Wider die Gleichgültigkeit!
In einer offenen Gesellschaft zu leben, ist schön. Und oft anstrengend. Karl Popper hat sein Plädoyer für die offene Gesellschaft verfasst, als in Europa der Zweite Weltkrieg tobte. Seither herrscht Frieden. Und immer mehr Gleichgültigkeit. Grundsätzliche Gedanken zu unserer freien Ordnung, die mehr Engagement verdient.
«Europäer sind sich zu wenig bewusst, dass die Freiheit erkämpft werden musste und noch immer muss. Selbstzufriedenheit und Gleichgültigkeit dominieren.» Dieser Satz – er stammt aus einem Interview, das René Scheu mit Ayaan Hirsi Ali führte* – hat mich umso mehr getroffen, als mich ähnliche Sorgen seit geraumer Zeit beschäftigen.
Wir leben in Europa gemäss einem weitverbreiteten Selbstverständnis in sogenannten «offenen Gesellschaften». Die Frage ist nur: wissen wir Selbstzufriedenen und Gleichgültigen noch, was das ist, eine offene Gesellschaft? Oder polemischer gefragt: wenn der Begriff gerne in allen möglichen rhetorischen Zusammenhängen verwendet wird, ohne dass seine Konturen klar erkennbar blieben, könnte dies dann ein Zeichen dafür sein, dass wir selbst nicht mehr an jene offene Gesellschaft glauben, die uns seit dem Zweiten Weltkrieg Freiheit und Wohlstand beschert hat? Die folgenden Überlegungen grundsätzlicher Art sind eine Antwort auf diese Fragen.
Institutionelle Voraussetzungen
Der Begriff geht auf Karl R. Popper zurück.** In seinem Buch «Die offene Gesellschaft und ihre Feinde», während des Zweiten Weltkriegs im neuseeländischen Exil verfasst, unterscheidet er zwischen geschlossenen, d.h. «magischen», «stammesgebundenen» oder «kollektivistischen», und offenen Gesellschaften, «in denen sich die Individuen persönlichen Entscheidungen gegenübersehen» und «kritische Fähigkeiten» entwickeln. Diese Unterscheidung, die so einfach klingt, hat weitreichende Konsequenzen – und beruht auf klaren Voraussetzungen, denen ich mich einleitend zuwende.
Freie Entscheidungen des einzelnen sind nur möglich, wenn dem Individuum ein «staatsfreier Raum», also gesicherte Grundrechte zustehen – in der kollektivistischen Gesellschaft gibt es diesen Raum nicht; hier ist alles, auch das Privatleben, politisiert. Die fundamentalen Menschenrechte – damit meine ich die Freiheits- und Schutzrechte der ersten Generation – können auf die Dauer nur im Rahmen einer rechtsstaatlichen Demokratie garantiert sein. Die Begründung dieser Aussage ist ebenso einleuchtend wie in der praktischen Durchführung manchmal schwierig: in einer Demokratie haben das Volk bzw. dessen Vertreter über eine allfällige Aufhebung bzw. Einschränkung der Grundrechte zu bestimmen. Sollte eine Regierung auf die Idee kommen, sich darüber hinwegzusetzen, kann sie vom Volk bzw. vom Parlament abgewählt werden. Friedlich und ohne Blutvergiessen, wie Popper schrieb.
Individuelle Freiheit kann per se nicht absolut sein. Die Freiheit des einen findet ihre Grenze in der Freiheit des anderen. Nur die Art und Weise, wie diese Begrenzung festgelegt wird, soll uns hier zunächst interessieren. Es geht also erst einmal um die institutionellen Voraussetzungen der offenen Gesellschaft.
