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Wie funktioniert Hochwasserschutz?

Ein Erfahrungsbericht aus dem Kanton Obwalden.

Wie funktioniert Hochwasserschutz?
Im grossen Alpenhochwasser 2005 trat unter anderem der Sarnersee über die Ufer und setzte den Obwaldner Kantonshauptort unter Wasser. Bild: Bau- und Raumentwicklungsdepartement Obwalden.

Zwei Tage hatte es schon heftig geregnet, und am Sonntag, dem 21. August 2005, intensivierten sich die Niederschläge abends nochmals. Aus dem benachbarten Entlebuch waren im Lauf des Tages Meldungen von Hochwassern und Murgängen eingetroffen, sogar zwei Todesfälle waren zu beklagen. Auch in Obwalden standen Feuerwehr und Polizei in allen Gemeinden des Sarneraatals bereits im Einsatz, um überflutete Keller leerzupumpen, verstopfte Wasserläufe zu öffnen oder den Verkehr umzuleiten. Die Gemeinden und der Kanton hatten zudem ihre Führungsstäbe einberufen. Spezialisten aus den verschiedensten Bereichen wie Naturgefahren, Verkehr, Strom- und Wasserversorgung, Logistik oder Kommunikation wurden aufgeboten und fanden sich in ihren jeweiligen Notfallzentralen zusammen, um die Situation zu beurteilen und um Anordnungen zur Eindämmung der Schäden zu treffen.

Um 23 Uhr an diesem Sonntagabend klingelte auch bei mir, damals Naturgefahrenspezialist beim kantonalen Führungsstab, das Telefon. In einer Liegenschaft am Pilatusberg seien Risse im Gelände festgestellt worden, man wisse nicht, ob Gebäude mit Menschen und Vieh abzurutschen drohten. Auf der Fahrt zur Liegenschaft herrschte pechschwarze Nacht, und es regnete in Strömen. Immer wieder behinderten abgestürzte Steine und Erdmassen die Durchfahrt. Ein paar hundert Meter vor der Liegenschaft war die Fahrt dann definitiv zu Ende. Zu Fuss mit Taschenlampe erreichten wir den Bauernhof und analysierten die Lage. Glücklicherweise konnten wir für die Liegenschaft rasch Entwarnung geben. Die Rückfahrt ins Dorf dagegen wurde zur Zitterpartie und Geduldsprobe. Die Strasse war inzwischen an mehreren Stellen so stark verschüttet, dass ein Durchkommen nur noch mit dem Einsatz eines Kleinbaggers möglich war.

Das war erst der Anfang des Unwettereinsatzes beim Hochwasser 2005. Von jetzt an folgten jede Viertelstunde Meldungen über Hangrutschungen oder Gewässer, die über die Ufer getreten waren. Stromversorgung und Verkehrswege waren vielerorts unterbrochen. Die kleine Schliere, ein Gebirgsfluss, der mitten durch das Dorf Alpnach fliesst, versetzte die Bevölkerung mit gewaltigen Flutwellen in Angst und Schrecken.

Mein Bett sah ich dann erst drei Tage und zwei Nächte später wieder, nachdem der Regen allmählich abgeklungen war. Das Wasser ging zurück, Schlamm, Schutt und Trümmer kamen zum Vorschein. Nun wurde auch das Ausmass der Hochwasserkatastrophe klar: Rund 300 mm Regen, mehr als das Doppelte eines Monatsniederschlages, waren in drei Tagen gefallen. Der Sarnersee war mehr als einen Meter über den höchsten je gemessenen Wert angestiegen. Das Dorf Engelberg war für Tage, ja Wochen weder per Bahn noch per Strasse erreichbar. Gegen 400 Millionen Franken betrugen die Schäden in allen Gemeinden, am meisten betroffen waren das untere Sarneraatal und Engelberg. Es war ein Unwetter, wie es sich an diesen Orten seltener als alle 100 Jahre ereignet.

Was war daraus zu lernen? Rückblickend zeigte sich auch, dass die Vorhersage und Warnung bei diesem Unwetterereignis bedeutende Mängel aufwies. Mit dem Projekt Optimierung von Warnung und Alarmierung bei Naturgefahren (OWARNA) wurde in der Folge schweizweit eine Verbesserung erreicht, indem die Messnetze ausgebaut und die Vorhersagen der verschiedenen Bundesstellen besser aufeinander abgestimmt wurden. Diese Verbesserungen sind heute umgesetzt und ermöglichen einen effizienteren und effektiveren Einsatz der Notfallkräfte im Ereignisfall.

