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Wie legitim ist das Völkerrecht?

Debatte (II) Erwiderung auf das staaspolitische Gutachten von Robert Nef

«Soll Völkerrecht Landesrecht brechen?» Diese Frage hat der Jurist Robert Nef in einem staatspolitischen Gutachten aufgeworfen.* Demokratisch schlechtlegitimiertes Völkerrecht droht ihm zufolge die demokratisch verankerte Landesgesetzgebung auszuhöhlen. Wir bringen den zweiten Teil der Erwiderung der Völkerrechtsprofessorin Anne Peters.

 

1. Völkerrecht soll dem Landesrecht nur dann vorgehen, wenn das Völkerrecht seinerseits legitim ist, das heisst, wenn es demokratischen und rechtsstaatlichen Standards genügt. Damit sind wir bei der Frage der demokratischen Legitima-tion völkerrechtlicher Verträge – und der Legitimation der zu deren Anwendung eingesetzten Institutionen, insbesondere der Gerichte.

Vielfach wird darauf hingewiesen, dass die (demokratische) Legitimation des Völkerrechts eine vermittelte sei: die in den internationalen Gremien verhandelnden Exekutiven und die Staatenvertreter in den internationalen Institutionen sind ihren Parlamenten und damit auch den Bürgern der beteiligten demokratischen Staaten indirekt verantwortlich. Die bloss mittelbare demokratische Legitimation des Völkerrechts über die demokratischen Staaten ist aus mehreren Gründen schwach. Es wäre jedenfalls naiv zu behaupten, dass die Verträge eine ebensostarke demokratische Basis besitzen wie ein Gesetz der Bundesversammlung. Denn bei der Genehmigung der Verträge hat das Parlament im wesentlichen eine Absegnungsrolle und kann nicht aktiv gestalten.

Der Mangel an demokratischer Legitimation wird verstärkt, wenn ein völkerrechtlicher Vertrag seinerseits Institutionen (Konferenzen der Mitgliedstaaten, Agenturen, Ausschüsse usw.) einsetzt, die den Vertrag dynamisch weiterentwickeln, Sekundärrecht setzen und hier eventuell Mehrheitsentscheide treffen können, in denen ein Vertragsstaat überstimmt werden kann. Im modernen Völkerrecht wird diese institutionelle Dynamik immer häufiger; gleichzeitig greifen die Verträge und das auf ihrer Basis entwickelte Recht immer stärker in das Alltagsleben von Personen ein. Die ursprünglich gegebene und parlamentarisch abgesicherte Zustimmung des Vertragsstaates zur Bindung an den Ausgangsvertrag erscheint dann als ein Blankocheck, der zur konkreten Legitimation der sich daraus entwickelnden Regierungstätigkeit nicht viel beitragen kann.

Bei aller Kritik am relativ undemokratischen Völkerrecht muss jedoch beachtet werden, dass die Demokratie auf nationaler Ebene bereits durch vom Völkerrecht und den internationalen Institutionen unabhängige Faktoren unterminiert worden ist. Aufgrund der ökonomischen und sonstigen Verflechtung der Staaten haben viele politische Massnahmen eines Staates extraterritoriale Auswirkungen auf die Bürger anderer Staaten, ohne dass diese ein demokratisches Mitspracherecht bei diesen Entscheidungen hätten. Das Paradebeispiel ist die Entscheidung über den Bau eines Kernkraftwerkes in Grenznähe. Ein weiteres Beispiel wäre die Schaffung attraktiver Wirtschaftsstandorte, die Kapital aus anderen Staaten anziehen, ohne dass die Arbeitnehmer in diesen Staaten in normalen demokratischen Prozessen hiergegen etwas unternehmen könnten.

