Wie man am sichersten nicht auf den Mond fliegt
Meine ersten Erfahrungen mit Marktwirtschaft und Kapitalismus habe ich während meiner Studienzeit gemacht. Damals wohnte ich in einer kleinen Studenten-WG zusammen mit Frank Pahl. Frank studierte Medizin, hatte schon mit Mitte 20 graues Haar und besass überhaupt für sein Alter ein äusserst reifes, seriöses Auftreten, weshalb er von allen nur «Herr Pahl» genannt wurde. Sein […]
Meine ersten Erfahrungen mit Marktwirtschaft und Kapitalismus habe ich während meiner Studienzeit gemacht. Damals wohnte ich in einer kleinen Studenten-WG zusammen mit Frank Pahl. Frank studierte Medizin, hatte schon mit Mitte 20 graues Haar und besass überhaupt für sein Alter ein äusserst reifes, seriöses Auftreten, weshalb er von allen nur «Herr Pahl» genannt wurde. Sein Studium finanzierte er sich im wesentlichen, indem er Porsche-Bremsscheiben über Kleinanzeigen in Automagazinen verkaufte. Ursprünglich kam Herr Pahl aus Stuttgart und arbeitete schon während seiner Schulferien regelmässig bei dem Zuffenhausener Konzern am Band. Dort lernte er zufällig den Bremsscheibenzulieferer des Sportwagenherstellers kennen und beschloss fortan, einen kleinen, privaten Vertrieb von exklusiven Kfz-Teilen aufzubauen.
So ergab es sich, dass neben uns zweien noch drei Tonnen Bremsscheiben in unserer bescheidenen, 50 Quadratmeter grossen Behausung lagerten. Bis an die Decke stapelten sich die chromglitzernden, innenbelüfteten Monsterdinger. Ab und an, wenn Herr Pahl wieder ein «Schnäppchen» gemacht hatte, lag ein riesiger Seitenschweller oder ein überdimensionierter Heckflügel in unserer Badewanne. «Der ist praktisch schon verkauft. In zwei, drei Tagen können wir das Bad wieder benutzen», beschwichtigte mein Mitbewohner mich dann immer.
War Herr Pahl auf «Kundenterminen», musste ich als menschlicher Anrufbeantworter den Telefondienst übernehmen. Internet und E-Mail gab es noch nicht, und so klingelte bei uns pausenlos das Telefon. Kein Wunder, denn Herr Pahl hatte keine Lager- und Personalkosten und konnte die Bremsscheiben 20 Prozent unter dem Marktpreis anbieten. Sportwagenfahrer aus ganz Deutschland, Österreich und der Schweiz riefen bei uns an und gingen selbstverständlich davon aus, dass sie einen professionellen Händler an der Strippe hatten und keine Studenten-WG, deren Geschäftsführer ein durchgeknallter Medizinstudent war. Das Geschäft florierte, und innerhalb von kurzer Zeit baute sich Herr Pahl einen festen Kundenstamm auf. Eines Tages nahm er mich jedoch beiseite und sagte so beiläufig wie möglich: «Wenn in nächster Zeit jemand anruft, den du nicht kennst, sag bitte, ich wäre nicht da, und du wüsstest nicht, wo ich in den nächsten Tagen zu erreichen bin…» Dann verschwand er.
Ich für meinen Teil malte mir panisch aus, wie zwei Herren mit dunklen Sonnenbrillen vor der Tür stehen und mir erst mal den kleinen Finger brechen würden, bevor ich einwenden könnte, dass ich gar nicht Herr Pahl sei und auch sonst von nichts, von rein gar nichts wüsste.
