Wir brauchen Ihre Unterstützung — Jetzt Mitglied werden! Weitere Infos

Wie viel Freiheit braucht eine Stadt?

Das sich selbst organisierende Lagos funktioniert völlig anders als das durchgeplante Zürich. Genau darum können europäische Stadtentwickler von der nigerianischen Metropole lernen. Gedanken zum Städtebau der Zukunft.

Wie viel Freiheit braucht eine Stadt?
Strassenszene in Lagos, Nigeria, photographiert von Logo Oluwamuyiwa. Mit seinem Projekt «Monochrome Lagos» hat er sich zum Ziel gesetzt, seine Stadt in Form von Photographien und Literatur zu entdecken – und zu archivieren. Mehr unter: www.monochromelagos.com.

Lagos, Nigeria, Westafrika, ist so verschieden von Zürich, Schweiz, Westeuropa, wie es eine Stadt nur sein kann. Es ist weniger die schiere Grösse, die die nigerianische Metropole von der Schweizer Limmatstadt unterscheidet, als das niemals endende geschäftige Treiben. Es wird gekauft, verkauft, gehandelt, verladen und ausgeladen. «Business Opportunities» so weit das Auge reicht: Fliegende Barbiere und Automechaniker bieten ihre Dienste neben Frauen und Männern an, die kunstvoll aufgetürmte Ladegeräte, geräucherte Fische oder glänzend polierte Früchte anpreisen; säuberlich gereihte Autoreifen lagern neben ebenso peinlich genau arrangierten Sofasesseln und Teppichen. Davor gären die Abwässer in offenen Entwässerungskanälen, und das Brummen der Generatoren lässt die Luft vibrieren. Zürich mit seinen ordentlichen Bauten und sauberen Strassen scheint ein Universum weit entfernt.

Trotzdem bin ich überzeugt, dass die beiden Städte voneinander lernen können. Was für Mitteleuropäer zunächst paradox klingen mag, ist alles andere als das: Die Bewohnerinnen und Bewohner von Lagos haben in den letzten Jahrzehnten Strategien der Stadtentwicklung erdacht und getestet, die auch für europäische Städte des 21. Jahrhunderts interessant sein können – weil sie unternehmerisch, mutig und wie gemacht für eine zunehmend komplexere Welt sind.

 

Der Lärm der Generatoren

Um zu verstehen, wie Stadtentwicklung in Lagos funktioniert, braucht es zuerst ein paar Hintergrundinformationen. In dieser Stadt leben je nach Statistik 13 bis 20 Millionen Menschen, ohne Kläranlage und ohne Trinkwasserleitungssystem. Die Trinkwasserversorgung, wobei Versorgung in Anführungszeichen zu setzen wäre, findet zumeist über private Bohrlöcher statt, was mittel- und langfristig zum Absinken des Grundwasserspiegels führt. Das Schmutzwasser versickert entweder direkt im Boden oder gärt in den offenen, ursprünglich für die Ableitung von Regenwasser konzipierten Kanälen vor sich hin. Müll, vermutlich eines der grössten Probleme der heutigen Zivilisation, ist auch in Lagos eine gewaltige Herausforderung: Die Abfallbewirtschaftung funktioniert irgendwo zwischen schlecht und recht, nicht zuletzt, weil trotz des vom Lagos State Government ausgesprochenen Verbots, unter Androhung von Gefängnisstrafe und Busse, die informellen Müllsammler ihren Tätigkeiten weiterhin nachgehen – im Versteckten und häufig in der Nacht. Dies ist ein Segen für die Bewältigung der hiesigen Abfallbewirtschaftung, zumal die Wohngebiete der einkommensschwachen Bevölkerung von den Müllwagen nicht angefahren werden. Zum einen sind die Strässchen zu eng, zum anderen bleiben die Rechnungen meist unbezahlt.

