Wie uns die Medizin helfen kann, den demografischen
Wandel zu bewältigen
Die Fortpflanzungsmedizin ist trotz sinkender Fruchtbarkeit in der Schweiz wenig verbreitet. Ein besserer Zugang zu Fruchtbarkeitsbehandlungen muss Teil der Familienpolitik werden.
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Die Schweiz durchläuft einen tiefgreifenden demografischen Wandel. Die Fertilitätsrate (Total Fertility Rate), welche die durchschnittliche Anzahl Kinder pro Frau angibt, ist stetig gesunken, von 1,52 im Jahr 2021 auf 1,33 vergangenes Jahr. Um die Bevölkerungszahl langfristig konstant zu halten, müsste sie bei etwa 2,1 liegen. Der Rückgang unterstreicht die Dringlichkeit, sich den bevorstehenden sozioökonomischen Herausforderungen zu stellen, die sich aus der Alterung der Bevölkerung ergeben und die tiefgreifende gesellschaftliche Auswirkungen haben könnten.
Die Alterung der Bevölkerung führt zunächst zu tieferen Kosten in Bereichen wie der Bildung, da es weniger Kinder gibt. Sie bringt aber auch langfristige Probleme mit sich. Dazu gehören eine schrumpfende Erwerbsbevölkerung und höhere Renten- und Gesundheitskosten, da die Lebenserwartung weiter steigt.
Die Rolle der Fortpflanzungsmedizin
In der Schweiz sind Reproduktionstechnologien wie In-vitro-Fertilisation (IVF) und Social Freezing (Einfrieren von Eizellen zum Aufschub der Familiengründung) zu einem zentralen Thema bei der Behandlung von Fruchtbarkeitsproblemen geworden, insbesondere weil Paare immer später Kinder bekommen.
Obwohl die Techniken der Reproduktionsmedizin relativ neu sind (das erste IVF-Baby wurde erst 1978 geboren), haben sie in den letzten Jahrzehnten eine enorme Entwicklung durchgemacht. Diese Innovationen wirken sich sowohl auf die Diagnostik als auch auf die Behandlung der Patienten aus.
«Obwohl die Techniken der Reproduktionsmedizin relativ neu sind,
haben sie in den letzten Jahrzehnten eine enorme Entwicklung durchgemacht.»
Im Bereich der Diagnostik ermöglichen Ultraschallgeräte der neuen Generation sowie hormonelle und genetische Tests eine deutliche Verkürzung der für eine Diagnose erforderlichen Zeit und eine individuelle Behandlung, die spezifisch auf jedes Paar zugeschnitten ist.
Was die Behandlung angeht, wurden neue Entwicklungen sowohl in der klinischen als auch in der Laborpraxis eingeführt. Neue Medikamente und Stimulationsprotokolle ermöglichen es beispielsweise, Eizellen besserer Qualität zu gewinnen und gleichzeitig die Risiken und Beschwerden für die Patientinnen zu verringern. Darüber weisen das Einfrieren von Embryonen und der Transfer einzelner Embryonen bessere Erfolgsraten auf, da weniger Eizellen entnommen werden müssen. Schliesslich bietet die Medizin heute reproduktive Möglichkeiten auch für Patientengruppen, die früher zur Unfruchtbarkeit verurteilt waren (zum Beispiel Patientinnen, die sich einer Chemo- und Strahlentherapie unterziehen).
In der Laborpraxis tragen die Automatisierung einiger kritischer Prozesse, Verfahren zur Auswahl von Embryonen (einschliesslich der genetischen Präimplantationsdiagnostik), die Überwachung des Kulturzustands und der Einsatz künstlicher Intelligenz zu einer weiteren Optimierung der Sicherheits- und Qualitätsstandards bei.
2017 machte die medizinisch unterstützte Fortpflanzung, definiert als Fortpflanzung, die durch verschiedene Eingriffe und Technologien erleichtert wird, zwischen 3,2 Prozent und fast 10 Prozent der Geburten in europäischen Ländern aus. Die Schweiz hat den niedrigsten Anteil von Babys, die durch assistierte Reproduktion geboren werden, was auch daran liegen könnte, dass diese Behandlungen nur teilweise von den Krankenkassen übernommen werden und für Leute mit wenig finanziellen Mitteln unerschwinglich sind.
«Die Schweiz hat den niedrigsten Anteil von Babys, die durch assistierte Reproduktion geboren werden, was auch daran liegen könnte, dass diese Behandlungen nur teilweise von den Krankenkassen übernommen werden.»
