Wider die helvetische Selbstverzwergung!
Das institutionelle Rahmenabkommen Schweiz/EU: keine «Vasallisierung», sondern alles im bewährten Rahmen. Eine Replik.
Das Rahmenabkommen zwischen der Eidgenossenschaft und der Europäischen Union spaltet die politischen Lager entlang einer neuen Linie: Im Zentrum der Auseinandersetzungen steht die «Übernahme von fremdem Recht», über dessen Auslegungen und hiesige Implementierung mitunter «fremde Richter» entscheiden können sollen. Der damit angeblich einhergehende Souveränitätsverlust wird allerorten beklagt, aber seine Auswirkungen sogar im prinzipiell souveränitätsaffinen bürgerlichen Lager sehr unterschiedlich bewertet. Brechen mit dem Rahmenabkommen – so wie es auf dem Tisch liegt – tatsächlich die Dämme?
Zur Übernahme fremden Rechts
Das Thema ist nicht neu: Kenner der rechtlichen Internationalisierung werden bemerken, dass die Übernahme fremden Rechts einer mehr als hundertjährigen helvetischen Staatsrechtstradition entspricht. Gleiches gilt in diesem Land auch für die Delegation von innerstaatlicher Gerichtsbarkeit an Schiedsgerichte, die über Ansprüche öffentlich-rechtlicher Natur urteilen. Das vorgeschlagene Rahmenabkommen ist – so viel sei vorweggenommen – also alter Wein in nur scheinbar neuen Schläuchen. Wie alt er tatsächlich ist (und ob er trotzdem mundet), findet heraus, wer sich die Geschichte des hiesigen Rechts geschmacksneutral vergegenwärtigt.
Beispiel Obligationenrecht: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat die Eidgenossenschaft bekanntermassen ihr eigenes Obligationenrecht eingeführt. Weniger bekannt ist, dass sich dieses gesamtschweizerische Gesetzeswerk ganz selbstverständlich an den damals existierenden deutschen, französischen und italienischen Rechtsordnungen orientierte und dieselben in wichtigen Teilen auch übernahm. Ein Grund unter anderen dafür war, dass die damaligen kantonalen Ordnungen keine oder nur ungenügende Vorlagen abgaben. Das «neue» Obligationenrecht strahlte wiederum auf spätere Rechtsetzungswerke in Taiwan und China, in der Türkei, Deutschland oder Italien aus. Mit anderen Worten, wurde jeweilen pragmatisch «fremdes Recht» übernommen, um den legislatorischen Fortschritt zu sichern. Die Rechtshistoriker sprechen ganz selbstverständlich von der «Rezeption fremden Rechts», ohne die Souveränitätsfrage überhaupt anzusprechen.
Beispiel Kartellrecht: Als die Schweiz 1996 erstmals ein umfassendes Kartellrecht einführte, fehlten (aufgrund der bisher sehr kartellfreundlichen Politik der Eidgenossenschaft) erneut die legislatorischen Konzepte – entsprechend wurden beim EU-Kartellrecht massive Anleihen gemacht. Bei ihrer entsprechenden Verordnung zum automobilen Vertrieb machte die WEKO im Jahr 1995 aber nicht nur inhaltliche Anleihen, sondern schrieb in weiten Teilen wortwörtlich von der entsprechenden KFZ-GVO 2002 der Europäischen Union1 ab.
«Die politisch-rechtliche Rezeption, also die Übernahme fremden Rechts, ist nicht nur etwas für das rechtshistorische Seminar, sondern in diesem Land seit Jahrzehnten gelebte Gesetzgebungspraxis.»
Beispiel UNO-Konventionen: Seit 2002 ist die Eidgenossenschaft Mitglied der Vereinten Nationen. Seither hat sie praktisch alle wichtigen UNO-Konventionen im Bereich der Menschenrechte, der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung ratifiziert und ins Landesrecht überführt.
Klar wird: Die politisch-rechtliche Rezeption, also die Übernahme fremden Rechts, ist nicht nur etwas für das rechtshistorische Seminar, sondern in diesem Land seit Jahrzehnten gelebte Gesetzgebungspraxis. Diesem Befund mag man entgegenhalten, er sei jeweilen unilateral implementiert und geschehe damit eben freiwillig. Fakt ist auch, dass die Schweiz regelmässig reaktiv legiferiert. Mit anderen Worten, schaut man sich z.B. die Entwicklung der Finanzmarktgesetzgebung der letzten zehn Jahre an, so wird man sagen müssen: Souveräne Gesetzgebung sieht anders aus. Gleiches gilt natürlich auch, wenn man aus EU-Verordnungen wortwörtlich abschreibt. In konservativen Kreisen heisst es dazu regelmässig, diese Entwicklung schade der Schweiz, sei mithin Ausdruck eines Diktats von aussen und schwacher Politik im Inneren – die Gründer der Eidgenossenschaft würden sich im Grabe umdrehen, wüssten sie, wie hier mit ihrem Erbe verfahren werde. Widmen wir uns zunächst jenen Gründern und ihrem Erbe.