2. Die von Robert Nef in These 10 verteufelte Weltdemokratie ist aus diesem Grund langfristig unabweisbar, wenn sie auch nicht in der von ihm zu Recht kritisierten Tyrannei der Mehrheitsvölker der Welt über die Bewohner kleiner Staaten bestehen darf. Demokratie auf Weltebene müsste eine duale sein, in der sowohl die Staaten selbst intern als auch daneben auf überstaatlicher Ebene die zwischenstaatlichen Mechanismen demokratisiert würden. Dies müsste einerseits durch den Abbau der momentan existierenden international-oligarchischen Strukturen (wie beispielsweise der privilegierten fünf ständigen Sicherheitsratsmitglieder) geschehen, und anderseits durch die Schaffung von Partizipationsmechanismen für Einzelpersonen an der übernationalen Rechtsetzung ohne Vermittlung ihrer Heimatstaaten, beispielsweise durch den Ausbau parlamentarischer Versammlungen mit starken Kompetenzen in internationalen Organisationen.

3. Es müssen Techniken weiterentwickelt werden, um dem von Robert Nef angesprochenen kulturellen Pluralismus der Staaten Rechnung zu tragen. Ansätze hierfür sind in der völkerrechtlichen Dogmatik vorhanden. So können Staaten − innerhalb gewisser Grenzen − Vorbehalte zu völkerrechtlichen Verträgen anbringen, mit denen sie sich aus gewissen Vertragspflichten punktuell ausklinken können.

Die internationalen Gerichte, allen voran der Europäische Menschenrechtsgerichtshof (EGMR), gewähren den Staaten einen Beurteilungsspielraum (marge d’appréciation) bei der Anwendung des Vertrages. Der EGMR respektiert diesen Spielraum insbesondere in bezug auf Probleme, zu denen sich noch kein europäischer Konsens herausgebildet hat, zum Beispiel bis vor kurzem in bezug auf die Adoption durch homosexuelle Paare. Dadurch trägt das Gericht den unterschiedlichen gesellschaftlichen Auffassungen Rechnung.

Der Nachrang der internationalen Instanzen zeigt sich ferner in dem Erfordernis, den nationalen Rechtsweg auszuschöpfen, woran ein Grossteil aller Beschwerden von Einzelpersonen vor den internationalen Gerichten und Ausschüssen bereits scheitert. Schliesslich darf der Internationale Strafgerichtshof nur tätig werden, wenn die Vertragsstaaten ein in seine Zuständigkeit fallendes Verbrechen nicht verfolgen wollen oder können. Alle diese Rechtsinstitute kann man als Ausprägungen eines völkerrechtlichen Subsidiaritätsgrundsatzes interpretieren, der somit bereits sehr wohl völkerrechtlich verankert ist – um Robert Nefs Forderung anzusprechen.

4. Robert Nef fordert in seiner These 2, dass gegen den «Zentralismus» durch die Übertragung von Kompetenzen auf internationale Institutionen «politische Gegenstrategien» zu entwickeln seien. Die machtvollste politische Gegenstrategie ist uralt, nämlich die Berufung auf die nationale Souveränität. Es ist jedoch irreführend, immer nur von Souveränitätseinbussen durch Völkerrecht zu sprechen. Durch die Mitwirkung in internationalen Organisationen gewinnen die Teilnehmer Handlungsspielräume, die sie durch die Globalisierung verloren haben. Wichtige Probleme, angefangen von Migration über Klimaschutz und Seucheneindämmung bis hin zur Terrorismusbekämpfung, sind nicht im nationalen Alleingang lösbar.

Souveränität, verstanden als Handlungsfreiheit, ist kein Nullsummenspiel. Durch die Aufgabe von Alleinentscheidungsbefugnissen und die Einbindung in internationale Regime kann auch eine modifizierte Form von Handlungsfreiheit gewonnen werden.