Die katastrophale, ehemals staatliche, nun privatisierte Stromversorgung führt dazu, dass sich eine veritable Dieselgeneratoren-Industrie etabliert hat. Konstante Stromausfälle verlangen nach dieser Art von Selbstversorgung. Die damit einhergehende massive Lärm- und Schmutzbelastung ist gewaltig, und man weiss manchmal nicht, was schlimmer ist: in der feuchten Hitze ohne Ventilator und Klimaanlage zu schmoren oder den Lärm und Gestank der Generatoren ertragen zu müssen. Findige Jungunternehmer experimentieren zwar mit dezentraler Biogas- und Solarenergieproduktion, aber es handelt sich hierbei nach wie vor um Nischenphänomene.

Der öffentliche Verkehr, ein ausgeklügeltes System aus ehemals informellen Minibussen, Taxis und Motorrädern, die sich in semiformellen Dachorganisationen zusammengeschlossen und mit der Regierung Verträge ausgehandelt haben, die eine gewisse Regulierung vorsehen, funktioniert im Zusammenspiel mit den offiziellen, staatlichen BRT-Linien (Bus Rapid Transit). Das bezüglich Länge und Qualität ungenügende Strassennetzwerk ist chronisch verstopft. Arm (in den öffentlichen Verkehrsmitteln) und Reich (meist in überdimensionierten SUV) verbringen täglich mehrere Stunden im Stau beim Pendeln zwischen Wohn- und Arbeitsort. Was sind die Gründe für dieses scheinbare Chaos? Und was soll eine fast reibungslos funktionierende Stadt wie Zürich hier mitnehmen?

 

Um alles wird gefeilscht

Es gibt zwei mächtige Faktoren, die Lagos und seine Stadtentwicklung fundamental prägen: existenzielle urbane Armut und die Politik, die sie verursacht. Rund 70 Prozent der Bevölkerung leben in Slums1, 53 Prozent mit weniger als zwei Dollar pro Tag.2 Die Armen Westafrikas gehören zu jenen, die von der Globalisierung bisher nicht profitieren konnten – und deren Einkommenssituation in den letzten Jahren praktisch gleich geblieben ist.3 Die prekäre rechtsstaatliche Situation Nigerias und das schlechte Ausbildungsniveau der grossen Mehrheit der nigerianischen Bevölkerung werden hierfür als häufigste Gründe genannt, hinzu kommen eine kaum existierende Rechenschaftspflicht der Regierung sowie eine grassierende Kultur der Korruption auf allen Ebenen und in allen Gesellschaftsschichten. Die Armen und ihre flächendeckenden Siedlungen werden primär als Hindernis auf dem Weg zur Global City betrachtet. Pro-Poor Policies, auch in der Stadtentwicklung, standen bis jetzt kaum auf der politischen Agenda der Regierung. Um es auf den Punkt zu bringen: in Lagos dreht sich alles ums Geld – und was keine monetäre Bereicherung für die involvierten Personen bringt, hat kaum Chancen auf Umsetzung. Auf der anderen Seite lässt sich mit Geld alles, aber wirklich alles lösen, in Gang setzen oder beschleunigen. Gefeilscht wird daher nicht nur auf dem Markt, sondern auch um Taxipreise und Baubewilligungen: Wo nichts fix, garantiert und sicher ist, wird in der Konsequenz alles verhandelbar. Dies hat naturgemäss Licht- und Schattenseiten. Genau die können für europäische Stadtentwickler spannend sein – dazu gleich mehr.

Bemüht hat sich in der Vergangenheit die Weltbank – und heute zunehmend China. Das von der Weltbank unterstützte Slum-Upgrading-Programm «Lagos Metropolitan Development and Governance Project» (LMDGP) setzte auf das in der Stadtentwicklung mittlerweile anerkannte und weitgehend unumstrittene Konzept der Hilfe zur Selbsthilfe: informell entstandene Quartiere unter Einbezug der Wohnbevölkerung sollten konsolidiert, aufgewertet und ergänzt werden. Doch das Programm wurde 2013 vorzeitig abgebrochen; kritisiert wurden die Veruntreuung von Geldern und die schleppende sowie ungenügende Projektimplementierung.4 Seither zeigt sich in Lagos noch verstärkter exemplarisch der grosse und wachsende Einfluss Chinas auf dem afrikanischen Kontinent: Die chinesischen Investoren stellen nicht nur die Finanzierung sicher, sondern bauen mit ihren eigenen Leuten, und diese sorgen später nicht selten auch für den Betrieb. Ein Beispiel ist die sich gerade im Bau befindliche Light Rail (Blue Line). Diese ist nach dem Rückzug der Weltbank nun komplett made in China. Was allerdings noch bedeutender ist: China ist auch städteplanerisches Vorbild.