Wiederaufbau und Sofortmassnahmen

Die ersten Tage und Wochen nach dem Unwetter galten der Wiederherstellung der Infrastruktur. Unterbrochene Strom- und Wasserleitungen mussten repariert, Verkehrswege geräumt und wiederaufgebaut, weggerissene Brücken notdürftig ersetzt werden. Verstopfte Bachläufe wurden freigelegt, beschädigte Verbauungen repariert, Geschiebesammler geleert. Jederzeit musste mit neuen Unwettern gerechnet werden. Die Bevölkerung wurde über Rundfunkmedien, Flugblätter oder Informationsanlässe laufend über die Unwetterlage, die erwartete Entwicklung und über die getroffenen und geplanten Arbeiten der Einsatzkräfte informiert. In dieser Phase leisteten vor allem Zivilschützer, Einheiten der Armee und kurzfristig beauftragte Privatfirmen ihren Einsatz. Geleitet wurden diese Aktivitäten vom Kantons- und von den Gemeindeführungsstäben. Die Feuerwehren als Einsatztruppe der ersten Stunden hatten sich plangemäss zurückgezogen.

Nach etwa zwei Wochen stellten auch die Führungsstäbe ihre Tätigkeit ein. Die Verantwortung für die weiteren Arbeiten lag fortan bei den für den Schutz von Naturgefahren zuständigen Fach- und Amtsstellen. Diese hatten nun einen riesigen Berg von Aufgaben zu bewältigen:

– Analyse des Ereignisses, der Schäden und der Ursachen
– Aktualisierung der Gefahrenbeurteilung
– Erfassung der zu treffenden Sofortmassnahmen, um entstandene Sicherheitslücken längerfristig zu schliessen und fortschreitende Schäden zu vermeiden
– Planung und Priorisierung von Massnahmen
– Einholen der Zustimmung zu den geplanten Massnahmen bei Anstössern, Ämtern und Umweltverbänden
– Kreditanträge an Kantons- und Gemeindebehörden
– Organisation der Arbeiten und Leitung der sachgerechten Ausführung
– Einholen von Offerten und Auftragserteilung an Unternehmer und Materiallieferanten
– Leitung der Einsätze von Hilfskräften
– Kontrolle der sachgerechten Ausführung
– Erstellen von Abrechnungen und Ausrichtung von öffentlichen Geldern und Hilfsgeldern

Diese oft turbulente Phase des Wiederaufbaus und der Sofortmassnahmen dauerte etwa zwei Jahre. In dieser Zeit wurden beschädigte Gebäude und Infrastrukturen wiederhergestellt und die in Mitleidenschaft gezogenen Verbauungen repariert – die ­Sicherheit wurde so wiederhergestellt oder gar verbessert. Die Planungs- und Genehmigungsabläufe waren dabei rasch und ­unkompliziert, es wurde kurz und pragmatisch geplant, Hand­skizzen genügten. Meist wurde direkt auf der Baustelle entschieden. Anstösser, Amtsstellen und Verbandsvertreter erhielten die Gelegenheit, sich vor Ort zu den Massnahmen zu äussern, dann wurde entschieden und umgesetzt. Geld war vorhanden, so viel es brauchte. Eine der grössten Herausforderungen in dieser Phase war der dauernde Mangel an Bau- und Naturgefahrenfachleuten. Diesem Problem wurde wenige Jahre später Rechnung ­getragen durch die Schaffung eines Ausbildungsganges für lokale Naturgefahrenberater.

Massnahmenkonzepte zur langfristigen Verbesserung der Sicherheit

Bereits während der Phase des Wiederaufbaus setzte die Planung zur langfristigen Verbesserung der Hochwassersicherheit ein. Grundlage für diese Planung ist die Gefahrenkarte, die aufzeigt, wo mit welcher Wahrscheinlichkeit mit welchem Gefahrenprozess gerechnet werden muss. Gefahrenkarten gab es in Obwalden bereits 2005. Der Kanton hatte diese seit 1998 zusammen mit spezialisierten Ingenieurbüros erarbeitet und galt damit lange Jahre als Pionier der Gefahrenbeurteilung. Nach dem Ereignis von 2005 mussten die Gefahrenkarten in einigen Gebieten allerdings angepasst werden. Die Wirkungen eines derart langen und intensiven Regenfalls waren vielerorts unterschätzt worden.