Die Demokratie allein genügt für den Schutz des einzelnen vor staatlichen Übergriffen in dessen Privatsphäre nicht. Der Schutz muss zusätzlich durch das Recht und unabhängige Gerichte gesichert sein. Hier treffen wir, was die Schweiz anbelangt, auf ein erstes Problem. Solange sich die Richter auf allen Stufen einer Wiederwahl durch eine politische Instanz stellen müssen, ist diese Unabhängigkeit nur unvollständig gewährleistet. Wie entscheidet ein Richter, wenn der politische Mainstream in eine bestimmte Richtung geht und seine Wiederwahl bevorsteht? Mir ist kein anderes Land bekannt, in dem die Richter sich periodisch wiederwählen lassen müssen. Das ist ein klarer Hinweis darauf, dass in der Schweiz aufgrund ihrer Geschichte das demokratische Prinzip den Vorrang vor dem rechtsstaatlichen Prinzip innehat. Ein weiterer Hinweis ist die Zulassung von grundrechtlich fragwürdigen Volksinitiativen. Aktuellstes Beispiel: die Ausschaffungsinitiative. Die Initianten pochen, nach ihrer Auffassung durchaus nachvollziehbar, auf die wortgetreue Umsetzung des Volkswillens. Doch die Ausschaffungsinitiative dürfte gegen internationales Recht verstossen und die Europäische Menschenrechtskonvention verletzen.
Der einzelne ist letztlich die kleinstmögliche Minderheit in einem Staat. Deshalb kennen rechtsstaatliche Demokratien einen Minderheitenschutz, der sich aus den individuellen Grundrechten ableiten lässt. Eine ungezügelte, alles dem Mehrheitsprinzip und also der Politisierung unterwerfende Demokratie hat totalitäre Züge – die demokratische Diktatur der Mehrheit kann für eine Minderheit genauso verheerende Folgen haben wie jede andere Diktatur. Der Stellenwert, den die Justiz in einem demokratisch verfassten Staat einnimmt, sagt deshalb viel aus über die Respektierung der Grundrechte des einzelnen.
Eine rechtsstaatliche Demokratie zeichnet sich durch Gewaltenteilung aus, durch «checks and balances». Von grosser Bedeutung ist die Kontrollierbarkeit der Tätigkeit von Regierung und Verwaltung, sowohl durch die Rechtspflege als auch durch die parlamentarische Aufsicht. Dabei muss ein tauglicher Kompromiss gefunden werden zwischen der Funktionsfähigkeit einer Regierung und der Möglichkeit, sie abzuberufen.
Regierungs- und Verwaltungstätigkeit müssen transparent sein, ihre Informationspraxis grosszügig. Das Volk soll wissen können, was der Staat macht, der für es da ist. Eine offene Informationspolitik liegt aber auch im Interesse der Regierung – nur so kann sie glaubwürdig agieren. Die Garantie der Medienfreiheit – nicht zu verwechseln mit der staatlichen Subventionierung von Medien – ist dabei von zentraler Bedeutung. Unabhängige und kritische Medien sind die vierte Gewalt im Staate, die Regierung und Verwaltung auf die Finger schaut. Je grosszügiger und offener die Informationspraxis von Regierung und Verwaltung ist, desto geringer wird die Recherchierlust der Medien und damit das Risiko, einzelne Vorkommnisse zur Unzeit und oft einseitig bzw. verzerrt an die Öffentlichkeit zu tragen.
Ich fasse zusammen: ohne Meinungsäusserungsfreiheit, Vereinsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Informationsfreiheit, Reli-gionsfreiheit, Recht auf persönliche Unversehrtheit, ohne Schutz der Minderheiten, ohne Pressefreiheit, ohne freie Wahlen und unabhängige Gerichte gibt es keine Demokratie und keine offene Gesellschaft.
Gesellschaftliche und ethische Voraussetzungen
Die offene Gesellschaft lebt freilich nicht allein von institutionellen Voraussetzungen. Neben den institutionellen Sicherungen ist sie – nicht minder bedeutend – auf gesellschaftliche, wirtschaftliche und moralische Voraussetzungen angewiesen.
