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Wie St. Galler Leinwand «zolfrie» nach Nürnberg kam

Die Wurzeln des Freihandels in der Schweiz reichen bis ins 14. Jahrhundert. Ebenso alt sind die Streitigkeiten über die praktische Umsetzung.

Wie St. Galler Leinwand «zolfrie» nach Nürnberg kam
Die Stadt St. Gallen gewährt der Stadt Nürnberg Zollfreiheit. Bild: St. Gallen, Stadtarchiv der Ortsbürgergemeinde, Urkunden (1228–1463) XXII-1b, in Monasterium.net

Freihandel bedeutet Handel ohne Hindernisse wie Verkaufszwang, Verkaufs- und Mengenbeschränkungen und Zölle bei freier Ausfuhr der Erlöse. Die ökonomischen Vorteile des Freihandels wurden im 18. Jahrhundert von Vordenkern wie Adam Smith und David Ricardo intellektuell artikuliert. Dies geschah aus Kritik am Merkantilismus, der die Wirtschaftspolitik in Europa lange dominierte. Doch Praktiken des Freihandels gehen noch viel weiter zurück.

In Zeiten, in denen der Freihandel zunehmend unter Druck gerät, lohnt es sich, einen Blick auf die Ursprünge der freihändlerischen Praxis in Europa und der Schweiz zu werfen, welche bis ins Mittelalter zurückgeht. Drei Praktiken sind historisch besonders bedeutsam: erstens die Präferenzbehandlung, die Könige oder andere Feudalherren bestimmten Gruppen zuteilkommen lassen, zweitens das wichtige Element der Reziprozität (gegenseitiges Einräumen von Handelsprivilegien) und drittens die urkundlich begründete Praxis gegenseitiger Zoll- und Abgabenbefreiung bilateral und innerhalb von Städtebündnissen.

Zölle immer und überall

Während der Völkerwanderungszeit zerfielen die Städte und Verbindungswege. Die frühmittelalterlichen Märkte der Bischofsstädte und Klöster waren sehr beschränkt.

Das Bevölkerungswachstum im Hochmittelalter und die Gründung von rund zweihundert neuen Städten förderten marktwirtschaftliche Prozesse. Allerdings scheinen Schweizer Kaufleute vor dem 13. Jahrhundert nur eine untergeordnete Rolle als Wiederverkäufer im Kleinhandel gespielt zu haben.

Die Viehzüchter der Alpen begannen eine aktivere Rolle einzunehmen: Sie trieben ihr Vieh nicht nur in die Städte des Mittellandes, sondern über die Alpenpässe bis in die Lombardei und nach Venetien. Auf dem Rückweg brachten sie Produkte mit, welche in den Bergregionen knapp waren, wie Salz, Getreide und Waffen.

Im Mittelalter war das Zollwesen ein wichtiger Teil herrschaftlicher Machtausübung. Bereits die karolingischen Herrscher setzten Zölle gezielt als Instrument einer aktiven Handelspolitik ein und intervenierten mit Zollsenkungen oder Zollbefreiungen lenkend in den Handel. Die Städte betrieben eine eigene Zollpolitik. Luzern belastete den Gotthard-Transit mit einem Zoll. Reine Passierzölle waren lange untersagt. Der Rechtsanspruch, Zölle als Zwangsabgaben einzufordern, war zwingend an Gegenleistungen gebunden, zunächst an die Gewährung von «Schutz und Schirm». Zölle waren zudem zweckgebunden: Die Zölle, die an Strassen und Brücken eingezogen wurden, mussten für deren Unterhalt eingesetzt werden.

Ein Kaufmann bezahlte ständig Zwangsabgaben – beim Überqueren von Pässen und Brücken, bei der Nutzung von Häfen sowie beim Durchqueren fremder Herrschaftsgebiete. Erfindungen wie der Stapelzwang griffen massiv in den Handel ein. Städte, die das Stapelrecht besassen, zwangen die Kaufleute, ihre Waren in der Stadt zu «stapeln», also einzulagern und zu herabgedrückten Preisen anzubieten.