So weit kam es zum Glück nicht. Wahrscheinlich auch deswegen, weil Frank, als er nach ein paar Tagen wieder auftauchte, aus unerfindlichen Gründen das Bremsscheibenbusiness verliess, um sich künftig dem Vertrieb von Beluga-Kaviar zu widmen, den er in der Weihnachtszeit «Von Studenten für Studenten» am schwarzen Brett der Mensa anbot. Aber das ist eine andere Geschichte…
Frank «Porsche» Pahl ging sein Leben unorthodox, furchtlos und stets chaotisch an. Seine Familie hatte wenig Geld und konnte ihn deshalb nicht bei der Finanzierung seines Studiums unterstützen. Also wurde er kreativ und nahm jede Möglichkeit wahr, selbst Geld für seine Ausbildung zu verdienen. Bot sich eine gute Gelegenheit, nutzte er sie. Er wollte aus eigener Kraft sein Studium erfolgreich abschliessen. Um dieses Ziel zu erreichen, war er extrem flexibel und anpassungsfähig. Er plante nicht viel, sondern machte! Und er hatte kein Problem damit, kleinere, mitunter abstruse Geschäftsideen zu entwickeln, sie wieder über den Haufen zu werfen und danach neue Chancen zu ergreifen, um seinem Ziel näherzukommen. «Übertriebene Planung ersetzt nur den Zufall durch den Irrtum», sagte er einmal zu mir. Erst später erfuhr ich, dass er diesen Spruch von Albert Einstein geklaut hatte.
Ich gebe zu: Damals habe ich Frank ein wenig belächelt, mein Leben verlief so ganz anders als seins. Ich schaute nicht nach links und rechts, studierte schnell und effizient, wollte zielstrebig in der Wirtschaft Karriere machen und kam nie auf die Idee, dass mich auf diesem geraden Weg irgendetwas aus der Bahn werfen könnte. Hätte mir damals jemand gesagt, womit ich heute mein Geld verdiene, ich hätte ihn für verrückt erklärt.
Während meiner Zeit als Unternehmensberater traten die ersten Risse in meinem so perfekt geplanten Lebensentwurf auf. Nach dem irritierenden Vorstellungsgespräch beim Industriegase-Hersteller fiel mein auf Effizienz getrimmtes Kartenhaus in sich zusammen. Als mein persönlicher schwarzer Schwan in Form einer toughen Personalchefin auftauchte, verstand ich plötzlich, dass Frank mit seiner flexiblen und offenen Herangehensweise viel besser für das Leben gerüstet war als ich. Inzwischen arbeitet er übrigens sehr erfolgreich als Einkäufer eines grossen Klinikbetreibers. Sollte sich also kurz vor Ihrer OP ein Typ über Sie beugen und Ihnen einen Kühlergrill oder einen günstigen Satz Winterreifen anbieten, wissen Sie, wen Sie vor sich haben.
Die meisten Menschen sind nicht wie mein ehemaliger Mitbewohner. Scheitern und Fehlermachen sind nicht vorgesehen, Planungssicherheit und Perfektionismus haben bei uns Deutschen einen hohen Stellenwert. Nicht umsonst sind wir Weltmarktführer bei Präzisionsmessgeräten, Betonpumpen, Hundeleinen oder Zahnarztstühlen. Die deutsche Gründlichkeit ist sprichwörtlich und weltweit angesehen.
Dennoch hat dieser Perfektionsdrang eine Kehrseite. Wer nämlich mit aller Kraft versucht, Fehler zu vermeiden, wer von Anfang an Unwägbarkeiten und Überraschungen ausblendet und stattdessen eine Entwicklung von A bis Z durchplant, fährt mit seinem Perfektionsstreben nicht selten gegen die Wand. Prominentestes Beispiel sind die Kommunisten, die besessen davon waren, eine ganze Volkswirtschaft am Reissbrett zu planen. Um die Energieversorgung zu sichern, baute man im alten Russland gigantische Maschinen, die Kohle und Erz förderten. Dann verbrannte man die Kohle, um das Erz zu schmelzen, das man dann zum Bau von gigantischen Maschinen benutzte, die Kohle und Erz förderten. Ein Perpetuum mobile der Ineffizienz.