Freiheit für persönliche Entscheidungen setzt ein Minimum an materieller Sicherheit voraus. Herrscht materielle Not, wird Freiheit leicht zur Illusion. Es ist Aufgabe des Sozialstaats, einer liberalen Errungenschaft, dieses Minimum zu garantieren. Die soziale Frage, die bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts ihre Berechtigung hatte, wird jedoch in den herrschenden europäischen Wohlfahrtsstaaten überdeckt durch immer neue Begehrlichkeiten immer neuer Interessengruppen, die von staatlichen Transferleistungen profitieren. Der heutige Sozialstaat geht weit über die Gewährleistung dieses Minimums hinaus, wobei sich abzeichnet, dass er sich auf Dauer nicht mehr finanzieren lässt. Heute stellt sich deshalb umgekehrt die Frage: wie offen und frei sind heute die europäischen Gesellschaften noch, wenn der Staat 50 Prozent und mehr der Wirtschaftsleistung des arbeitsfähigen und arbeitswilligen Teils der Bevölkerung beansprucht? Und wenn der Sinn des Staates je länger, je mehr darin zu liegen scheint, dem Bürger möglichst viel seiner Wünsche nach Sozial- und anderen Leistungen zu erfüllen? Ist das unerlässliche Minimum sozialer Existenzsicherung des Individuums zu Lasten der Freiheit anderer bereits überschritten bzw. wo liegt die Grenze zwischen sozialer Sicherheit und egalitärer Umverteilung? Wie die überschuldeten Wohlfahrtsstaaten eine massive wirtschaftliche Krise überleben sollen, in deren Folge den Staaten die nötigen Mittel plötzlich fehlen – diese Frage auch nur aufzuwerfen ist in der Politik ein Tabu. Sie wird uns in den nächsten Jahren zweifellos beschäftigen.
Der Wohlfahrtsstaat wurde immer weiter ausgebaut, als der Glaube an stetiges wirtschaftliches Wachstum dominierte. Heute ist er zu einem Förderinstrument in der Hand von Beamten und Interessenpolitikern geworden, zu dem, was Friedrich August von Hayek eine «wohlwollende Despotie» nannte, die von allen Parteien ganz demokratisch herbeireguliert wird. Die offene Gesellschaft setzt politische Vernunft und Augenmass voraus – zwei schlichte, menschliche Eigenschaften, die leider immer weniger Gehör finden.***
Eine offene Gesellschaft bedarf darüber hinaus des Gemeinsinns – ohne Gemein- und Verantwortungssinn wird das moralische Fundament des Staates brüchig. Das klingt vielleicht altmodisch, ist aber höchst aktuell. Unsere Gesellschaften sind heute weniger von aussen als von innen bedroht. Ein falsch verstandener Individualismus und Hedonismus unterminiert eine Erkenntnis, die auch unserer offenen Gesellschaft zugrunde liegt: alles Leben und Wirtschaften ist ein Geben und Nehmen. Ist es denn wirklich zu viel verlangt, dass man einen Teil seiner Arbeits- und Geisteskraft freiwillig jener Gesellschaft zur Verfügung stellt, in der man sich wohl fühlt und die am Erfolg des einzelnen ja nie ganz unschuldig ist, insofern sie ein fruchtbares Umfeld schuf?
Die europäischen Gesellschaften bilden sich viel auf ihre gesellschaftliche und kulturelle Toleranz ein. Das ist gut so, denn Toleranz gehört zu einer offenen Gesellschaft – sie ist Ausdruck des Respekts vor anderen Lebensentwürfen und -modellen. Doch auch in einer offenen Gesellschaft stellt sich die Frage nach den Grenzen der Toleranz. Eine undifferenzierte, allumfassende Toleranz ist letztlich eine Pseudotoleranz – tolerant mit Toleranten, intolerant mit Intoleranten, so lautete die Losung von Karl Popper.
In der geschlossenen Gesellschaft hat das Kollektiv den Vorrang vor dem Individuum. Man sollte meinen, dass die Frage nach der Priorität in einer Gesellschaftsordnung zu Beginn des 21. Jahrhunderts endgültig beantwortet sei. Der Nationalsozialismus und der Kommunismus haben sich als menschenverachtende Utopien erwiesen, der Versuch, sie in die Wirklichkeit umzusetzen, hat zu grauenvollen Konsequenzen mit Millionen von Opfern geführt. Popper schrieb treffend: «Der Versuch, den Himmel auf Erden einzurichten, erzeugt stets die Hölle.»
Noch nie haben so viele Menschen wie heute in demokratisch verfassten Staaten gelebt. Francis Fukuyama hat in einem vielbeachteten Essay von 1989 das Debakel der sozialistischen Verheissung als «Ende der Geschichte» beschrieben. Dabei verkennt er, dass auch Demokratien immer wieder neuen Gefährdungen ausgesetzt sind – Demokratien sind nicht nur der Beweis dafür, sondern beruhen geradezu auf der Idee, dass nichts auf dieser Welt endgültig ist.