Der Bundesbrief und die Schiedsgerichte
Im Bundesbrief von 1291 haben sich die drei Talschaften Uri, Schwyz und Unterwalden gegenseitig versichert, künftig auf ihrem Gebiet keine fremden Richter mehr zu dulden. Das heutige Rahmenabkommen antizipierend, sprach der Bundesbrief schon damals von der Etablierung von Schiedsgerichten. Und er formulierte auch gleich die Unabhängigkeitsvoraussetzungen für diese Schiedsrichter: Sie durften nicht käuflich sein und sie mussten entweder in einer der Talschaften wohnen oder wenigstens das dortige Bürgerrecht haben. Auch wenn Dokument Nr. 27 des Schwyzer Staatsarchivs bis 1758 vergessen in einem Bibliotheksregal schlummerte und sich deshalb aufgrund des Bundesbriefs keine verfassungs- und/oder staatsrechtliche Praxis entwickeln konnte, lohnt es sich, für einen Moment juristische Semantik zu betreiben: Der Bundesbrief schloss Schiedsrichter mit fremder Nationalität nicht aus, solange sie Wohnsitz in einer der Talschaften nahmen. Und umgekehrt wäre wohl auch ein zu Geld und Ruhm gekommener Reisläufer aus den Talschaften mit Residenz am französischen Hof als Schiedsrichter wählbar gewesen. Letztlich sollte aufgrund des Bundesbriefs lediglich innerstaatlicher Streit geschlichtet werden – während ein Streit mit dem Haus Habsburg z.B. gerade nicht Regelungsgegenstand des Bundesbriefs war.
Selbst bei bisherig konservativer Lesart des Bundesbriefs konnten unsere Gründerväter aber ein Dilemma nicht lösen: Schon damals musste ein Kläger aus dem Reusstal einen oder zwei Schiedsrichter aus den anderen Talschaften akzeptieren. Auch unter dem Bundesbrief von 1291 agierten also aus Sicht des Urner Klägers «fremde Richter». Und umgekehrt ist festzuhalten: Der Urner Kläger konnte einen Schiedsrichter aus der eigenen Talschaft zu seinem Schiedsrichter ernennen. Der verfassungsrechtliche Imperativ des Bundesbriefs von 1291 heisst also richtigerweise: «Nicht nur fremde Richter». Der Bundesbrief ist demnach für die Beurteilung des heutigen Rahmenabkommens einzig dort hilfreich, wo er die Unabhängigkeit der Schiedsrichter postuliert. Und hier sollte man dem für das Rahmenabkommen zuständigen Schiedsgericht nicht vorsorglich die Unabhängigkeit absprechen: Es geht bei diesem Rahmenabkommen um die Ernennung von unabhängigen Schiedsrichtern, nicht um die Zuwahl von Willensvollstreckern der Europäischen Kommission. Wie geht sie vor sich?
Das neue Schiedsgericht
Die Eidgenossenschaft kann zunächst ihre eigenen Parteischiedsrichter ohne Listenbindung wählen. Die vom paritätisch zusammengesetzten gemischten Ausschuss zusammengestellte Schiedsrichterliste ist dabei blosse Entscheidungshilfe. Immerhin müssen die Kandidaten hochqualifiziert sein und über ein breites Erfahrungsspektrum verfügen, sollen aber durchaus Verbindungen zu nationalen Verwaltungen haben können. Ja, wie sich letzteres Kriterium mit der gleichzeitig geforderten Freiheit von Interessenkonflikten verträgt, ist klärungsbedürftig. Diese Klärung wird aber ein erstes Mal durch den gemischten Ausschuss via Schiedsrichterliste stattfinden, und zwar mit dem Vetorecht der Eidgenossenschaft, und ein zweites Mal durch den Generalsekretär des ständigen Schiedsgerichtshofs zu Den Haag, der allfällige Ablehnungsbegehren der Eidgenossenschaft beurteilt. Dieser ständige Schiedsgerichtshof ist keine EU-Behörde, sondern eine Haager Institution mit globaler Verankerung. Das gleiche Prozedere gilt übrigens, falls man sich nicht auf den Vorsitzenden des Schiedsgerichts einigen kann. Und zu guter Letzt sei bemerkt: Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat nur dann verbindliche Auslegungshilfe zu leisten, wenn sich das unabhängige Schiedsgericht nicht in der Lage sieht, unionsrechtliche Begriffe selbst auszulegen, und deswegen den EuGH anruft.