 

Megaprojekte nach chinesischem Vorbild

Die Regierung bemüht sich mit Hilfe von Freihandelszonen, die städtebaulich als in Masterplanverfahren entwickelte New Towns in Erscheinung treten, sogenannte FDI (Foreign Direct Investments) anzuziehen. Die gigantische Lekki Free Trade Zone mit einem geplanten neuen Flughafen und einem zusätzlichen Tiefseehafen wurde in Zusammenarbeit mit chinesischen Planern und Investoren sowie unter Anwendung chinesischer Planungsinstrumente konzeptioniert. Ein kleiner Teil wurde nun gebaut, die geplante «Innovationszone» ist derzeit aber auf Erdölraffinerien beschränkt, betrieben von Afrikas reichstem Mann, Dangode, der erfolgreich eine Art nigerianische Nestlé gegründet hat. Ein Projekt ähnlichen Ausmasses ist die sich im Bau befindliche Eko Atlantic City, ebenfalls eine Free Trade Zone, aber mit Fokus auf den globalen Finanzmarkt. Die Regierung präsentiert diese Projekte als Beitrag zu einer nachhaltigen Stadtentwicklung: Eko Atlantic City gilt auch als Klimawandeladaptionsprojekt, beide Vorhaben sollen neue Arbeitsplätze schaffen. Noch ist es zu früh, um Bilanz zu ziehen. Doch die Art und Weise, in der sie sich auf dem Papier präsentieren – mit jeweils nur einem zentralen, bewachten Eingang und der üblichen Gesetzgebung von Free Trade Zones, die keinerlei Regulierung bezüglich Herkunft und Versteuerung der Investitionen vorsieht –, mahnt einen zumindest zu Skepsis, inwieweit sie diese Hoffnungen tatsächlich erfüllen können.5

Das also ist Lagos im Sommer 2016. Gibt man sich in diesem Gesamtkontext als Stadtplanerin oder als Städtebauerin zu erkennen, erntet man meist Kopfschütteln. Was es denn in diesem Chaos noch zu planen gäbe? Wo und wie würde man da ansetzen? Und um zurück zum Anfang zu kommen: Was soll Zürich ausgerechnet von Lagos lernen?

 

Stadt ohne Stadtplanung

Nun, die Antwort ist einfach: Lagos ist eine Self-Help-City. Der grossartige deutsche Entwicklungsplaner Otto Koenigsberger schrieb 1983, Lagos – damals bereits 4,2 Millionen Menschen zählend – sei ein typisches Beispiel einer Stadt, die ohne übergeordneten Plan und ohne Beteiligung von Stadtplanern entstanden sei. Als Resultat dieser Self-Help-Entwicklung diagnostizierte er Zufriedenheit auf der Nachbarschafts- und Quartiersebene und Chaos auf der städtischen Ebene.6 Während man dem Treiben dieser afrikanischen Millionenstadt mit Kopfschütteln, Schaudern oder Faszination zusieht, wird man anerkennen müssen: sie funktioniert irgendwie. In einem Nebeneinander aus informellen und formellen Strukturen organisieren sich die Menschen ihr Leben.  Der Müll wird geräumt, weil die eingangs erwähnten Sammler mit Handwagen von Haus zu Haus ziehen – bezahlt wird jeweils bar direkt an der Tür. Der öffentliche Verkehr läuft nur dank der jahrelangen Aufbauarbeit der Kooperativen. Auch um Toilettenanlagen zu finanzieren, bilden die Menschen in den zahlreichen Armensiedlungen Selbsthilfe- und Spargruppen: jede und jeder zahlt wöchentlich umgerechnet 50 Cent oder 1 Dollar ein, bis das Geld für den Bau gesammelt ist. Selbst weiterreichende Projekte wie Gemeinschaftszentren mit Handyaufladestationen oder behelfsmässige Krankenstationen planen und finanzieren die Menschen selber – oft mit Hilfe von Fachleuten aus dem In- und Ausland. Mögen die Lekki Free Trade Zone und Eko Atlantic City auch die internationale Berichterstattung dominieren – die wahren Planungspionierinnen und Stadtentwicklungshelden sind die Bewohnerinnen und Bewohner von Lagos.