Obwohl bisher noch jede staatlich gelenkte Planwirtschaft in den Ruin führte, ist man in der Politik ganz vernarrt in den Gedanken, die Geschicke eines Landes mit unzähligen Regelungen, Gesetzen und Verordnungen flächendeckend zu planen. Was freilich nicht immer nur Nachteile hat. Sollte Deutschland je wieder auf die Schnapsidee kommen, einen Weltkrieg anzuzetteln, muss man nur Klaus Wowereit als Projektplaner einsetzen.
Inzwischen gibt es sogar gesetzlich vorgeschriebene Frauenquoten in DAX-Konzernen, mit der Folge, dass Aufsichtsratsposten bei Nichterfüllung der Quote unbesetzt bleiben. Nach dieser Logik zählt eine Frau so viel wie ein leerer Stuhl. Ich glaube, das haben sich Pionierinnen der Emanzipationsbewegung irgendwie anders vorgestellt. Wäre Martin Luther King Deutscher gewesen, hätte er höchstwahrscheinlich nicht gerufen «I have a dream», sondern «I have a plan».
«Ich weiss gar nicht, was du hast», sagte Valerie vor einiger Zeit zu mir, als sie vom Einkaufen zurückkam. «Vor einem Brückentag ist es zum Beispiel irrsinnig wichtig, vorauszuplanen.» Währenddessen verräumte sie zwölf Flaschen Listerine und Unmengen von Zahnpastatuben in unseren Spiegelschrank. Sollte irgendwann ein Atomkrieg ausbrechen und wir müssten uns drei, vier Jahre lang im Keller verbarrikadieren – wir würden den Super-GAU auf jeden Fall mit blendend weissen Zähnen überleben. Und mit der übrig gebliebenen Zahnseide könnten wir uns problemlos Socken, Pullis und warme Decken stricken.
Selbstverständlich sind Pläne wichtig. Sie dienen als Orientierungshilfen. Aber Pläne nutzen überhaupt nichts, wenn man sie nicht permanent mit der Realität abgleicht.
Vor einigen Jahren hat der Shell-Konzern eine Untersuchung durchgeführt, mit der man herausfinden wollte, welche charakteristischen Merkmale Konzerne besitzen, die sich schon 100 Jahre und länger erfolgreich auf dem Markt behaupten. Das Ergebnis der Studie war nicht weiter erstaunlich: Die langlebigen Unternehmen sind nicht diejenigen, die nach strengen planwirtschaftlichen Methoden geführt werden, sondern die, die besonders aufgeschlossen gegenüber Neuem sind, die bereit sind, kontinuierlich zu lernen und sich zu verändern. Die Grundregel für langlebigen Unternehmenserfolg heisst demnach: Pflege die Dinge, die gut funktionieren, probiere aber gleichzeitig immer etwas Neues aus.
Kein Wunder, denn Fortschritt und Innovation lassen sich eben nicht per Beschluss von oben verordnen. Die Schweden hatten jahrelang in Deutschland ein Zündholzmonopol: Welthölzer! Bedingt durch das starre Monopol war es nicht notwendig, besonders einfallsreich zu werden. Deshalb haben die Schweden auch lange Zeit nichts Brauchbares hingekriegt. Erst als ihr Monopol auslief, sind sie kreativ geworden und haben die Zündhölzer zu Möbeln zusammengeklebt. Ikea ist ein bemerkenswertes Beispiel für ein Unternehmen, das gerade nicht durch einen festen Masterplan, sondern durch flexibles Reagieren auf ungeplante Ereignisse gross geworden ist. Streiks von Lieferanten führten dazu, dass man sich entschloss, eine eigene Möbelkollektion zu entwerfen. Transportprobleme dazu, dass man flache Verpackungen einführte. Überforderte Mitarbeiter waren der Grund für die Einführung des Selbstbedienungskonzepts. Ikea ist deswegen erfolgreich, weil es charakteristisch für die Ergebnisse der Shell-Studie ist: Plane sorgfältig, sei stets offen für Überraschungen, passe dich den äusseren Umständen an, steige vom Pferd ab, wenn es tot ist. Alles Eigenschaften (bis auf die erste vielleicht), mit denen wir Deutschen uns nachweislich schwerer tun als andere Nationen. Wenn in Deutschland ein Mitarbeiter eine unorthodoxe Geschäftsidee oder ein revolutionäres Produkt vorschlägt, aber zu fünf Prozent irrt, dann nageln wir ihn gerne bei diesen fünf Prozent fest, anstatt den guten Gedanken darin aufzunehmen. Und das ist sogar wissenschaftlich bestätigt. Der Managementforscher Michael Frese untersuchte die Toleranz gegenüber Fehlern in 61 verschiedenen Industrieländern. Das Ergebnis ist niederschmetternd: Deutschland lag in dieser Vergleichsstudie auf dem vorletzten Platz, knapp vor Singapur.