«Auf der Fahrt zur Liegenschaft herrschte pechschwarze Nacht, und es regnete in Strömen. Immer wieder behinderten abgestürzte Steine und Erdmassen die Durchfahrt.»

In einem nächsten Schritt galt es festzustellen, wo welche Sachwerte und wie viele Personen diesen Gefahren ausgesetzt sind und wo bei einem Ereignis mit welchen Schäden zu rechnen ist. Dabei entstand eine Karte der Risiken, welche die Höhe und Verteilung der Risiken aufzeigt. Diese Karte erlaubt es, bei den künftigen Schutzbauten Prioritäten zu setzen. Im Rahmen von Massnahmenkonzepten werden nun an den prioritären Risikostellen verschiedene Varianten von Schutzmassnahmen studiert. Jene Variante, die bezüglich Wirtschaftlichkeit und Auswirkungen auf die Umwelt und Gesellschaft am meisten zu überzeugen vermag, wird schliesslich zum Projekt weiterentwickelt. Der Umfang der geplanten Massnahmen richtet sich dabei nach Schutzzielen. Je nach Wert der gefährdeten Objekte und nach Anzahl betroffener Personen werden unterschiedliche Sicherheitsniveaus angestrebt. Dörfer sind gegen 100jährliche Ereignisse zu schützen, für intensiv genutztes Kulturland wird ein Schutz gegen ein 20jährliches Ereignis als genügend erachtet. In all diesen Schritten arbeiten Behörden von Kanton und Gemeinden von der Gefahrenanalyse bis zur Projektierung mit Fachspezialisten aus der Privatwirtschaft zusammen.

Die kurzen und pragmatischen Planungen, die Sinn machten während der Gefahrenlage, weichen nun wieder sehr detaillierten Planungsprojekten, bei denen auch die Umweltverträglichkeit jedes Mal eingehend untersucht wird. Der Schrecken des Unwetterereignisses ist vergessen, das Geld ist knapper und die Haltung der Anwohner ist kritischer geworden. Die Planungen werden öffentlich aufgelegt, Anstösser und Umweltorganisationen können mit Einsprachen ihre Kritik dazu äussern. Eine besondere Herausforderung ist der Landbedarf zur Realisierung eines Projektes. Mit dem Verbau der Gewässer beispielsweise wird zugleich auch die Verbesserung der Hochwassersicherheit und der natürlichen Verhältnisse angestrebt. Beides erfordert eine – oft bedeutende – Verbreiterung der Wasserläufe, wozu von den Anstössern Land erworben werden muss. Die dazu häufig erfolgenden Einsprachen werden in Verhandlungen zwischen den Einsprechern und den Behörden erledigt, was in der Regel Projektanpassungen im Sinne der Einsprechenden erfordert. Auch der Landerwerb wird auf dem Verhandlungsweg bewerkstelligt. Wo dies nicht möglich ist, entscheiden Behörden oder Gerichte, was sich über Jahre hinziehen kann.

Einsprachen, Genehmigungen, Notfallpläne

Mit den Entscheiden zu den Einsprachen werden auch die Genehmigungen der Projekte durch die zuständigen Behörden des Kantons und der Gemeinden erteilt. Auch diese Genehmigungen können wiederum von Anstössern und beschwerdeberechtigten Organisationen angefochten werden. Parallel zur Projektgenehmigung müssen die finanziellen Mittel für die Projekte gesichert werden. Dies geschieht mittels Objektkrediten, die von den zuständigen Behörden, also Gemeinderäten, Regierungsrat oder Kantonsrat, und oft auch in Volksabstimmungen genehmigt werden müssen. Die meisten Schutzmassnahmen werden von Gemeinden, dem Kanton und auch vom Bund finanziert. Entsprechend müssen beim Bund Subventionsanträge gestellt und -genehmigungen eingeholt werden.