In den noch jungen Demokratien steht der Kampf um die beschriebenen Institutionen und Rechte im Vordergrund. Das Ringen ist umso schwieriger, als sie gleichzeitig mit wirtschaftlichen Pro-blemen zu kämpfen haben werden und oft demokratische Traditionen fehlen – unter diesen Umständen gewinnt das Zurücksehnen der alten Zustände oft allzu schnell wieder die Oberhand. Viele Bürger erleben die Freiheit als bedrohlich, ebenso wie den rauhen Wind der freien Marktwirtschaft.
Doch auch die alten Demokratien sehen sich ständig neuen Problemen gegenüber und ringen um Antworten, gerade in jüngster Zeit. Es mag paradox klingen: der Zusammenbruch des diktatorischen Erzfeindes Sozialismus – ein Zusammenbruch, der nicht vom Westen herbeigeführt wurde, sondern ganz einfach der Kollaps eines durch und durch verrotteten Systems war – hatte für die freie Welt auch negative Folgen. Denn mit dem Verschwinden des Sozialismus fand auch der Kalte Krieg ein Ende und mit ihm die Auseinandersetzung zwischen freiheitlicher und totalitärer Ordnung, zwischen offener und geschlossener Gesellschaft. Der So-wjetimperialismus war nicht nur eine Gefährdung der westlichen Welt, deren Bekämpfung die westlichen Demokratien verband, sondern schärfte auch deren Bewusstsein für den Wert der eigenen demokratischen Institutionen. Freiheit wurde als wertvolles Gut erkannt, dessen Bewahrung gesellschaftliche und politische Kräfte zu mobilisieren vermag.
«Wir werden euch etwas Furchtbares antun: wir werden euch den Feind nehmen» (Georgi Arbatov, 1989). Die Frage, was aus offenen Gesellschaften wird, wenn sie keinen Gegner mehr haben, wird immer drängender. Bis vor zwanzig Jahren galten die politischen Leistungen dieser Gesellschaften, so diskutabel sie im einzelnen sein mochten, unbestritten als jenen des politischen Gegners überlegen. Seither müssen sie aus sich selbst heraus bestehen. Die Möglichkeit der Abgrenzung ist ihnen verwehrt. Der Preis für den Sieg der liberalen Ordnung ist deshalb hoch: am Ende steht nicht ein gestärktes Selbstbewusstsein, vielmehr dominieren Ermüdungserscheinungen, ein Rückzug ins Private, ein Leben auf Kosten anderer, ein Zerfall jener Werte, die während langer Zeit die Gesellschaft zusammenhielten.
Bedrohung der Demokratie durch neuen Totalitarismus
Es ist natürlich, aber dennoch bedauerlich: wir sind oft blind für unsere eigene Gesellschaftsordnung geworden. Es braucht deshalb Menschen von aussen, die uns nicht nur auf den Wert der Freiheit, sondern auch auf neue Bedrohungen aufmerksam machen. Im bereits zitierten Gespräch mit dieser Zeitschrift sagte Ayaan Hirsi Ali: «Menschen, die die Unfreiheit nicht am eigenen Leib erfahren haben, reagieren stets skeptisch auf meine Schilderungen. Sie wissen nicht, was es bedeutet, in einer offenen Gesellschaft zu leben, weil sie nichts anderes kennen.» Ayaan Hirsi Ali, eine gebürtige Muslima, im strengen Glauben erzogen, flüchtete nach Europa, später in die USA, und muss nun gegen ihren eigenen Clan rund um die Uhr polizeilich geschützt werden. Ihr «Verbrechen»: sie macht von dem Recht auf freie Meinungsäusserung Gebrauch und weist in ihren Vorträgen und Büchern nicht nur auf das Elend der jungen Mädchen und Frauen hin, sondern auch auf eine andere, grundlegendere Gefahr – auf die Gefahr, dass der Islam in seinem Kerngehalt genauso totalitär sei wie jene beiden totalitären Systeme, die wir im Europa des 20. Jahrhunderts erlebt haben und als endgültig für besiegt hielten. Nach Hirsi Ali neigen wir in Europa dazu, diese Gefahr zu verkennen. Genauso wie Kommunismus und Nationalsozialismus einen neuen Menschen erschaffen wollten und mit diesem neuen Menschen die Weltherrschaft anstrebten, wolle der Islam letztlich ein Weltkalifat errichten mit einem neuen islamistischen Menschen. Viele Muslime wandern nach Europa aus, nicht weil sie politisch verfolgt werden, sondern um Arbeit zu finden. Mit im Reisegepäck reisen ihr Glaube und ihre Vorstellungen einer geschlossenen Gesellschaft.