Warum sich ein Schiedsgericht dauerhaft ausserstande sehen sollte, die unionsrechtlichen Begriffe selbständig auszulegen, ist für den praktizierenden Schiedsrechtler nicht nachvollziehbar. Sowohl die Europäische Union wie auch die Eidgenossenschaft werden aus ureigenem Interesse ihre jeweils besten Europarechtskenner zu Parteischiedsrichtern machen. Man wird bei dieser Wahl schweizseitig darauf achten müssen, dass dieser Parteischiedsrichter auf das europarechtliche Sonderwissen einer hiesigen Universität, der Bundesverwaltung oder einer Grosskanzlei zugreifen kann. Wer mit Schiedsverfahren vertraut ist, weiss ausserdem um die Dynamik solcher Gremien: Schwache Parteischiedsrichter haben einen schweren Stand. Wer als Schiedsrichter vorwiegend den Standpunkt der ihn ernennenden Partei vertritt, dessen Stimme zählt zwar nominal bei der Entscheidfindung, sie hat bei der vorgängigen Beratung aber selten Gewicht. Und lassen wir noch etwas die Psychologie spielen: Fachlich und charakterlich standfeste Schiedsrichter vom Schlag eines Carl Baudenbacher2 werden ihren Fall eher selber entscheiden und nicht als blosser Briefbote auf dem Weg nach Luxemburg fungieren. Kurzum: Die vielbeschworene «Vasallisierung» sähe anders aus. Hinzu kommt: Bisherige Erfahrungen mit ähnlichen Schiedsgerichtsmodellen hat die Schweiz zur Genüge, ohne dass die Souveränitätsfrage gestellt wurde und wird. Wie sieht die Praxis aus?
Fremde Richter seit Jahrzehnten
Die Schweiz ist seit 1995 Mitglied der WTO. Streitigkeiten aus den Welthandelsverträgen GATT, GATS und TRIPS werden dabei erstinstanzlich durch ein Dispute Settlement Body (DSB) entschieden, dem Vertreter aller Mitgliedstaaten, also auch der Schweiz, angehören. Gegen das Urteil kann bei einer zweiten Instanz, dem Appellate Body, Berufung eingelegt werden, wo ebenfalls alle Mitgliedsländer berücksichtigt werden. Dem richtig verstandenen Bundesbrief von 1291 ist also damit durchaus Genüge getan. Gleiches gilt für die mehr als 100 bi- und multilateralen Doppelbesteuerungsabkommen, die die Schweiz seit dem Zweiten Weltkrieg mit anderen Staaten abgeschlossen hat. Dort urteilen in vielen Fällen unabhängige Schiedsgerichte unter regelmässiger Teilnahme von schweizerischen Schiedsrichtern. Mit dem Ausland wurden zudem gegen 120 Investitionsschutzabkommen abgeschlossen, die hiesige Unternehmungen vor ausländischen Enteignungen schützen. Hier entscheiden ebenfalls unabhängige Schiedsrichter bei öffentlich-rechtlichen Expropriationen, aber es sind entsprechend dem Bundesbrief von 1291 nicht nur Richter aus der Schweiz. Gleiches gilt für die EMRK und deren Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, der während langer Zeit vom schweizerischen Rechtsprofessor Luzius Wildhaber präsidiert wurde. Heute amtiert dort Helen Keller als Richterin aus der Schweiz.
Die Kritiker des Rahmenabkommens blenden also immer wieder aus: Die unabhängige schiedsgerichtliche Erledigung von Streitigkeiten unter Beteiligung von staatlichen Parteien ist seit Jahrzehnten auch in der Schweiz bewährte und gelebte Staatsvertragspraxis. Im Grunde spricht nichts dagegen, warum also der ganze Aufruhr?
Fremdes Recht als gutes Recht
Bei der Bewertung des Abkommens schwingt stets das unausgesprochene Verständnis mit, fremdes Recht werde der Schweiz summa summarum zum Nachteil gereichen. Es gehört zu den Eigenheiten des Landes, fremdes Recht stets aus der Defensive heraus zu beurteilen. Warum eigentlich?