«Na und?», sagt Jürgen, mein Controller-Freund, während er sein Altpapier auf DIN A4 faltet und sorgfältig abheftet. «Wir haben halt einen Hang zum Perfektionismus. Das ist doch nicht schlimm!» DOCH! Denn oft hat unsere Fehlerintoleranz weniger mit dem Drang nach Perfektion zu tun, sondern mit purer, nackter Angst.
Mir fällt das immer auf, wenn ich für das öffentlich-rechtliche Fernsehen arbeite. Vor jedem Dreh muss auf jeder noch so unverfänglichen Verpackung akribisch der Markenname abgeklebt werden, damit man sich nicht dem Verdacht der Schleichwerbung aussetzt. Selbst bei einer Coca-Cola-Dose, die aufgrund ihrer typischen Farbgebung aus 30 Metern Entfernung problemlos als Coca-Cola-Dose erkennbar ist, muss das sein. Einmal wurde sogar diskutiert, das Wasser aus einer Mineralwasserflasche auszuleeren und durch Leitungswasser zu ersetzen, damit man keinesfalls erkennt, dass es sich um Evian handelt.
Redet man mit den Redakteuren über diese absurden Anweisungen, erfährt man: Es sind oft gar nicht ihre eigenen Ängste und Bedenken, sondern sie versuchen, mögliche Einwände anderer vorwegzunehmen, und steigern sie in ein unermessliches Horrorszenario. «Also ICH habe natürlich überhaupt kein Problem mit dem Evian-Wasser, aber wenn dann jemand einen Leserbrief schreiben würde, und die Sekretärin vom Intendanten würde den lesen und daraufhin ihrem Chef erzäh…» – Mannmannmann!
So kommen in vielen TV-Redaktionen auf zwei Leute, die gute Ideen haben, gefühlt 200, die dafür sorgen, sie zu verhindern. «Tut mir leid, das kann ich nicht entscheiden», heisst es dann oft. «ICH würde ja gerne, aber das fällt nicht in meinen Kompetenzbereich.» Hätten das mal mehr Deutsche vor 80 Jahren gesagt, als es hiess: «Auf nach Stalingrad!» «Oh, tut mir leid. Das kann ich nicht entscheiden. In dem Gebiet kenne ich mich auch gar nicht aus…»
Ich bin mir sicher, hätte man den Öffentlich-Rechtlichen «Der weisse Hai» als Drehbuch angeboten, hätte ein zwanzigköpfiges Gremium nach vier Monaten entschieden: «Okay, machen wir. Aber nur, wenn die Geschichte am Bodensee spielt und der Fisch mit Jan Josef Liefers besetzt wird.»
Einer Studie des Global Entrepreneurship Monitors von 2010 zufolge können sich nur vier Prozent aller deutschen Erwerbstätigen vorstellen, ein Unternehmen zu gründen. Mehr als 40 Prozent der Befragten nannten die Angst vor dem Scheitern als Hauptgrund, es nicht zu tun. Wer dagegen im Silicon Valley nicht zwei, drei Start-ups in den Sand gesetzt hat, wird dort gar nicht erst ernst genommen. Wer wiederum in Deutschland mit einer Geschäftsidee scheitert, dem nimmt der negative SCHUFA-Eintrag jegliche weitere Chance auf einen Neubeginn.
