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Wie Innovation entsteht

Erfindungen lassen sich nicht planen, sondern entwickeln sich oft aus Zufällen – und der Mensch rennt eher hinterher als voraus.

Wie Innovation entsteht
Matt Ridley, photographiert von Philipp Baer.

Innovation ist eine mysteriöse Angelegenheit. Technologien scheinen sich in einem kaum zu beeinflussenden, evolutionären Prozess fortzuentwickeln, den wir wahrscheinlich nicht bremsen können – und auch nicht wirklich beschleunigen. Er ist auch nicht unbedingt das Ergebnis von Wissenschaft. Die meisten technologischen Durchbrüche gelingen tüftelnden Technikern, nicht Wissenschaftern, die Hypothesen nachjagen. So unverschämt das klingen mag, «Grundlagenwissenschaft» ist nicht annähernd so produktiv, wie wir glauben.

Stellen Sie sich vor, Thomas Edison wäre an einem elektrischen Schock gestorben, bevor er sich Glühbirnen ausdachte. Hätte die Zeit einen völlig anderen Lauf genommen? Natürlich nicht. Nicht weniger als 23 Menschen haben sich bereits vor Edison um die eine oder andere Version der Glühbirne verdient gemacht, wie eine entsprechende Chronik der Autoren Robert Firedel, Paul Israel und Bernard Finn festhält.

Dasselbe gilt für andere Erfindungen. Elisha Gray und Alexander Graham Bell haben an ein und demselben Tag ein Patent für einen Telefonapparat angemeldet. Als Google 1996 auf der Bildfläche auftauchte, gab es bereits Dutzende von Suchmaschinen. Wie der Autor Kevin Kelly in seinem Buch «What Technology Wants» festhält, haben sechs verschiedene Leute das Thermometer erfunden, drei die medizinische Spritze, vier die Impfung, fünf den Telegrafen, vier die Fotografie, fünf das Dampfschiff, sechs die elektrische Eisenbahn. Die Geschichte der Innovation, so schreibt der Historiker Alfred Kroeber, ist «eine endlose Kette von Gleichzeitigkeiten».

Das gilt in den Wissenschaften genauso wie bei Technologien. Was Englischsprachige «Boyle’s Gesetz» nennen – das Verhalten von Gasen unter Druck –, heisst bei Frankophonen «Mariotte’s Gesetz». Isaac Newton hatte einen veritablen Wutanfall, als Gottfried Leibniz – völlig zu Recht – behauptete, seine mathematischen Analysen völlig eigenständig entwickelt zu haben. Charles Darwin wurde zur Publikation seiner Theorie inspiriert von Alfred Russel Wallace, der exakt dieselben Ideen nach der Lektüre exakt desselben Buches entwickelt hatte, Thomas Malthus’ «Betrachtungen zur Demographie».

 

Menschen treiben die Welle nicht, sie reiten sie höchstens

Technologie entwickelt zunehmend jene Art von Autonomie, die wir sonst von biologischen Wesen her kennen. Stanford-Ökonom Brian Arthur behauptet, dass Technologien sich selber organisieren, sich fortpflanzen und sich an ihre Umwelt anpassen können – und deswegen als lebende Organismen betrachtet werden können. Jedenfalls auf dieselbe Art, wie ein Korallenriff ein lebendes Ding ist. Technologien können nicht existieren ohne die Hilfe von Tieren (also Menschen), um gebaut und unterhalten zu werden, dasselbe gilt aber auch für ein Korallenriff. Und wer weiss, wann das für Technologie nicht mehr länger gelten wird, ohne uns sie sich selber ausbauen und erhalten kann? Für den Wissenschaftsautor Kevin Kelly ist das «Technium» – sein Name für den sich herausbildenden Organismus, den unsere kollektive Maschinerie hervorbringe – bereits ein «sehr komplexer Organismus, der oft seinen eigenen Impulsen folgt». Es «will, was jedes lebende System will: sich selbst erhalten».

2010 hatte das Internet etwa so viele Hyperlinks wie ein Hirn Synapsen. Heute kommt ein beachtlicher Teil des Geflüsters in der Cybersphäre von automatisierten Programmen wie etwa Handelsalgorithmen statt von Menschen. Es ist bereits unmöglich, das Internet auszuschalten.

Die Folgen dieser neuen Betrachtungsweise von Technologie – als autonomes, sich weiterentwickelndes Wesen – sind dramatisch. Menschen sind Schachfiguren in einem Fluss. Wir treiben die Innovationswelle nicht voran, wir reiten sie höchstens. Technologie wird sich ihre Erfinder suchen und nicht umgekehrt. Ausser vielleicht die Hälfte der Bevölkerung wegzusperren, können wir kaum etwas tun, um ihren Fortschritt aufzuhalten. Vielleicht funktioniert nicht einmal das.

