Wider die Verschleierung
Überlegungen zur Burka-Frage oder Die Fortsetzung des Kulturkampfes mit anderen Mitteln
Wir bilden uns viel darauf ein, aufgeklärt, tolerant und säkular zu sein. Dabei vergessen wir leicht, dass es eines jahrhundertlangen Kulturkampfes bedurfte, um diesen Werten zum Durchbruch zu verhelfen. Und wir blenden aus, dass es heute nicht weniger als früher ein klares Bewusstsein für diese Werte braucht, um sie zu erhalten – notfalls auch gegen den Widerstand jener, die in die Zeit vor dem Kulturkampf zurückmöchten.
Die muslimische Einwanderung wäre kein Sonderproblem, wenn der Islam sich in der Vielfalt seiner Ausprägungen zeigte. Wie in den anderen Religionen, gibt es auch im Islam viele Schattierungen, vom milden Sufismus bis zum radikal-fundamentalen Islamismus. Jene muslimischen Einwanderer, die zwar eine religiöse Bindung suchen oder kennen, aber assimilationsbereit und tolerant sind, sind meistens unauffällig. Sie halten sich an die herrschenden Landessitten, sind vielleicht sogar froh, dem Fundamentalismus in ihren Herkunftsländern entronnen zu sein und anderswo neue Lebenschancen zu finden. Dies gilt insbesondere auch für viele muslimische Frauen, denen der religiöse Dogmatismus (und damit verbunden die machistische Dominanz) ein Greuel ist und die ihr Leben selbst in die Hand nehmen wollen.
Im Koran selbst gibt es – darin sind sich die Experten einig – kein Gebot, wonach Frauen ihre Haare oder gar ihr Gesicht bedecken müssen, um gottgefällig zu leben. Insofern ist die Burka – wie jede Ganzkörperverschleierung und jede Vermummung – ein klares Symbol für die Unterwerfung des Denkens unter die dogmatische Hoheit einer Religionsauslegung oder einer nicht dialogbereiten Denkhaltung. Wenn eine Frau heute in die Schweiz oder in ein nichtislamisches Land einwandert und in der Öffentlichkeit weiterhin die Burka trägt, so setzt sie äusserlich ein Zeichen dafür, dass sie den Dialog mit ihrem Gastland nicht aufnehmen will – unabhängig davon, was sie selber unter dem Schleier denkt, ob ein Mann sie gezwungen hat, die Burka anzuziehen, oder ob sie selber gar nicht weiss, was eigentlich mit ihr in der Migration passiert.
Ein Mensch, der sein Gesicht nicht zeigt und seinen Mund verhüllt, ist kein Ansprechpartner. Der Dialog setzt ein Gesicht, eine Stimme, ein Denken voraus. Die Burka in einem fundamental-islamischen Staat ist etwas anderes als in einer säkularen und toleranten Demokratie. Es kommt auf den Kontext an. Eine Burkaträgerin im theokratischen Teheran oder eine Burkaträgerin auf dem Bundesplatz in Bern sagen nicht das gleiche aus.
Für die Schweiz gilt – im Sinne einer Integrationspolitik, die die Rechte, aber auch die Pflichten der Immigranten beachtet – ganz klar, dass die Burka (wie jede Vermummung) unerwünscht ist. Zudem ist die Burka ein Symbol, an dem sich die verletzlichen Fragen des einstigen Kulturkampfes aufs neue stellen. Die Schweiz hat im Kulturkampf im 19. Jahrhundert – bei der Auseinandersetzung zwischen den Protestanten und den Katholiken – einen schmerzhaften und nicht einfachen Lernprozess in Sachen liberale Werte, Aufklärung und Säkularisierung durchgemacht. Eine letzte Welle dieses Kulturkampfes hat sich bei der langwierigen Frage um die politischen Rechte der Frauen gestellt. Dass die Frauen in der Schweiz erst 1971 die politischen Rechte – also ein Gesicht und eine Stimme – erhielten stellt eine noch immer nicht verheilte Wunde im historischen Gedächtnis der Schweiz dar, eine Wunde, deren lange Schatten sich wohl auch bei der Anti-Minarett-Abstimmung gezeigt haben: zum von Männern dominierten Fundamentalismus, wie auch immer er im einzelnen aussehen mag, will niemand zurück.
Der demokratische Lernprozess verläuft zwar langsam, aber nachhaltig. Ein Teil des Islams – wenn auch nur ein kleiner – hat die Säkularisierung nicht durchgemacht und verneint unsere demokratischen Grundwerte. Es zeugt von einem tiefverankerten republikanischen Bürgersinn, dass eine demokratische Wertegemeinschaft wie die Schweiz, die zwar die Rechte der Minderheiten, aber auch die der – säkularisierten – Mehrheit achtet, hier empfindsam reagiert.
Die Errungenschaften dieses erfolgreichen Kulturkampfes dürfen nun nicht preisgegeben werden. Dies gilt für jede Form von Radikalismus. Es ist also weder damit getan, dass das Burkatragen zur Privatsache erklärt wird, noch indem man argumentiert, dass sich wegen sechs oder sieben Burkaträgerinnen per se das Problem nicht stelle.