Während der Staat in den USA, in Israel oder China innovativen Hightech-Nerds eine Plattform für ihre Gründerideen bietet, überlegen sich deutsche Startupper lieber, sich mit einer flippigen Steuerkanzlei selbständig zu machen. Seit 1990 hat sich die Anzahl der Steuerberater fast verdoppelt. Was könnten all diese vielen intelligenten Menschen für unser Land leisten! Sie könnten ein Krebsmedikament erfinden, eine revolutionäre App oder eine neue Energieform. Doch wofür verschwenden sie ihren Kopf? Für Beitragsbemessungsgrenzen, Abschreibungen, Freibeträge und ähnlichen Kokolores.
Dabei stecken doch Gründergeist und Lust an der Innovation in uns Deutschen! Vor einigen Jahren hatte ich die Gelegenheit, mich lange mit Artur Fischer zu unterhalten, dem Erfinder des Fischer-Dübels und dem Inhaber von über tausend weiteren Patenten. Zum Zeitpunkt unseres Zusammentreffens war Herr Fischer bereits 94 Jahre alt, strotzte aber immer noch vor Ideen und hatte keinerlei Angst vor dem Scheitern. «Wissen Sie, Herr Ebert», gestand er mir mit einem verschmitzten Lächeln, «vieles, was ich in meinem Leben erfunden habe, war ziemlicher Unsinn. Einmal habe ich einen vollautomatischen Eierköpfer konstruiert. Und wissen Sie, was ich dabei vergessen habe? Dass sich Hühner konsequent weigern, gleich grosse Eier zu legen.»
Natürlich birgt jede unternehmerische Entscheidung immer ein gewisses Risiko. Doch ohne dieses Risiko gibt es keinen Fortschritt. Wissen Sie, was iFart ist? Das war eine Zeitlang eine der erfolgreichsten Apps für das iPhone. Und alles, was diese App konnte, war, Furzgeräusche zu imitieren. Und nun stellen Sie sich einen Mitarbeiter in Ihrem Unternehmen vor, der bei einem Innovationsworkshop die Idee für ein solches Produkt präsentiert. Würden Sie seinen Vorschlag weiterverfolgen? Wohl nicht. Die Idee ist dumm, albern und kindisch – aber äusserst erfolgreich.
Sie hätte natürlich auch komplett in die Hose gehen können, im wahrsten Sinne des Wortes. Aber wer erfolgreich sein will, wer Neues und Überraschendes entwickeln möchte, kommt eben nicht umhin, Fehlschläge in Kauf zu nehmen.
Wenn ich als Kind Mist gebaut hatte, sagte meine Oma immer zu mir: «Bub, aus Fehlern lernt man!» Denn selbst die perfekteste Planung kann nicht vorhersehen, ob aus einer Sache etwas wird. Die erfolgreichste amerikanische Sitcom «Seinfeld» fiel bei Testzuschauern durch und kam nur deswegen überhaupt ins Programm, weil zufälligerweise ein Sendeplatz in den Ferien frei wurde.
Als Ford den Minivan herstellen wollte, führten sie eine Kundenbefragung durch. Keiner wollte ihn. Sein Erfinder Hal Sperlich war daraufhin so genervt, dass er zu Chrysler wechselte. Dort wurde der Van trotz der schlechten Marktforschungsergebnisse gebaut – und entpuppte sich als Megaseller.
Ende der siebziger Jahre sickerte durch, dass Sony einen tragbaren Kassettenrekorder plant. Alle deutschen Sony-Manager haben gesagt: Das wird sich nicht durchsetzen! «Aber sie haben doch recht gehabt», meinte Jürgen, als ich ihn mit diesem Beispiel von meiner Sichtweise überzeugen will. «Wer bitte schön benutzt heute noch einen Walkman?»
Was all diese Erfolge gemein hatten: Sie wurden vom Testpublikum nicht deswegen abgelehnt, weil sie schlecht waren, sondern weil sie neu und anders waren. Genau an diesem Punkt versagt nämlich klassische Marktforschung. Konsumenten wissen oft nicht, was sie wollen. Niemand stimmte jemals über den Buchdruck oder über elektrischen Strom ab, über Autos, Flugzeuge, Penicillin oder die Pille. Doch als die Dinge auf dem Markt waren, konnten sich die Menschen nichts Tolleres vorstellen.