5. Eine Strategie der flexiblen Infragestellung des Völkerrechts «von unten» ist der nach einem Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts benannte und international bekannte «Solange»-Ansatz. In einer Entscheidung aus den 1970er Jahren behielt sich hier das deutsche Höchstgericht eine Kontrolle von Akten der Europäischen Union (EU) im Hinblick auf deren Vereinbarkeit mit (deutschen) Grundrechten vor, und zwar «solange», bis die EU selbst einen adäquaten Grundrechtsschutz eingeführt habe. Dieser deutsche Vorbehalt hat in einem längeren dialektischen Prozess, der nicht frei von Spannungen und Konflikten war, zu einer erheblichen Verbesserung des Grundrechtssystems der EU geführt.

Ironischerweise opponiert jetzt der Europäische Gerichtshof in Luxemburg (EuGH) in gleicher Weise, sogar noch schärfer, gegen die vom UN-Sicherheitsrat verhängten Sperrungen der Konten von Terrorismusverdächtigen. Der EuGH hat in einem Urteil vom September 2008 die europäischen Verordnungen, mit denen UN-Sanktionsbeschlüsse umgesetzt werden sollten, für im internen Rechtsraum der EU nichtig erklärt, weil die Erwähnung auf den schwarzen Listen der UNO den europäischen Garantien eines fairen Verfahrens nicht genügt und weil es keinen gerichtlichen Rechtsschutz auf UN-Ebene hiergegen gibt. Das schweizerische Bundesgericht war hier übrigens kompromissbereiter und hat im Interesse der internationalen Zusammenarbeit die UN-Sicherheitsratsresolutionen trotz ihren rechtsstaatlichen Mängeln als verbindlich anerkannt, solange diese nicht zwingendes Völkerrecht verletzen.

6. Robert Nef kritisiert in seinem Gutachten ein «verfehltes Menschenrechtspathos». Bereits ein juristischer Vordenker des Dritten Reiches äusserte das Diktum «Wer Menschheit sagt, will betrügen». (Carl Schmitt: «Der Begriff des Politischen». Berlin: Duncker & Humblot, 1932. S. 55 mit Verweis auf Proudhon). Carl Schmitt wollte damit andeuten, dass die Berufung auf universelle Werte notwendigerweise heuchlerisch ist und in den zwischenstaatlichen Beziehungen typischerweise eigene machtpolitische und strategische Interessen verschleiern soll. Hieran ist richtig, dass humanitäre Argumente missbrauchsanfällig sind und in der Geschichte insbesondere die sogenannte humanitäre Intervention missbraucht worden ist. Diese Missbrauchsgefahr hat jedoch nichts mit der Möglichkeit oder Unmöglichkeit universeller Werte zu tun.

Zwar hat Robert Nef damit recht, dass universelle Menschenrechte nicht aus einer völkerrechtlich zu definierenden Natur des Menschen abgeleitet werden können. Dies liegt aber nicht an der «multikulturellen-pluralistischen Welt», sondern an der Sein-Sollen-Differenz. Rechte, als Dimen-sion des Sollens, können nicht logisch aus dem Sein abgeleitet werden, ohne dass man einen naturalistischen Fehlschluss begeht. Zentrale Menschenrechte können aber mit dem empirisch feststellbaren, allerdings sehr schmalen und vagen universellen Wertekonsens begründet werden.

Der letzte Bezugspunkt politischer Legitimation auch des Völkerrechts sind nicht Staaten, sondern ist der einzelne Mensch und dessen Wohlergehen, so wie er es selber als letzte Autorität über seine Bedürfnisse und Wünsche definiert.

 

* Das Gutachten kann unter www.schweizermonatshefte.ch (unter «Sonderpublikationen») heruntergeladen oder bestellt werden.

Anne Peters, geboren 1964, ist Professorin für Völker- und Staatsrecht an der Universität Basel. Der erste Teil ihrer Entgegnung ist in der Ausgabe 970 der «Schweizer Monatshefte» erschienen. Robert Nef wird in der nächsten Ausgabe auf ihren Beitrag antworten.

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