Freiheit und Verantwortung
Und wir? Wir verpassen uns einen Maulkorb, obwohl wir doch sonst die Tradition der Rede- und Meinungsfreiheit hochhalten. Sind wir der demokratischen Debattenkultur und also der Demokratie müde geworden?
Es lässt sich jedenfalls ein weitverbreitetes Unbehagen gegenüber der Politik feststellen, das sich in Wahlabstinenz und in einem markanten Prestigeverlust der Politiker äussert. Meinungsumfragen zufolge rangiert das Sozialprestige der Politiker ganz weit unten – knapp über jenem der Journalisten. Damit kommt ein Teufelskreis in Gang. Keine Wertschätzung, kein Prestige, eine hohe zeitliche Beanspruchung, der Verlust der Privatsphäre und das Risiko, zum «Medienopfer» zu werden – all dies schränkt die Bereitschaft qualifizierter entschlussfähiger Persönlichkeiten ein, ein politisches Amt zu übernehmen. Unausweichliche Folge ist, dass sich – Ausnahmen bestätigen die Regel – in Parlamenten und Regierungen zunehmend nur noch zweite Garnitur finden lässt. Es gehört zweifelsohne zu den Aufgaben der Medien, Regierung, Verwaltung und Parlament kritisch zu begleiten. Zum journalistischen Professionalismus gehören aber eben auch die genaue Recherche und der Anstand, zwei Prinzipien, die vor lauter Angst, einen reisserischen Primeur zu verpassen, oft zu kurz kommen.
Zukunft der offenen Gesellschaft
Was sind die Zukunftschancen jener Ordnung, die uns seit dem Zweiten Weltkrieg Freiheit und Wohlstand beschert hat? Die offene Gesellschaft kann und will dem einzelnen keinen Daseinssinn aufdrängen, sie vermittelt keine motivierenden Zukunftsbilder. Es ist gerade ihr Kerngehalt, dass sie dem einzelnen die Freiheit lässt, seine Entscheide selber zu treffen. In der offenen Gesellschaft sind auch die moralischen Horizonte offen, es ist eine Gesellschaft, in der – um mit Feyerabend zu sprechen – «anything goes». Damit haben viele Menschen Mühe. Seit der Antike ist der fatale Zyklus immer wieder beschrieben worden. Die jüngere Geschichte zeigt, dass es freie Gesellschaften zu einem Wohlstand bringen, der seinen Ursprung eben in der Offenheit und Freiheit der Grundordnung hat. Aus dem Wohlstand wird jedoch Luxus, ein Feind der öffentlichen Tugenden, und allmählich zerbricht das Fundament, auf dem die freie Ordnung errichtet wurde. Heute stellt sich die Frage, ob freie Gesellschaften die Voraussetzungen, die ihre Existenz auf Dauer gewährleisten, wenn nicht erzeugen, so doch wenigstens bewahren können.
Der geniale französische Denker Alexis de Tocqueville hat erstaunlicherweise bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, zur Zeit der Entstehung der modernen Demokratie, die zentralen Probleme vorausgesehen, mit denen freie Gesellschaften langfristig zu kämpfen haben. Zu den unabwendbaren Verhängnissen zählt er, dass die materiellen Interessen zuletzt die Überzeugungen verdrängen. Das Individuum gerate dadurch in eine moralische Isolation, sozusagen in eine Sinnkrise, ganz einfach deshalb, weil auch erfolgreich vertretene Interessen niemals jene Befriedigung gewähren, die aus der Behauptung bindender Wertvorstellungen erwachsen.