Während sich in der zeitgenössischen europäischen Stadtentwicklung die Debatte darum dreht, wie man die Öffentlichkeit an der Planung beteiligen kann, stellt sich in Städten wie Lagos genau die umgekehrte Frage: wie überhaupt die öffentliche Hand an der Planung beteiligt werden kann. Das macht diese Metropole zum geeigneten Beobachtungsfeld für den Städtebau der Zukunft. Es ist eine der faszinierendsten Fragen überhaupt, welche Rahmenbedingungen ein System, etwa eine Stadt, funktionieren lassen: Was muss gesteuert werden? Was überlässt man der Improvisation? Und wie spielen diese beiden Sphären zusammen?

Tatsächlich herrschen für Zürichs Stadtentwicklung im Vergleich zu Lagos geradezu gegensätzliche Bedingungen: viel Planung, viel Kontrolle, viel Geld und eine verhältnismässig winzige Bevölkerung. Das Planungssystem in der Schweiz basiert darauf, die Zukunft vorherzusehen oder gar festzulegen. Langwierige Kontroll- und Bewilligungsverfahren sollen Garantien schaffen. Klassische Masterpläne für neue Entwicklungsgebiete erheben den Anspruch, Bauvolumen und Nutzungen zu entwerfen, die auch in 30 oder 50 Jahren noch Gültigkeit haben sollen. Das Herzstück der Stadtplanung sind das gesamte Stadtgebiet umfassende Bau- und Zonenpläne, die im Detail vorschreiben, welche Bauhöhen und Nutzungen zugelassen sind. Neue Projekte sowie Umbauten werden in der Regel nur im Rahmen der geltenden Bau- und Zonenordnung bewilligt, wobei auch kleine Projekte nicht selten mit einer Flut von Einsprachen zugedeckt werden. Bei besonders grossen und wichtigen Bauvorhaben kann sich der Loop aus Planen, Bewilligen, Scheitern an der Urne und Neuaufsetzen des Planungsprozesses jahrelang hinziehen. Klassische Beispiele sind etwa die Stadionbauten in Zürich und Aarau oder grössere Umnutzungsvorhaben wie die Neubespielung innerstädtischer Kasernenareale, zum Beispiel in Zürich und Basel. Es ist allerdings nicht so, dass die Gründe des Scheiterns bei den Stadtplanungsbehörden und der Politik alleine zu suchen wären. Es scheint auch bei der Bevölkerung einen – möglicherweise wachsenden – Unwillen zu geben, Veränderungen in der Stadtentwicklung mitzutragen.

All dies macht unsere Stadtentwicklung nicht nur langwierig und teuer. Viel schlimmer: es sorgt dafür, dass wir Schwierigkeiten haben, befriedigende Antworten auf die Herausforderungen der Zeit zu finden. Wir haben noch keine Wege gefunden, die Zersiedlung einzudämmen, unsere Siedlungen wirklich zu verdichten und weniger Ressourcen zu verbrauchen. Bekanntlich wächst die Siedlungsfläche in der Schweiz zweieinhalb mal schneller als die Wohnbevölkerung, wobei die Stadt Zürich und andere städtische Zentren, etwa Genf oder Basel, am wenigsten Siedlungsfläche pro Einwohner und Arbeitsplatz brauchen.7 Noch prägnanter: wir leben über unsere Verhältnisse und erreichen unsere selbstgesetzten Ziele nicht – obwohl das Stimmvolk zu Stadtzürcher Initiativen wie der 2000-Watt-Gesellschaft oder zu eidgenössischen Vorlagen wie der Revision des Raumplanungsgesetzes (RPG) deutlich Ja gesagt hat. Wir erreichen sie nicht, obwohl wir über eine beeindruckende Reihe von Instrumenten verfügen, welche die Umsetzung dieser und ähnlicher Vorgaben garantieren sollten. Oder vielleicht gerade deswegen?