Die Massnahmenkonzepte umfassen nicht nur technische Schutzbauten, sondern auch Notfallkonzepte, die auf den bereits erwähnten Gefahren- und Risikokarten basieren. Sogenannte Notfallpläne werden von Naturgefahrenspezialisten zusammen mit Fachleuten für Notfalleinsätze erarbeitet. Sie zeigen, wo im Ereignisfall welche temporären Massnahmen notwendig sind: Wassersperren, Sperrungen von gefährdeten Verkehrswegen, Freihalten von Brückendurchlässen oder allenfalls sogar Evakuierungen von gefährdeten Personen. Diese Notfallpläne werden im Ereignisfall hervorgeholt und sind eine wichtige Arbeitsgrundlage für die Einsatzkräfte der ersten Stunde.

Die Hochwasserereignisse von 2005 zeigten, dass es bei Präventionsmassnahmen zur langfristigen Verbesserung der Sicherheit wichtig ist, die Bauwerke so auszulegen, dass sie auch im Fall einer Überlastung nicht plötzlich und vollständig versagen. Wildbachsperren oder Dämme sind beispielsweise so auszubilden, dass sie auch Überströmen standhalten. Für das Wasser, das im Überlastfall ausserhalb eines Gerinnelaufes abfliesst, müssen Abflusswege (sog. Überlastkorridore) definiert und raumplanerisch als Freihalteräume gesichert werden. Im Weiteren zeigten die Unwetterereignisse, dass neben den technischen Verbaumassnahmen auch die Notfallkonzepte, die Einsatzbereitschaft der Wehrdienste und das Risikobewusstsein der Bevölkerung eine wichtige Rolle spielen.

Langfristiges Risikomanagement

Risikomanagement stemmt sich auch gegen den Lauf der Zeit. Zwar senken risikomindernde Massnahmen wie Verbauungen und Notfallkonzepte die Risiken, Klimawandel und Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum lassen die Risiken aber wieder ansteigen. Die Effekte der Klimaerwärmung verändern das Niederschlagsmuster. So verlängern mehr Niederschläge im Winter und Frühling bei wärmeren Temperaturen und früherer Schneeschmelze die Zeitperiode, in der Hochwasser zu erwarten sind. Zudem werden häufigere und heftigere Gewitterereignisse erwartet, was auch die Gefahr von Hangmuren und Rutschungen erhöht. Vor allem in höheren Lagen steigt das Risiko von Steinschlag- und Felssturzereignissen. Rasant rückschmelzende Gletscher und auftauender Permafrost führen dazu, dass zum Teil sehr grosse Geschiebemengen mobilisiert werden, die als Murgänge ins Tal stürzen und dort Gebäude und Sachwerte zerstören oder Gerinneläufe verstopfen.

Gleichzeitig wächst das Schadenpotenzial, also die einer Gefahr ausgesetzten Personen und Sachwerte. Gemäss Statistiken der Versicherer beträgt dieser Anstieg 1 bis 2 Prozent jährlich. Die Bevölkerung nimmt zu und damit auch der Siedlungsraum und die Industrie- und Siedlungsgebiete. Das ist wirtschaftlich durchaus erwünscht, führt aber zusammen mit der klimabedingten Gefahrenzunahme zu einem massiven Anstieg der Risiken. Dieser Anstieg kann bedeutend gebremst werden, indem bei der Entwicklung neuer Siedlungs- und Industriegebiete den Gefahren umfassend Rechnung getragen wird. Stark und mittelstark gefährdete Gebiete gemäss den Gefahrenkarten sind bei der Ausscheidung neuer Baugebiete zu meiden. In leicht gefährdeten Gebieten lassen sich grössere Schäden durch angepasste Bauweise (Schutzmassnahmen am Einzelobjekt) verhindern.

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Die Wahrscheinlichkeit, von einem Hai getötet zu werden, ist verschwindend klein. Und doch ist der weisse Hai zum Inbegriff von «Gefahr» geworden. Bild: Grosser Weisser Hai, mauritius images / nature picture library / Chris & Monique Fallows.
Von weissen Haien und schwarzen Schwänen

Für die Beurteilung von Gefahren ist ein evolutionär altes Hirnteil zuständig, und Wahrscheinlichkeitsrechnung liegt den Menschen ohnehin nicht im Blut. Das führt oft zu falschen Einschätzungen.

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