Die bilateralen Verträge sichern dank Lohnschutz eine wertschöpfende Immigration, ermöglichen es gleichzeitig aber auch, sich im europäischen Ausland niederzulassen und dort unter wesentlicher Anerkennung von beruflichen und schulisch-universitären Abschlüssen zu arbeiten. Die Vereinheitlichung von technischen Handelshemmnissen bedeuten zuerst Exporterleichterungen für die hiesige Wirtschaft. Regelmässig werden bei den Bilateralen schon heute im gemischten Ausschuss technische Konformitätsbestimmungen aus der EU übernommen: Anpassungen bei den Sprachkenntnissen von Lokomotivführern in Grenzgebieten oder Konformitätsbewertungen beim Rollmaterial nützen allen. Trotzdem gilt die EU-Bananenverordnung von 1994 noch immer als Paradebeispiel für eine «überbordende Regulierung» – und das trotz der Tatsache, dass die Schweiz keine Bananen exportiert und von der damit verbundenen Qualitätssicherung und Transporterleichterung nur profitiert. Nicht einmal der moderne hiesige Landwirtschaftssektor hat etwas zu befürchten: Der erleichterte Export hochwertiger Landwirtschaftsprodukte steht im Vordergrund und nicht der Import billiger und womöglich qualitativ schlechterer Agrargüter, die es auf dem heimischen Lebensmittelmarkt ohnehin sehr schwer haben.
«Die immer wieder praktizierte helvetische Selbstverzwergung
war schon immer falsch – hier ist sie es auch.»
Und schliesslich wird immer wieder ausgeblendet: Das vorgeschlagene Rahmenabkommen umfasst keineswegs die gesamte schweizerische Rechtsordnung, sondern beschlägt momentan nur die sechs im Jahr 1999 geschlossenen bilateralen Verträge zu den Themen Personenfreizügigkeit und Luft-, Personen- und Güterverkehr, Landwirtschaft und die bereits erwähnten technischen Hemmnisse. Sie betreffen auch hochgerechnet bloss einen einstelligen Prozentsatz der derzeitig geltenden Bundesgesetzgebung. Klar, auch ein Prozent könnte mitunter folgenschwere Konsequenzen haben – empirisch-qualitativ ist das aber nicht der Fall: Während die meisten von uns mit einer Anekdote zur Personenfreizügigkeit aufwarten können, demnach vermutlich in der einen oder anderen Form tangiert sind, fällt es dem oder der quivis / quiva ex populo schwer, aus dem Stand heraus eine direkte Betroffenheit bei anderen bilateralen Dossiers zu benennen. All dem steht ein gegenseitiger Waren- und Dienstleistungsaustausch einschliesslich wechselseitiger, direkter und indirekter Investitionen gegenüber, die die Schweiz heute zum weltweit sechstgrössten Wirtschaftspartner der Europäischen Union machen. Die immer wieder praktizierte helvetische Selbstverzwergung war schon immer falsch – hier ist sie es auch.
Dieses Wirtschaftsvolumen will, soll, ja muss auch weiterhin gepflegt werden. Ein Souveränitätsverlust ist damit nicht verbunden, im Gegenteil: Es geht darum, den souveränen Umgang mit fremdem Recht und angeblich fremden Richtern zu üben. Wer darin gut ist, für den zahlt es sich langfristig aus – auch und vor allem unter Souveränitätsgesichtspunkten!
Es ist lohnend, sich erneut den im Rahmen der Abstimmung zur Selbstbestimmungsinitiative geäusserten Ratschlag von Peter Nobel zu Gemüte zu führen: Steht eine einmal durchgeführte Initiativ- oder Referendumsabstimmung im Knatsch mit geltendem Staatsvertragsrecht, so ist halt zu kündigen. Denn: Auch das Rahmenabkommen ist jederzeit mit sechsmonatiger Kündigungsfrist auflösbar. Würde es die EU mit dem Einbezug neuer Regelungsmaterien wie z.B. der Unionsbürgerrichtlinie zu bunt treiben, kann der sechstgrösste EU-Wirtschaftspartner namens Schweiz kündigen oder mit der Kündigung wenigstens drohen. Das anhaltende Brexit-Drama führt die Kosten dieses Schritts vor Augen – auch das kann als Stärkung der Souveränität, vor allem des mündigen Stimmbürgers und seiner Vertreter, durchgehen.
Zum Weiterlesen:
Einen etwas anderen Standpunkt vertritt Carl Baudenbacher. Seine Meinung lesen Sie hier.
Die hiesige Kartellrechtsgemeinde ist mit der Rezeption des europäischen Kartellrechts auch nicht allein: Eine Untersuchung der Universität Zürich zeigte, dass aktuell gegen 40 Prozent der helvetischen Gesetzgebung direkt oder indirekt von der Europäischen Union beeinflusst sind. Peter Nobel hat konstatiert, dass seit der Finanzmarktkrise 2008 die hiesige Gesetzgebung von internationalen Standardgebern diktiert werde, deren fehlende demokratische Abstützung man zu Recht beklagt. ↩
Vgl. Carl Baudenbacher: Das Ei des Kolumbus?, in dieser Ausgabe auf S. 65. ↩