Ich behaupte sogar: Wer intensiv Marktforschung betreibt, hat vor allem Angst. Man fürchtet sich davor, eine kühne Idee zu produzieren, die gnadenlos abstürzen könnte. Sam Phillips, der Produzent von Sun Records, sagte dazu: «Immer wenn du denkst, du wüsstest jetzt, was die Leute wollen, weisst du in Wahrheit nur, dass dich ein Idiot anschaut, wenn du das nächste Mal vor den Spiegel trittst.»
Deswegen beauftragt man lieber ein Marktforschungsinstitut. Wenn die Sache dann floppt, kann man ihm wenigstens die Verantwortung zuschieben. Am gängigsten ist dieses Prozedere bei Radiosendern. Dort wird buchstäblich jeder Song vorab von Testhörern abgesegnet. Genau aus diesem Grund jagen sämtliche Radiosender von hier bis Trier dieselben müden «Hits der 80er, 90er und das Beste von heute!» über den Äther. Hysterisch-aufgekratzte Radiomoderatoren terrorisieren täglich ab 5.30 Uhr die Nation mit guter Laune und dämlichen Kartenverlosungen für das «Kleinste Konzert der Welt» oder die grosse «Discoparty in Hanau-Bruchköbel». Dazwischen gibt’s die besten Hits von Jon Bon Jovi, James Blunt, Jon Bon Jovi und James Blunt. Alle paar Monate wagt man ein vollkommen verrücktes Experiment, mischt einen brandneuen Kracher-Hit in die Heavy Rotation und feiert die Sülze am Mikrophon ab, als hätte man gerade das Rad erfunden. «Heute für euch – James Blunt mit einer unplugged-Version von Jon Bon Jovis Hit ‹It’s My Life›! – Bleibt dran!» Trotzdem gilt in vielen Unternehmen nach wie vor das Mantra, den Kunden haarklein nach seinen Bedürfnissen und Wünschen zu befragen. Doch schon Henry Ford wusste: «Wenn ich die Menschen gefragt hätte, welches Fortbewegungsmittel sie haben wollen, hätten sie gesagt: schnellere Pferde.»
Der Grund, weshalb planwirtschaftlich gelenkte Organisationen so innovationsträge, einfallslos und unflexibel sind, ist nicht, dass es in diesen Organisationen keine klugen Menschen gibt. Vielmehr ist das System an sich unfähig, mit Experimenten umzugehen und gegebenenfalls Fehler zuzulassen. Man versucht aus panischer Angst vor dem Scheitern, jedes noch so kleine Risiko zu vermeiden, und dabei realisiert man nicht, dass man sich gerade dadurch die grössten Chancen und Möglichkeiten verbaut.
Ich finde, da können wir uns von den Amerikanern etwas abschauen. Während wir Deutschen gerne über eine perfekte Lösung grübeln, sagen die sich: Wir machen einfach! Statt einem «Yes! We! Can!» sagen wir im Zweifel: «Ach, lass ma…»
«Jeder Tag ist ein Geschenk!», ruft der Amerikaner. Und der Deutsche antwortet: «… aber scheisse verpackt.»
1961 trat John F. Kennedy vor sein Volk und sagte: «Innerhalb dieser Dekade fliegen wir auf den Mond.» Das war die Vision. Mehr gab JFK nicht vor. Und acht Jahre später haben die das dann gemacht! Praktisch ohne Computertechnologie und ohne vorgegebene Organisationsstrukturen. Doch genau diese Offenheit setzte bei allen Beteiligten den unbedingten Willen und den nötigen Pioniergeist frei, um dieses grosse Ziel zu erreichen. Heute sitzen in Deutschland bei jedem Miniprojekt 20 Controller und 50 Juristen, die jede mögliche Gefahr und jedes noch so klitzekleine Risiko prüfen. Und eine Gleichstellungsbeauftragte sorgt dafür, dass dabei alles politisch korrekt zugeht. So fliegst du nicht auf den Mond. So fliegst du nicht mal von Berlin aus irgendwohin.