Dazu kann uns die Geschichte der technologischen Prohibition einiges lehren. Die Ming-Chinesen beispielsweise verboten grosse Schiffe, die Shogun-Japaner Waffen, die mittelalterlichen Italiener die Seidenspinnerei, die USA der 1920er den Alkohol. Manche dieser Barrieren bleiben eine lange Zeit bestehen – drei Jahrhunderte im Falle Chinas und Japans –, irgendwann aber brechen sie zusammen, solange es den Wettkampf gibt. Denn anderswo in der Welt entwickeln sich Technologien weiter.

 

Schluss mit Heldengeschichten

Heute ist die Vorstellung unmöglich, dass Softwareentwicklung je einfach aufhören würde. Irgendwo in der Welt wird eine Nation weiter Programmierer beschäftigen, selbst wenn jemand, beispielsweise die UNO, ein Verbot mit aller Kraft durchzusetzen versuchen würde. Schon alleine eine solche Idee ist absurd, was genau mein Punkt ist.

Etwas einfacher ist der Kampf gegen den Fortschritt bei grossflächigen Technologien, die einiges an Investitionen und nationaler Regulierung bedürfen. So hat es Europa beispielsweise zwei Jahrzehnte lang einigermassen erfolgreich geschafft, die Genmodifikation von Saatgut im Namen der Vorsicht zu bremsen, und es sieht aus, als würde ihm dasselbe bei dem in Tonsteinen gespeicherten Schiefergas gelingen. Aber selbst hier: es ist hoffnungslos, diese Technologien auf globale Sicht stoppen zu wollen.

Und wenn sich technologischer Fortschritt nicht stoppen lässt, dann lässt er sich vielleicht nicht einmal steuern. In den Worten Kellys: «Das Technium will, was die Evolution angefangen hat.» Technologischer Wandel ist ein viel willkürlicherer Prozess, als wir es wahrhaben wollen. Verabschieden wir uns von der revolutionären Heldengeschichte des einen Erfinders – und begrüssen wir Innovation als nicht zu bändigende, sprunghaft wandernde Kraft.

Die Gleichzeitigkeit von Entdeckungen bedeutet, dass sowohl Patente als auch Nobelpreise fundamental unfair sind. Tatsächlich wird kaum je ein Nobelpreis vergeben, ohne dass danach eine ganze Reihe von Individuen mit ziemlich gutem Grund bitter enttäuscht sind.

Patente und Urheberrechte sprechen einzelnen Personen viel zu viel Verdienst und Anerkennung zu. Ursprünglich war der Sinn von Patenten denn auch nicht, Erfinder mit Monopolgewinnen zu belohnen, sondern sie dazu zu ermuntern, ihre Entdeckungen öffentlich zugänglich zu machen. Ein gewisses Mass an intellektuellem Urheberschutz ist deswegen auch schlicht und einfach notwendig. Aber inzwischen geht die Entwicklung zu weit: bei den meisten Patenten geht es heute mindestens so sehr darum, Monopole zu verteidigen und Konkurrenten abzuschrecken, wie darum, Ideen zu teilen. Und das behindert Innovation.

Selbst die ausführlichste Patentanmeldung enthält nicht genug Informationen, als dass ein anderer sich durch das Labyrinth möglicher Experimente kämpfen könnte. Eine konkrete Studie zu Lasern stellte fest, dass die Muster und schriftlichen Berichte ziemlich ungeeignet waren, um andere Leute einen solchen Laser nachbauen zu lassen: Sie hätten selber hingehen und mit den Urhebern sprechen müssen, um eine Chance zu haben. Auf diese Weise sorgen Patente nicht für eine Offenheit, wie sie es eigentlich sollten, sondern stehen dem Fortschritt im Weg.

Der Ökonom Edwin Mansfield von der University of Pennsylvania hat die Entwicklung von 48 chemischen, pharmazeutischen, elektronischen und Maschinengütern im New England der 1970er Jahre studiert. Dabei stellte er fest, dass Unternehmen alleine für das Nachbauen von Produkten 65 Prozent so viel Geld und 70 Prozent so viel Zeit einsetzen mussten wie für die Erfindung eines neuen Produkts. Und hier ging es um Spezialisten mit technischem Wissen. Selbst mit völliger Freiheit also würden Firmen immer noch Neuland zu erobern versuchen. Kommerzielle Unternehmen betreiben Grundlagenforschung, weil sie wissen, dass sie ihnen das implizite Wissen verschafft, um Innovation voranzutreiben.