Zusammenschluss von Städten

Bereits im Mittelalter entging vielen Feudalherren nicht, dass es lukrativ war, Fernhandel auf dem eigenen Territorium zuzulassen und zu fördern – auch ohne theoretische Untermauerung. 1175 stellte der englische König der Kölner Hanse, einem Zusammenschluss von deutschen Kaufleuten, einen Schutzbrief für das ganze Territorium unter englischer Herrschaft aus. 1194 kam das Recht hinzu, im ganzen Land frei verkehren zu dürfen, und die Befreiung von Zwangsabgaben. Damit finden wir im Hochmittelalter bereits eine handelspolitische Präferenzbehandlung, die ein zentrales Element in modernen Handelsverträgen werden sollte.

Die eigentlichen Wurzeln des Freihandels aber lagen in den Städten, die sich in der berühmten Städtehanse (nicht zu verwechseln mit den genannten Kaufmannshansen) zusammenschlossen. Deren Gründungsjahr wird häufig mit 1241 angegeben, als Lübeck und Hamburg ihre bestehende enge Zusammenarbeit auf eine vertragliche Basis stellten. Zur Zeit ihrer grössten Ausdehnung waren fast 300 See- und Binnenstädte des nördlichen Europas in der Städtehanse zusammengeschlossen.

Strenge Vorschriften

Überall in der Schweiz finden wir noch heute bestehende mehrgeschossige kombinierte Lager- und Verkaufsgebäude (wie Gred-, Waag- und Kornhäuser, Susten). Diese mit öffentlichen Mitteln erstellten Gebäude schützten das Kaufmannsgut vor Diebstahl und Wettergefahren, ermöglichten der Obrigkeit aber auch eine verschärfte Kontrolle des Handels. Dies geschah über Stapel- und Waagzwang für Transitware, verbunden mit der Erhebung von Zöllen und einer strikten Ausübung des Marktzwangs. Nebenmärkte (zum Beispiel Brot- und Schuhhandel an Wegkreuzungen vor den Toren) wurden unterbunden. Sicher gab es zahlreiche Versuche, diese Vorschriften zu umgehen. Wir wissen, dass spätestens ab dem 16. Jahrhundert Händler auf dem Gebiet der heutigen Schweiz Schmuggel im grossen Stil betrieben.

Auch hierzulande schlossen sich die Kaufleute in einflussreichen Vereinigungen zusammen. Ein Beispiel ist besonders bedeutsam: das Kaufmännische Directorium von St. Gallen. Dieses war 1466 als Gesellschaft zum Notenstein gegründet worden. Die Gesellschaft beruhte auf der erfolgreichen Herausbildung der ersten grossen Exportwirtschaft auf dem Gebiet der Eidgenossenschaft: der Herstellung von Leinwand. Vom 11. Jahrhundert an hatte sich im Gebiet um den Bodensee ein Leinwandgewerbe entwickelt, dessen Produkte nicht nur der Selbstversorgung und dem regionalen Markt dienten, sondern zu einem bedeutenden Teil auch in den Fernhandel flossen. Zwei Faktoren machten St. Gallen bedeutend: Erstens erschütterten Zunftaufstände 1450 Konstanz und führten zum relativen Abstieg des ehemaligen Produktionszentrums. Zweitens hatte die Leinwand aus St. Gallen eine herausragende Qualität. Nachgefragt und von hoher Qualität waren auch die Produkte der St. Galler Leinwandveredlung (Bleichen, Färben und Mangen).

Das erste Freihandelsabkommen der Schweiz

Erste Belege für die Bedeutung des Fernhandels mit Leinwand findet man im 13. Jahrhundert in Genua. Auch die grossen Märkte von Lyon und Nürnberg waren über Jahrhunderte wichtige Destinationen. Im 15. Jahrhundert reichte das Verbreitungsgebiet von St. Galler Textilien von Spanien bis Polen. Statt für Geld tauschten die Kaufleute die Textilien oft gegen andere Güter ein, die sie mit nach Hause brachten und verkauften: Gewürze, Zucker, Wein, Wolltücher, Seide und Samt, Metallwaren sowie exotische Dinge wie Federn und Korallen.