Wer überall nur Risiken sieht und Bedenken vor sich herträgt, züchtet sich eine Gesellschaft von Angsthasen und Weicheiern heran. «Stammzellenforschung? – zu unberechenbar», sagen die Kirchen. «Gentechnik? – viel zu gefährlich!», sagt Greenpeace. «Fracking? – och nö, ich trag’ lieber Jeans und T-Shirt…», sagt mein Nachbar. Doch seien wir mal ehrlich: Diese Vollkaskomentalität ist nicht besonders sexy. Wir Deutschen sind vermutlich die einzigen, die vor einem Abenteuerurlaub eine Reiserücktrittsversicherung abschliessen.
Statt sich flexibel und offen auf die Herausforderungen von morgen einzulassen, statt anzupacken und das Risiko einzugehen, scheitern zu können, schmieden wir lieber im stillen Kämmerlein einen grossen, allumfassenden Plan. Und wenn sich der Plan nicht erfüllt, lag es wenigstens nicht an uns, sondern daran, dass sich diese blöde Realität aus unerfindlichen Gründen nicht an unsere penibel ausgearbeitete Theorie gehalten hat. Im Grunde ist jede planwirtschaftliche Idee eine Utopie. Das Problematische an utopischen Ideen ist jedoch, dass sie nicht realisierbar sind. Fast alle Utopien ignorieren grundsätzliche menschliche Verhaltensweisen und meist sogar fundamentale physikalische oder ökonomische Gesetze. Utopische Projekte genügen sich dadurch, dass sie unerreichbare Ziele setzen, an die viele dennoch glauben: Weltfrieden, saubere und gleichzeitig billige Energie, das Ende des Kapitalismus, der Mensch im perfekten Gleichgewicht mit der Natur.
Utopien sind ein bisschen wie eine Gruppe von Personen, die sich zu einer gemeinsamen Reise nach Australien entschliesst, ohne sich über das Fortbewegungsmittel Gedanken zu machen. Und nach fünf Jahren wundern sich alle, dass sie immer noch im Odenwald herumstehen.
Im Gegensatz zu Utopien sind Visionen etwas völlig anderes. Visionen sind Ideen, die eindeutig realisierbar sind und gleichzeitig tiefe Sehnsüchte in uns wecken. Sie rufen ein Bedürfnis hervor, das uns vorher vollkommen unbekannt war. Oder hätten Sie vor 20 Jahren gedacht, es würde Menschen Spass machen, mit einer Fernbedienung wie ein Irrer vor einem Bildschirm herumzufuchteln und imaginäres Tennis zu spielen?
Wer sich ständig an Planzahlen und Exceltabellen hält, wer Risiken minimieren möchte und alles Unberechenbare wegrationalisiert, der erfindet keine Wii, kein RedBull, keine Glühbirne und keinen Porsche 911 – und erst recht keine clevere Energieversorgung für die Zukunft. Nur Träumer und Visionäre mit einer kindlich-naiven Weltsicht bringen solche Ideen hervor. Wenn zentrale Planung und Bürokratie je etwas Innovatives zustande gebracht hätten, dann läge das Silicon Valley nicht bei San Francisco, sondern in der Nähe von Brüssel.
Bei unserer vollkaskoversicherten Lebensplanung vergessen wir oft, was die Voraussetzung für wirkliche Freude ist: das Misslingen. Wie haben Sie Fahrrad fahren gelernt? Indem Sie nach dem Hinfallen immer wieder aufgestanden sind. Wahre Freude erleben wir nur nach Anstrengungen, nach Grenzüberschreitung und nach dem Eingehen von Risiken. «Innerhalb dieser Dekade fliegen wir auf den Mond.» Natürlich können wir auf die Fresse fliegen. «Na und?», sagte mein alter WG-Kumpel Frank dann immer. «Schrammen sind sexy. Angstschweiss nie.»