 

Aushandeln statt Kontrollieren

Ein möglicher Ausweg aus den verschiedenen Sackgassen könnte eine Planungskultur sein, die sich vermehrt an dem orientiert, was die Bürgerinnen und Bürger von Lagos angesichts der Absenz eines funktionierenden Staates seit Jahrzehnten praktizieren: Aushandlungen. Projekte könnten in ihrer Gesamtheit mit allen involvierten Interessengruppen evaluiert werden, statt einfach vorgegebene Normen erfüllen zu müssen. Nicht das Einhalten der Traufhöhe oder der im Zonenplan vorgeschriebenen Nutzung wäre alleine ausschlaggebend, sondern was ein Projekt im heutigen Kontext für eine Strasse, ein Quartier oder eine Stadt zu leisten vermag. Inkrementelle, also schrittweise erfolgende Planungsansätze hätten das grosse Potential, bestimmte Konzepte zu testen, etwa eine Erhöhung der Dichte oder eine vom Zonenplan abweichende Nutzung. Ideen könnten ohne langwierige und teure Bewilligungsverfahren ausprobiert werden. Gebiete, in denen Erneuerungen im Bestand oder komplette Umnutzungen anstehen, könnten für eine bestimmte Zeit freigegeben werden, um verschiedene Nutzungen, Technologien, Bau- und Wohnformen frei von Zwängen anzuwenden. Die anschliessende Konsolidierung, nach bestimmten Regeln erfolgend, würde möglicherweise bessere Resultate als die klassische Planung bringen, die für eine lange Zeit im voraus planen muss und im Vorfeld an Vorurteilen, Ängsten, Normen und Einsprachen scheitert. Wo komplette Gebietsneuplanungen notwendig werden und eine inkrementelle Zwischen- und Umnutzung nicht möglich ist, könnten ergebnisoffene Ansätze, die im Laufe der Zeit angepasst werden können, bessere Ergebnisse bringen als klassische Gestaltungspläne, die Bauhöhen und Nutzungen festschreiben, ohne zukünftige Bedürfnisse sowie Wachstums- und Schrumpfungszyklen zu kennen.

Dies könnte auch Phänomenen wie der viel beklagten Wohnungsnot entgegenwirken, da flexibler und schneller reagiert werden kann. Mangel oder Not an etwas gibt es immer dann, wenn das Angebot der Nachfrage nicht nachkommt oder künstlich knapp gehalten wird. Dies geschieht in der Planung implizit und vielleicht oft ungewollt durch zu viele Vorschriften, Normen und Gesetze, die eine gute Lösung erschweren oder im schlimmsten Fall echte Neuerungen abwürgen. Es wäre wohl sinnvoller, die wichtigsten Parameter festzulegen – etwa die öffentlichen Räume und die Grösse der Parzellen – und die Art und Weise der Bebauung freizugeben, um Angebot und Nachfrage einpendeln zu können. Man könnte sich etwa auf eine maximale und minimale Bauhöhe beschränken, für alles dazwischen aber auf Verhandlungs- statt auf Bewilligungsprozesse setzen. Raum für Kreativität und Selbstorganisation zu lassen, muss nicht notwendigerweise zu Chaos führen, solange gewisse Eckwerte und Grundregeln eingehalten werden.

