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Wie Figuren in einem Karussel

Erwin Kochs Roman «Sara tanzt»

So gewöhnlich ist es, wenn sie einen schnappen, dachte Sara.» Die kleine Rebellin Sara Broffe, Mutter von vier Kindern und seit neun Jahren im Widerstand tätig, weil sie an eine bessere Welt glaubt, wird eines Wintermorgens kurz vor zehn Uhr von drei dumpfen Handlangern eines totalitären Regimes durch den lapidaren wie Unheil verkündenden Satz «Jetzt gehörst du uns» verhaftet. So gewöhnlich kommt ihr das vor, dass sie den Mikrofilm, das geheime, zur Übergabe bestimmte Dokument, einfach fallen lässt. Zu Hause liegt ein Zettel an das älteste Kind auf dem Tisch, dessen Inhalt Saras Wissen um die jederzeit mögliche eigene Vernichtung deutlich zeigt.

Es gibt Texte, die man, beim letzten Satz angekommen, ungern weglegt und andere, deren Ende der Leser schon nach dreissig Seiten herbeiwünscht.

Grausamkeit auf der inhaltlichen und ihre Wirkung ins Unerträgliche steigernde Spitzfindigkeit auf der formalen Ebene treffen am Ende des ersten Kapitels von Kochs Romandebüt «Sara tanzt» in kaum zu überbietender Weise aufeinander. Alle Figuren sind exponiert, haben ihren festen Platz im infernalischen Karussell, das nach fünf weiteren, fast gleich grossen Umdrehungen wie zufällig zum Stehen kommen wird.

Die Verstörung, die zurückbliebe, würde Kochs Text auf Seite dreissig enden, wäre gross, aber sie wird 140 Seiten später nicht kleiner sein, im Gegenteil, nur die Zeit, im Text ostinatoartig in Stunden und Minuten zerschnitten, ist kleiner geworden.

Das Schicksal der argentinischen Untergrundkämpferin Silvia Tolchinsky scheint es dem 1956 geborenen, in der Nähe von Luzern lebenden Journalisten, Redaktor und freischaffenden Reporter Erwin Koch angetan zu haben. In der Reportage «Tango Argentino», die er über sie schrieb («Tages Anzeiger Magazin» vom 1. 12. 2001), erstaunt folgender Satz: «Ich will nicht, dass mein Leben zum Roman wird, und doch rede ich, muss reden und erklären, ich habe keine Wahl.» Trotzdem ist nun aus Silvia Tolchinsky Sara Broffe geworden. Wollte der Autor die Distanz, die zwischen dem journalistisch Schreibenden und der Wirklichkeit des Beschriebenen natürlicherweise besteht, mit literarischen Mitteln überwinden?

Die Gestaltung des Ich-Erzählers, der sich unauffällig aber unüberlesbar ins Geschehen mischt und immer mehr Raum gewinnt, bis schliesslich der Eindruck entsteht, dass er vom ersten Wort weg die Geschichte Saras als die seine erzählt, scheint die Frage zu bejahen. Er arbeitet für das Regime als mittelmässiger Musiker, der in Zimmer vier möglichst laut und schnell Cello zu spielen hat, während Sara verhört, gefoltert und vergewaltigt wird. Er hält sich aus allem raus, sogar typographisch: Alle direkten Reden stehen in einfachen Anführungszeichen, das doppelte aber, das den gesamten Textkörper als seine Erzählung kennzeichnen würde, fehlt.

Im literarischen Text ist vieles möglich, was journalistischem Schreiben vorenthalten bleibt – Verwirrung stiftendes Durcheinanderwerfen der Zeitebenen, irritierende Kombinationen divergierendster Inhalte. Koch lässt unmittelbar nach der Andeutung einer Vergewaltigungsszene Hähnchenbrustfilets mit Perlzwiebeln und gehackten Tomaten in der Bratpfanne schmoren, oder Spinat köcheln, bis er zusammenfällt. Wen überrascht so etwas noch – wir sind ja mit scharfen Schnitten in Film und Fernsehen gross geworden und nennen es spannend.

Erwin Koch, «Sara tanzt», Roman. Nagel & Kimche, Frauenfeld 2003.

Die Germanistin Elena Ederle, geboren 1960, lebt und schreibt in Thalwil.

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