«Im 15. Jahrhundert reichte das Verbreitungsgebiet von St. Galler Textilien von Spanien bis Polen.»

Die Vermeidung von Zwangsabgaben liegt im Interesse von Kaufleuten. Es ist deshalb nicht überraschend, dass sich St. Gallen bemühte, ein Freihandelsabkommen mit wichtigen Handelsstädten abzuschliessen. Im Jahr 1387 einigte sich die Stadt mit Nürnberg auf ein Abkommen über gegenseitige Zollfreiheit. Die beiden Städte hatten schon lange eine gute Beziehung unterhalten. Es dürfte das erste bilaterale Freihandelsabkommen der späteren Schweiz gewesen sein. Allerdings handelt es sich nicht um einen beidseitig unterzeichneten Vertrag, sondern um zwei separat ausgestellte Urkunden. Auf St. Galler Seite wurde die Urkunde mit offiziellem Siegel am 2. April 1387 ausgestellt, darin die Worte «by uns gantzlichen zolfrie süllent sin fürbass» (also dass sie «künftig bei uns gänzlich zollfrei sein sollen»).

Eine Bedingung war an die Zollfreiheit geknüpft: Die St. Galler Kaufleute verpflichteten sich, dem Nürnberger Zolleinnehmer alljährlich am 1. Mai ein Pfund Pfeffer in einem weissen Schüsselchen, zwei weisse Handschuhe und ein weisses Stäbchen zu überbringen. Nicht überraschend, dass der erste regelmässige Botendienst St. Gallens über 350 Kilometer nach Nürnberg führte, organisiert vom Kaufmännischen Directorium.

Auf allen Märkten mussten Zollvorteile und Zollfreiheiten immer wieder von neuem erkämpft und erworben werden. 1477 gelang es St. Gallen, inzwischen ein «zugewandter Ort» der Eidgenossenschaft, in das Eidgenössische Kapitulat mit Mailand, das Zollfreiheit im Herzogtum verlieh, aufgenommen zu werden. Dank der Zollfreiheit konnten die eidgenössischen Kaufleute mit ihren Gütern bis an den Stadtgraben von Mailand jegliche Zölle vermeiden. Die Eidgenossen mussten ihrerseits für den angemessenen Unterhalt ihrer Strassen aufkommen. 1604 liess sich Mailand widerwillig darauf ein, seinen Transportunternehmern die Nutzung des Gotthards zulasten der Bündner Pässe vorzuschreiben. Es handelte sich also um Zollfreiheit, die jedoch nicht der liberalen Auffassung des Freihandels entsprach.

Bei den mehr als ein Jahr dauernden Friedensverhandlungen der Eidgenossen mit Frankreich nach der Schlacht von Marignano (1515) ging es neben Territorien, Söldnern und Pensionen auch um Handelspolitik. Die Handelsprivilegien der Eidgenossen im Herzogtum Mailand und in der Messestadt Lyon wurden bestätigt. Man räumte sich allgemein gegenseitig den freien Handel ein. Dies richtete die Exporte aus dem schweizerischen Raum für Jahrhunderte zentral nach Frankreich aus, mit langfristigen Folgen für die Schweizer Wirtschaft.

Der Aufstieg der internationalen Handelsgesellschaft

Im 15. Jahrhundert vervielfachten sich die Handelsgesellschaften in der Schweiz. Solche Gesellschaften gab es in Italien schon seit Jahrhunderten. Nördlich der Alpen fassten sie ab dem ausgehenden 14. Jahrhundert Fuss. Erfolgreiche Handelsgesellschaften verfügten über ein interregionales Netzwerk von Agenturen, Kontoren sowie Warenlagern und ermöglichten so den Kaufleuten, ihre Tätigkeit von einem festen Wohnsitz aus abzuwickeln. Der Kaufmann musste den Einkauf der Handelsware nicht mehr persönlich vor Ort organisieren und den Transport begleiten.