Kritische Stimmen werden nun die Gefahren möglicher Rechtsunsicherheiten, Ungleichheiten oder gar Ungerechtigkeiten ins Feld führen. Das sind ernstzunehmende Bedenken. Aber wenn wir ehrlich sind, existieren diese Probleme bereits heute: Die «verhandelbare Stadt» ist nämlich heute bereits dann möglich, wenn gewichtige Investoren oder Firmen den nötigen Druck aufsetzen oder mit Wegzug drohen. Teure Lagen profitieren öfter von «unverbaubarer Seesicht». Angesichts der Tatsache aber, dass die Ergebnisse unserer Planungsprozesse zu oft scheitern, sei es an der Urne, sei es in der Umsetzung, sei es im späteren Gebrauch, wäre es den Versuch wert, informelle und inkrementelle Ansätze vermehrt zuzulassen. Sie benötigen keine grossen Gesetzesänderungen, erweitern aber die Handlungs-, Spiel- und Denkräume. Es geht weniger darum, ganze Gebiete zu Innovations- oder Kreativzonen zu erklären, sondern im Rahmen des Bestehenden die Flexibilität zu erhöhen. Was in Städten wie Lagos aus der Not geboren und zumeist in der Hilflosigkeit oder Unfähigkeit der Regierung wurzelt, könnte in Städten wie Zürich in der Einsicht begründet liegen, dass zu viele Gesetze, Normen und Regulierungen die Ergebnisse verschlechtern, obwohl sie das Gegenteil bezwecken.

Gerade die Schweiz mit ihrer Tradition der direkten Demokratie, der liberalen Grundhaltung und des hohen Allgemeinbildungsniveaus wäre prädestiniert, hier einige Gehversuche zu wagen. Der Weg dahin liegt weniger in einer Revolutionierung des Planungssystems als in der Lockerung einiger Schrauben und Vorschriften. Dasselbe gilt im übrigen für Lagos, wo in den letzten Jahren eine Reihe von oft brutal durchgesetzten Verboten, etwa von informellen Marktständen, den bereits erwähnten informellen Müllsammelaktivitäten, informellen Motorradtaxis (Okadas) auf bestimmten Strassen oder der Abriss ganzer Slums, den Menschen ihre Einkommens- und Lebensgrundlage entziehen und Informalität plötzlich zur Illegalität wird. Erfolgreiche Stadtplanung zeichnet sich dadurch aus, dass das Zusammenspiel von offiziellen, formellen und inoffiziellen, informellen Prozessen, Instrumenten und Projekten immer wieder neu orchestriert wird. Dies dürfte umso wichtiger werden, je pluralistischer und heterogener westliche Gesellschaften werden und je unaufhaltsamer die Urbanisierung in den Städten des Südens voranschreitet. Gute Stadtplanung bedeutet, frei nach Koenigsberger, sich nicht aufs Kontrollieren und Bewilligen zu beschränken, sondern an den richtigen Orten die Weichen für wichtige Entwicklungen zu stellen und an anderen Orten lieber weniger als mehr zu regulieren. Lagos kann hierfür eindrücklich als Anschauungs- und Forschungsbeispiel dienen.


Kriterien nach UN-Habitat: 1. Inadequate access to safe water; 2. Inadequate access to sanitation and infrastructure; 3. Poor structural quality of housing; 4. Overcrowding; 5. Insecure residential status. Web: http://unhabitat.org/urban-themes/housing-slum-upgrading/
2 World Poverty: https://ourworldindata.org/world-poverty/#share-of-the-population-below-the-international-poverty-line
3 Branko Milanovic: Global Inequality. A New Approach for the Age of Gobalization. Cambridge: Belknap, 2016.
4 Heinrich-Böll-Stiftung and Fabulous Urban: Urban Planning Processes in Lagos. Policies, laws, planning instruments, strategies and actors of urban projects, urban development, and urban services in Africa’s largest city. Lagos, 2016, S. 38–39.
5 Ebd.
6 Otto H. Koenigsberger: The Role of the Planner in a Poor (and in a Not Quite so Poor) Country. Habitat Intl., Vol. 7, No. 112, 1983.
7 BFS: Statistik der Schweiz. Neuchâtel, 2015.

»
Strassenszene in Lagos, Nigeria, photographiert von Logo Oluwamuyiwa. Mit seinem Projekt «Monochrome Lagos» hat er sich zum Ziel gesetzt, seine Stadt in Form von Photographien und Literatur zu entdecken – und zu archivieren. Mehr unter: www.monochromelagos.com.
Wie viel Freiheit braucht eine Stadt?

Das sich selbst organisierende Lagos funktioniert völlig anders als das durchgeplante Zürich. Genau darum können europäische Stadtentwickler von der nigerianischen Metropole lernen. Gedanken zum Städtebau der Zukunft.

Abonnieren Sie unsere
kostenlosen Newsletter!