andere. Ob ein einzelnes Individuum Leistungserbringer oder Leistungsempfänger ist, lässt sich also bereits anhand der Zugehörigkeit zu einer der Teilgruppen sagen. Selbstverständlich lassen sich auch in diesem Fall die zu erwartenden Leistungsflüsse prognostizieren, wobei aber eben der Nettoeffekt bereits bekannt ist.
Illustrieren lässt sich das anhand der Altersleistungen aus einer Pensionskasse: Nehmen wir an, zwei Personen A und B werden 65jährig pensioniert. Beide erhalten eine lebenslange Rente in gleicher Höhe. Nun stirbt Person A aus gesundheitlichen Gründen bereits mit 70 Jahren, während Person B erst 15 Jahre später, das heisst 85jährig, stirbt. Bei diesem Beispiel würden wir von Solidarität sprechen, da erst der Tod über die Gesamtleistung entscheidet. Dies gilt selbst dann, wenn Personen beispielsweise aufgrund von Vorerkrankungen genauere Kenntnisse über ihren Gesundheitszustand besitzen und die individuelle Lebenserwartung besser einschätzen können. Auch dann bleibt der Zeitpunkt des Todes letztendlich ein zufälliges Ereignis.
Zweites Beispiel mit den gleichen Personen: Nun wissen wir, dass Person A verheiratet ist mit einem 20 Jahre jüngeren Partner oder einer Partnerin, Person B hingegen ist ledig. Selbst unter Annahme des frühen Todes von Person A aus obigem Beispiel ist für sie die Gesamtleistung aus der Pensionskasse höher als bei Person B. Der Grund dafür ist aber nicht das zufällige Ereignis des Todes, sondern die im Vorhinein bekannte Tatsache, dass vergleichsweise lange eine Hinterlassenenleistung zu erbringen ist. An dieser Stelle würden wir von Umverteilung sprechen, da systematisch Leistungen von Nichtverheirateten an Verheiratete erbracht werden.
Der Schleier des Nichtwissens
Entgegen der oft zu hörenden Meinung gehören sowohl Solidarität als auch Umverteilung zum Kern der zweiten Säule. Erst durch diese erreicht sie überhaupt ihren Sinn, wie es das Versicherungsprinzip im BVG zeigt: Nur ein Vorsorgeplan, der Risikoleistungen abdeckt, das heisst die Fälle Tod und Invalidität, gilt als Vorsorge im Sinne des Gesetzgebers.1 Insofern wird gerade bei den Risikoleistungen das Prinzip der Solidarität sichtbar: Die Versicherten einer Vorsorgeeinrichtung werden zu einer Solidaritätsgemeinschaft, welche die einzelnen Personen bei Schicksalsschlägen wie Invalidität oder Tod wirtschaftlich unterstützt. Verkäme die zweite Säule zu einer reinen Sparversicherung, bei der lediglich Kapital für das Alter angehäuft wird, liesse sie sich kaum mehr von der dritten Säule abgrenzen und wäre daher aus Systemsicht obsolet.
Gleiches gilt für die Umverteilung: Auch hier gibt es Elemente, die teilweise bewusst eingebaut wurden und das Wesen der zweiten Säule ausmachen. Die Umverteilung von Nichtverheirateten zu Verheirateten wurde bereits angesprochen, ein ähnlicher Effekt lässt sich von Kinderlosen zu Versicherten mit Kindern beobachten sowie, je nach Ausgestaltung der Parameter, von Frauen zu Männern. Selbstverständlich liesse sich dieses Problem lindern, indem der Umwandlungssatz, mit dem bekanntlich das Sparkapital in eine Rente umzurechnen ist, stärker individualisiert würde. Das heisst, anstatt nur einen Umwandlungssatz für alle Versicherten festzulegen, erliesse eine Vorsorgeeinrichtung unterschiedliche Sätze für bestimmte Teilgruppen. Zur Illustration: Legte eine Pensionskasse ihren Umwandlungssatz anstatt für alle Versicherten versicherungstechnisch korrekt bei 5,0 Prozent fest, hätten unverheiratete Männer ohne Kinder stattdessen einen Satz von 5,7 Prozent zugute, verheiratete Männer mit Kindern hingegen 4,6 Prozent.2 Ihre Renten müssten sich also um fast einen Viertel unterscheiden. In der Praxis sind derartige Modelle allerdings sehr selten – wohl nicht zuletzt deshalb, weil auch der Gesetzgeber im Bereich des BVG-Minimums darauf verzichtet. Zumindest implizit scheint hier also eine Umverteilung aus gesellschaftlicher Sicht gewollt.