 

Ausprobieren, bis es gelingt

Politiker glauben gerne, dass man Innovation anstellen und ausschalten kann wie einen Wasserhahn: Man beginnt mit reinen wissenschaftlichen Erkenntnissen, die man dann in angewandte Wissenschaft übersetzt, die wiederum in Technologien mündet. Entsprechend ist es die Pflicht eines patriotischen Gesetzgebers, einen ständigen Geldfluss zu den Wissenschaftern ganz zuoberst in ihren Elfenbeintürmen sicherzustellen, und – hoppla! – schon  klimpern Technologien am Fuss dieses Turms aus den Leitungen.

Diese lineare Vorstellung, wie Wissenschaft Innovation und Fortschritt fördert, lässt sich zurückverfolgen bis zu Francis Bacon. Der Philosoph und Staatsmann drängte im 17. Jahrhundert England dazu, den Portugiesen in ihrer Wissenschaftsfreundlichkeit nachzueifern, um Entdeckungen und Wohlstandsgewinne zu fördern. Angeblich soll Portugals Prinz Heinrich der Seefahrer im 15. Jahrhundert stark in Kartografie, Schifffahrtskunde und Navigation investiert haben, was zu den Entdeckungsreisen in Afrika und grossen Handelsgewinnen geführt haben soll. Das wollte Bacon nachmachen.

Neuere Erkenntnisse allerdings entlarven die Erzählung als Mythos oder vielmehr als Propaganda von Prinz Heinrich. Wie viele andere Innovationen auch, entwickelten sich Portugals Seefahrerkünste über Versuche und Fehlversuche der Seefahrer, nicht dank Spekulationen der Astronomen und Kartografen. Wenn schon, dann waren es eher die Bedürfnisse der Abenteurer, die die Wissenschaft nach sich zogen, nicht umgekehrt.

Der Biochemiker und Ökonom Terence Kealey illustriert mit diesem Beispiel, wie das zitierte lineare Dogma, das in der Welt der Wissenschaft und der Politik so verbreitet ist – Wissenschaft führt zu Innovation, die zu Handel führt –, mehrheitlich falsch ist. Es zeichnet ein falsches Bild davon, wie Innovation wirklich entsteht: nämlich im allgemeinen eben genau andersherum.

Wer sich die Geschichte der Innovation anschaut, stellt immer und immer wieder fest, dass wissenschaftliche Durchbrüche oft der Nebeneffekt, nicht die Ursache von technologischem Wandel sind. Es ist kein Zufall, dass die Astronomie genau zu Beginn des Zeitalters der Entdeckerfahrten aufzublühen begann. Die Dampfmaschine verdankte praktisch nichts den Lehren der Thermodynamik, aber die Lehren der Thermodynamik verdankten fast alles der Dampfmaschine. Die Entdeckung der DNA hing stark von der Entwicklung der sogenannten Röntgenkristallografie ab, einer Technik, die ursprünglich in der Textilindustrie zur Verbesserung von Wollstoffen eingesetzt wurde.

Technologischer Fortschritt wird getrieben von praktischen Menschen, die so lange rumtüfteln, bis sie bessere Maschinen haben; abstraktes wissenschaftliches Denken ist das letzte, was sie tun. Adam Smith, der sich in den Fabriken Schottlands des 18. Jahrhunderts umgesehen hatte, berichtete im «Wohlstand der Nationen»: «Ein grosser Teil der Maschinen (…) waren ursprünglich die Erfindung gewöhnlicher Arbeiter» und viele Weiterentwicklungen seien «dem Einfallsreichtum der Maschinenbauer» zu verdanken.

Die ständige Innovationsmaschine, die ihrerseits ökonomisches Wachstum und Wohlstand schafft, entsteht nicht aufgrund gezielter Politik, ausser in der Negativformulierung. Regierungen können weder Entdeckungen noch Erfindungen bestellen; sie können höchstens sicherstellen, dass sie sie nicht behindern. Innovation wächst ungefragt aus der Art und Weise, wie Menschen frei miteinander umgehen, wenn man sie lässt. Bahnbrechende wissenschaftliche Erkenntnisse sind die Früchte, die vom Baum des technologischen Wandels fallen.


Matt Ridley
ist promovierter Zoologe und Autor des internationalen Bestsellers «Wenn Ideen Sex haben. Wie Fortschritt entsteht und Wohlstand vermehrt wird» (DVA, 2010). Sein neues Buch «The Evolution of Everything» ist bislang erst auf Englisch erschienen.


Der vorliegende Text ist ein leicht veränderter Auszug aus Ridleys Buch «The Evolution of Everything», das bislang erst auf Englisch erschienen ist.

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