Gleichzeitig weist Tocqueville auf die Gefahr hin, dass sich der Staat, je hilfloser sich der Bürger fühlt, diesem gegenüber umso mehr als Betreuer und Fürsorger aufspielen kann, zumal wenn dessen Bedürfnisse rein materieller Natur sind. Der Staat wird zunehmend als Garant des Wohlstands verstanden und als Dienstleistungsbetrieb für jeden Lebensbereich in Anspruch genommen. Sein Erfolg wird daran gemessen, wie weit es ihm gelingt, den an ihn gerichteten Ansprüchen der Bürger gerecht zu werden. Diesen Gedanken hat im 20. Jahrhundert der deutsche Historiker Joachim Fest wieder aufgenommen. Er argumentiert, dass, wird das Glück als eine ausschliesslich materielle Kategorie verstanden, für deren Erfüllung der Staat aufzukommen hat, jede Unzufriedenheit, jede Einbusse auf ökonomischem oder sozialem Feld unweigerlich auf den Staat zurückschlägt. Er hat recht. Tatsächlich haben sich die modernen europäischen Demokratien bis vor kurzem nur in einem wirtschaftlich günstigen Umfeld bewähren müssen. Die in den vielen Ländern vorherrschenden Koalitionsregierungen regierten oft nach dem Prinzip: gibst du mir die Wurst, löschʼ ich dir den Durst. Diese Situation hat sich in den Demokratien Europas durch den Verlust des Masshaltens sowohl in der Wirtschaft wie in der Staatsführung in den letzten Jahren grundsätzlich verändert.
Das stete Wachstum der Wirtschaft beginnt in vielen Staaten diesseits und jenseits des Atlantiks dem Platz zu machen, was wir wohl eine Rezession nennen müssen. Der Verteilungskampf ist zu einem zentralen Thema der Politik geworden und dürfte in Zukunft zum Hauptpolitikum avancieren. Die relevante Frage für die offenen Gesellschaften der Zukunft lautet in der Tat: Woher nimmt ein Staat, dessen Hauptzweck die Befriedigung materieller Ansprüche geworden ist, seine Legitimation, wenn er seine Leistungen rea-listischerweise reduzieren muss, immer mehr Interessen- und Anspruchsgruppen gegen sich aufbringt und gleichzeitig kein Feindbild hat, das ihm dabei helfen könnte, die ganze Gesellschaft zu vereinen? Eine liberale Ordnung ist Garant für eine prosperierende Wirtschaft. Ebenso wahr ist freilich, dass keine andere Ordnung auf ähnlich existentielle Weise von den wirtschaftlichen Bedingungen abhängig ist. Die lang andauernde Hochkonjunktur hat uns diese offene Flanke der offenen Gesellschaft vergessen lassen.
Die gegenwärtige Wirtschaftslage in vielen Staaten ist im Begriff, zum grössten Prüfstein der liberalen Ordnung zu werden. Was ist von einem Staat und dessen Bürgern zu halten, die trotz der gegenwärtigen Wirtschaftslage einen Generalstreik anzetteln, wenn ihr Präsident das Rentenalter von 60 auf 62 (!) Jahre erhöht? So viel Weltfremdheit und Realitätsblindheit ist beunruhigend.
Damit wäre ich bei meinen anfangs formulierten Fragen angelangt. Wir müssen uns in offenen Gesellschaften damit abfinden, dass es in dieser Welt immer unbeantwortete Fragen und uneingelöste Hoffnungen gibt. Wir müssen zur Einsicht gelangen, dass niemand als wir selbst unserem Leben einen Sinn geben können. Wenn wir richtigerweise einen Staat ablehnen, der als Sinninstanz auftritt und uns für eine utopische Zukunft heute Opfer abverlangt, so hat die Sicherung der demokratischen Institutionen zur Garantie der persönlichen Freiheit eine umso grössere Bedeutung. Jeder ist aufgerufen, seinen Beitrag dazu zu leisten. Wo das individuelle Engagement schwindet, droht der Staat zuerst ungebremst zu wachsen – nur um dann irgendwann zu zerbrechen. Unwillkürlich kommt mir ein Wort von US-Präsident John F. Kennedy wieder in den Sinn: «Frage nicht, was dein Land für dich tun kann, sondern frage, was du für dein Land tun kannst.» Eine offene Gesellschaft zwingt uns nicht zu staatsbürgerlichem Engagement, entbindet uns aber auch nicht von ihm. Leben in einer offenen Gesellschaft ist ein Geben und Nehmen. Freiheit und Selbstverantwortung gehören zusammen. Das ist eine Form des Individualismus, die unserer Zeit gut anstünde.
* «Die Feinde der offenen Gesellschaft», Gespräch mit Ayaan Hirsi Ali, in: «Schweizer Monat», Nr. 988, Juli/August 2011, S. 60 ff.
** Siehe auch Karl Popper: «Eine objektive Theorie des historischen Verständnisses», in: «Schweizer Monatshefte», Juni 1970, S. 207 ff.