An dieser Stelle gibt es aber einen entscheidenden Unterschied: Während die vorgenannten Umverteilungseffekte innerhalb einer bestimmten Generation passieren, betreffen die einleitend erwähnten sieben Milliarden Franken eine – an sich unbeabsichtigte – Verschiebung zwischen jungen und alten Versicherten. Die Ursache dafür ist, dass bei vielen heutigen Renten Renditeerwartungen hinterlegt sind, die sich seit der Finanzkrise realistischerweise nicht mehr erzielen lassen. Für den nach wie vor gültigen BVG-Mindestumwandlungssatz von 6,8 Prozent wäre beispielsweise eine langfristige Rendite von rund 4,0 Prozent nötig. Das hat zur Folge, dass viele Vorsorgeeinrichtungen einen zu grossen Teil ihrer Renditen für die Rentenleistungen brauchen und damit den aktiven Versicherten stellenweise vorenthalten.
Der Unterschied zwischen intra- und intergenerationeller Umverteilung ist wichtig, weil man nur bei den Zahlungsströmen innerhalb der Generationen den Gesamteffekt kennen kann. Eine Pensionskasse ist beispielsweise schon ab einer vergleichsweise geringen Grösse in der Lage, die tatsächliche Quote der beim Tod verheirateten Versicherten über einige Jahre hinweg zu messen und anschliessend mit den versicherungstechnischen Grundlagen zu vergleichen. Zeigen sich Differenzen, kann reagiert und beispielsweise der Umwandlungssatz angepasst werden. Die Umverteilung innerhalb der Generationen ist damit kontrollierbar. Bei Umverteilung zwischen den Generationen ist das kaum möglich. John Rawls nennt es den «Schleier des Nichtwissens»3: Die vollständige Beitrags- und Leistungsbilanz einer bestimmten Generation kennen wir immer erst im Nachhinein. Für die berufliche Vorsorge bedeutet dies: Seit der Finanzkrise wird in zunehmendem Ausmass von den Jungen zu den Alten umverteilt. Ob die Jungen die Verlierer bleiben oder den heutigen Verlust in Zukunft allenfalls sogar mehr als wettmachen können, wissen wir erst, wenn sie selber alt sind. Dann können wir aber die Leistungen der heutigen Rentnerinnen und Rentner nicht mehr anpassen.
Generationengerechtigkeit bleibt daher strenggenommen stets eine Utopie, wenn es um das System der kapitalgedeckten Vorsorge geht. Aus diesem Grund aber wie Vogel Strauss den Kopf in den Sand zu stecken wäre Gift. Im Wissen darum, dass wir das Ziel nie erreichen werden, sollten wir uns trotzdem daran orientieren. Gefordert sind hier nicht nur die obersten Organe der Vorsorgeeinrichtungen, wenn es um die Festlegung der Leistungsparameter geht, sondern auch die Politik: Im Rahmen der längst überfälligen Reform der zweiten Säule dürfen nicht nur einseitig Interessen der Leistungsempfänger geschützt werden, sondern die Systemstabilität an sich muss gewährleistet sein. Genauso wichtig ist aber: Wer stattdessen nach weniger Solidarität und einem kompletten Verzicht auf Umverteilung schreit, ist ebenso auf dem Holzweg.