Allein in St. Gallen entstanden im 15. Jahrhundert rund 15 Handelsgesellschaften. Die bedeutendste unter diesen war die «Diesbach-Watt-Gesellschaft», die allerdings ihren Hauptsitz bis Ende der 1440er-Jahre in Bern hatte.

Ein frühes Beispiel unter vielen aus Basel ist die hauptsächlich im Safran- und Tuchhandel tätige «Halbisen-Gesellschaft» (ca. 1415‒1430). In Zürich hingegen waren Handelsgesellschaften eine Randerscheinung, da die strikten Zunftregeln die Zusammenlegung von Kapitalien einschränkten. Bei den erfolgreichen Zürcher Handelsgesellschaften des 17. und 18. Jahrhunderts handelte es sich zumeist um Familiengesellschaften.

«Schwabengarn» unerwünscht

Lyon blieb lange der wichtigste Handelsplatz für Schweizer Kaufleute. In dieser Stadt bildete sich eine regelrechte Schweizer «Kolonie» aufgrund der vom König verliehenen Privilegien. Die vier jährlichen Warenmessen dauerten jeweils 15 Tage; für die Schweizer kamen weitere 15 Tage hinzu. Die Schweizer genossen die Präferenzbehandlung auf der Grundlage des «Ewigen Friedens» von 1516, nämlich die Befreiung von Zöllen, Steuern und Abgaben und das Recht auf Geldausfuhr. Lange Zeit wickelte sich der St. Galler Handelsverkehr mit Spanien über Lyon ab.

Allerdings waren die Schweizer Privilegien den Steuereintreibern ein Dorn im Auge. Immer öfter schauten sie sehr genau hin, ob es sich auch wirklich um Schweizer Waren handelte und nicht etwa um «Schwabengarn». Es kam zu zahlreichen juristischen Streitereien. Die in Frankreich tätigen Schweizer Kaufleute äufneten einen Fonds für diese Zwecke, eine Art Rechtsschutzversicherung. Die ab 1630 «endlosen Prozesse vor dem Tribunal der Douane» nahmen viele Themen vorweg, die heute zentral in der Freihandelspolitik sind, vor allem Ursprungsregeln. Wann ist ein Produkt schweizerischen Ursprungs, und wie kann und muss das belegt werden?

Protektionismus in der Alten Eidgenossenschaft

Im Ancien Régime war die Schweiz selber alles andere als ein einheitlicher Markt. Orte wie Bern betrieben über lange Zeit eine protektionistische Politik in merkantilistischem Sinn, während der Handel etwa in Neuenburg oder Basel weniger reglementiert war. In Uri machten die Zoll- und Weggelder 1794 rund 72 Prozent der Fiskaleinnahmen aus. Auch die Tagsatzung ergriff merkantilistische Massnahmen. Beispielsweise erliess sie Mitte des 17. Jahrhunderts ein Einfuhr- und Konsumverbot für Tabak. Auch staatliche Fördermassnahmen waren durchaus üblich, etwa für das Exportgewerbe. In den Landkantonen hingegen gab es neben den Zöllen kaum staatliche Regulierung. Hier ist die Handelsfreiheit, also die Unabhängigkeit von der obrigkeitlichen Wirtschaftspolitik, besonders ausgeprägt.

Erst die Helvetik markiert den vollständigen Übergang von der jahrhundertelangen Reglementierung des Handels zur Handelsfreiheit. Nach 1815 erhob die Tagsatzung einen (bescheidenen) Grenzzoll, um die eidgenössische Kriegskasse zu finanzieren, ohne jegliche handelspolitische Ziele. Auch die kantonalen Zölle und Abgaben waren insgesamt niedrig und dienten vor allem fiskalischen Zwecken. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde die Schweiz die offenste und freihändlerischste Volkswirtschaft in Europa. Das Kaufmännische Directorium in St. Gallen wurde zur Handelskammer. Es war denn auch das Kaufmännische Directorium zusammen mit dem Verband der Uhrenindustrie in Neuenburg, die in den 1860er-Jahren den Bundesrat erfolgreich dazu drängten, mit dem Kaiserreich Japan Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen aufzunehmen.

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