Bei Touristinnen, die eine Burka tragen, stellen sich ohnehin nicht dieselben Fragen. Bei ihnen geht es nicht um Assimilation und Dialog, sondern um einen vorübergehenden Aufenthalt zu touristischen Zwecken. Dennoch ist das Tragen einer Burka auch hier problematisch. Zum Vergleich: kein anständiger Europäer würde eine Moschee mit Schuhen betreten; kaum eine Geschäftsfrau oder Politikerin würde im islamischen Ausland – sofern dies Protokoll ist – eine kurzzeitige und den Sitten des Gastlandes entsprechende Haarbedeckung verweigern. Dabei geht es nicht um ein Symbol für Anpassung an ein dogmatisches Denken. Es geht vielmehr um die universalen zivilisatorischen Gepflogenheiten des Gastrechtes.
Mit der jüngsten Einwanderung aus dem muslimischen Raum stellen sich aber Fragen, die, sofern sie nicht ernst-genommen werden, in der Bevölkerung die Stimmung eines neuen Kulturkampfes fördern könnten. Das hat auch das – überraschende – Ergebnis der sogenannten Anti-Minarett-Initiative gezeigt. Diese Abstimmung hatte insofern eine stark symbolische Bedeutung, als es in ihr sachlich nicht um das vermeintliche Minarett ging, sondern letztlich um eine Frage, die an den alten Kulturkampf in der Schweiz anknüpfte: Sollen die Werte der Säkularisierung und der Trennung von Staat und Religion/Kirche wieder rückgängig gemacht werden oder nicht? Soll einer kleinen radikalen Schicht von Islamisten, die weder in ihren Herkunftsländern noch in den Ländern ihrer frei gewählten Auswanderung sich durch Toleranz auszeichnen, tolerant begegnet werden? Soll man mit Intoleranten tolerant umgehen? Soll man die – vorgeblich religiös begründeten – Verschleierungs- und Sittsamkeitsgebote für Frauen nun, im aufgeklärten frühen 21. Jahrhundert, aus Gründen einer aufklärerischen Wertetoleranz zulassen?
Sowohl im jüdischen, im christlichen wie auch im islamischen Glauben gibt es Bekleidungsregelungen, die nur Frauen betreffen. Die jeweiligen Auslegungen der heiligen Texte sind in Männerhand. Es geht nicht um religiöse Fragen, sondern um die Reste eines patriarchalen und paternalistischen Denkens, das in gewissen Kulturen noch immer tief verwurzelt ist, auch wenn es von der Philosophie der Aufklärung längst als Vorurteil ad acta gelegt worden ist.
Ich bin der Meinung, dass aus religiösen Gründen verschleierte Frauen in der Schweiz unerwünscht sind, weil sie die Errungenschaften der Aufklärung und des Selberdenkens negieren, weil sie ein Symbol sind für den Widerstand gegen die Pflicht zu Assimilation und Integration; und weil sie denjenigen, die sich assimilieren und integrieren wollen, in den Rücken fallen.
Ein klares Verbot bzw. eine Ächtung der Burka – zusammen mit anderen Formen der Gesichts- oder Ganzkörpervermummung – halte ich für angezeigt, auch wenn über die beste rechtsstaatliche Form dieser Ächtung noch nachzudenken ist. Es handelt sich darum, ganz konsequent überall klarzumachen, dass Vermummung und Verschleierung – aus religiösen oder anderen Gründen – nicht erwünscht sind, und dass vermummte oder verschleierte Frauen und Männer nicht in den Genuss der Leistungen des Sozialstaates kommen und von behördlichen Organen auch nicht empfangen und nicht als Gegenüber verstanden werden. Wer auf Rechte Anspruch erhebt, hat auch Pflichten zu befolgen. Es gibt keine Rechte ohne Pflichten.
Zudem gilt es, die Bedeutung des von Fundamentalisten immer wieder als Kampfargument eingebrachten Wortes «Religionsfreiheit» zu klären. Religionsfreiheit bedeutet nicht, dass jemand im Namen einer Religion die Freiheit hat, sich für sich selbst Sonderregelungen gegenüber einem Gemeinwesen herauszunehmen. Religionsfreiheit bedeutet, dass niemand zu einem religiösen Bekenntnis gezwungen werden kann und auch niemand jemanden zu einem reli-giösen Bekenntnis oder zum Tragen eines religiösen Symbols zwingen darf. Wer jemanden im Namen einer Religion zum Tragen einer Burka anhält oder verpflichtet, verstösst gegen die Religionsfreiheit. Wer das Tragen einer Burka – oder einer Gesichtsvermummung – in der schweizerischen Öffentlichkeit toleriert, setzt sich klar von den öffentlichen Werten der demokratischen Zivilgesellschaft ab. Es gibt keine Sonderregelungen für Aufklärungsverweigerer.
Das vermeintlich «feministische» Argument, dass Frauen eine Burka «mit Eleganz und Selbstbewusstsein» tragen, mag in islamisch-fundamentalistischen Ländern gelten, wo den Frauen wegen des theokratischen Regimes nichts anderes übrig bleibt. Aber wer in einem demokratischen Rechtsstaat wie der Schweiz argumentiert, das Tragen der Burka sei von den Frauen selbst gewollt, wiederholt bloss jene autokratischen Positionen der Frauenstimmrechtsgegner vor 1971, die argumentierten, die Frauen selbst wollten ja gar keine politischen Rechte.
Jede Gesichts- oder Ganzkörpervermummung ist in einem demokratischen Rechtsstaat unerwünscht, ob die Vermummung nun religiös oder kulturell begründet wird. Die demokratische und säkulare Gemeinschaft besteht aus Bürgern, die vernunft- und diskursfähig sind, eine Meinung und eine Stimme haben, sich gewaltfrei artikulieren und die ihr Gesicht – ohne das es keinen Dialog gibt – offen zeigen.