Dies gilt auch für das Social Freezing, das insbesondere bei berufstätigen Frauen immer beliebter wird, die ihre Karriereziele mit einer zukünftigen Familienplanung in Einklang bringen möchten. Zahlreiche Schweizer Kliniken bieten diese Dienstleistungen an und tragen damit dem wachsenden Trend zur späteren Familiengründung (und den damit verbundenen Herausforderungen aufgrund des natürlichen Rückgangs der Fruchtbarkeit nach dem 35. Lebensjahr) Rechnung. Es braucht jedoch politische Veränderungen, um diese Dienstleistungen zugänglicher zu machen. Insbesondere sollten Krankenkassen einen höheren Anteil der Kosten übernehmen.
Mangelndes Bewusstsein
Der demografische Wandel erfordert eine vielschichtige Antwort der Schweiz:
- Bildungsinitiativen: Die Menschen sollten möglichst früh über das Thema Fruchtbarkeit informiert werden. Damit können sie fundierte Entscheidungen über die Familienplanung treffen. In den USA zeigt die National Survey of Family Growth einen deutlichen Anstieg der Unfruchtbarkeitsraten, der hauptsächlich auf den natürlichen Rückgang der Fruchtbarkeit mit zunehmendem Alter zurückzuführen ist: Von 6 Prozent bei Frauen unter 24 Jahren steigt die Unfruchtbarkeit auf über 30 Prozent bei Frauen zwischen 35 und 44 Jahren. Dessen sind sich Frauen oft zu wenig bewusst. Darüber hinaus spielen aber auch Lebensstilfaktoren wie Rauchen, Bewegung und Ernährung eine Rolle. Eine frühzeitige Aufklärung über reproduktive Gesundheit, Familiengründung und Familienplanung kann helfen, diesen Trends entgegenzuwirken.
- Zugang zu Fruchtbarkeitsbehandlungen: Die Entwicklung einer sicheren, wirksamen und finanziell zugänglichen Fruchtbarkeitsversorgung ist von entscheidender Bedeutung. Es braucht Massnahmen, um die Kosten für Fruchtbarkeitsbehandlungen zu senken. Zudem sollte die Versicherungsdeckung erweitert werden. Das würde die finanzielle Belastung der Personen, die solche Leistungen in Anspruch nehmen, erheblich verringern.
- Unterstützung für Familien: Um die Herausforderungen des Geburtenrückgangs zu bewältigen, muss die Schweiz Familien logistisch und finanziell besser unterstützen. Dazu gehört ein Umfeld, das berufstätige Eltern unterstützt, beispielsweise durch erschwinglichere Kinderbetreuungsangebote. Tatsächlich sind die hohen Kosten für Kindertagesstätten in der Schweiz – etwa 130 Franken pro Tag – ein erhebliches Hindernis für die Familiengründung.1
- Anpassungen am Arbeitsplatz: Arbeitgeber können bei der strategischen Reaktion auf den demografischen Wandel ebenfalls eine wesentliche Rolle spielen. Familienfreundliche Richtlinien, zum Beispiel flexible Arbeitszeiten, Elternzeit und Unterstützung bei Fruchtbarkeitsbehandlungen, können dazu beitragen, den unterschiedlichen Bedürfnissen der Angestellten, die eine Familie gründen möchten, gerecht zu werden.
All diese Strategien können nützlich sein, um diese demografischen Herausforderungen zu bewältigen. Der zunehmende Trend zur freiwilligen Kinderlosigkeit, der durch Faktoren wie globale Unsicherheit, Besorgnis über den Klimawandel und Lebensstilpräferenzen angetrieben wird, deutet jedoch darauf hin, dass wirtschaftliche Anreize allein nicht ausreichen, um sinkende Fertilitätsraten umzukehren. Die Politik muss diese umfassenderen gesellschaftlichen Veränderungen berücksichtigen.
Ganz oben auf die politische Agenda
Die Schweiz steht an einem Scheideweg. Wenn sie fortschrittliche Reproduktionstechnologien in ihre Familienpolitik einbezieht, kann sie die Weichen für eine nachhaltige Zukunft stellen. Die Politik sollte ein Umfeld fördern, das den Bedürfnissen der heutigen wie auch der zukünftigen Generationen durch eine verbesserte reproduktive Gesundheitsversorgung gerecht wird. Das ist entscheidend, um die Herausforderungen des demografischen Wandels zu bewältigen. Nur so kann das Land auch in Zukunft prosperieren. Diese Massnahmen müssen jedoch ganz oben auf die nationale politische Agenda gesetzt werden.
Credit Suisse: So viel kostet ein Kitaplatz in der Schweiz. https://www.credit-suisse.com/media/assets/private-banking/docs/ch/privatkunden/anlegen/studie-kinderbetreuungskosten-mai-2021-de.pdf ↩