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Wettrüsten zwischen Intoleranten
Michael Hermann. Bild: Keystone/Christian Beutler.

Wettrüsten zwischen Intoleranten

Die Ablehnung von Personen mit anderen Meinungen ist links und rechts des politischen Spektrums gleichermassen verbreitet. Paradoxerweise rechtfertigen beide Seiten ihre Intoleranz mit der Verteidigung der Toleranz.

Quasi aus dem Nichts erfasste die Debatte über affektive Polarisierung im Sommer 2023 die Schweiz. Losgetreten wurde sie durch einen Artikel in der «Sonntagszeitung» mit dem Titel «Links, urban, gebildet – und intolerant».

Die Aufregung war gross, schliesslich zielte die Autorin Bettina Weber mitten ins Selbstverständnis der Linken, Urbanen und Gebildeten. Diese drei sich stark überlappenden Gruppen beanspruchen spätestens seit der 1968er-Bewegung die Tugend der Toleranz für sich, während Intoleranz mit ländlicher Engstirnigkeit, bildungsferner Ignoranz und mit rechten Ressentiments verbunden wird.

Weber drehte diese Auffassung kühn ins Gegenteil: Die vermeintlich Toleranten seien die wahrhaft Intoleranten. Die Autorin stützte ihre These auf eine Studie der Mercator-Stiftung zur affektiven Polarisierung in Europa. Dabei geht es, anders als bei der politischen Polarisierung, nicht um das Auseinanderdriften von Einstellungen. Affektive Polarisierung steht für ein Gefühlsgefälle zwischen der eigenen Gruppe und politisch Andersdenkenden. In den zehn von der Mercator-Studie abgedeckten EU-Staaten ist dieses Gefühlsgefälle insgesamt auf der linken Seite stärker ausgeprägt als auf der rechten.

Für Aufruhr sorgte der darauf aufbauende «Sonntagszeitung»-Artikel auch deshalb, weil er als empirische Bestätigung für linke «Wokeness» und «Cancel Culture» gelesen werden konnte. Tatsächlich hat die Mercator-Studie Licht auf einen Aspekt von Toleranz geworfen, der lange ausgeblendet wurde. Toleranz bedeutet nämlich nicht nur, andere Lebensweisen zu akzeptieren, sondern auch, andere politische Meinungen auszuhalten.

Nicht nur Linke hegen Antipathien gegen die SVP

Zu einer offenen Gesellschaft gehört die Pluralität politischer Einstellungen. Wer gegenteilige Meinungen allzu schnell als unerträglich abtut, ist nicht bereit, die eigenen zu korrigieren, und stellt sich gegen den Wettstreit der Ideen. Er oder sie tendiert dazu, sich in Blasen von Gleichgesinnten zurückzuziehen, in denen die Überlegenheit der eigenen Position fortlaufend ­bestätigt wird und keine Widersprüche ausgehalten werden müssen. Wer die Befunde zur linken Intoleranz mit Genugtuung zur Kenntnis nimmt, sei jedoch gewarnt: Mangelnde Toleranz erkennt man immer am leichtesten bei den anderen.

Die Mercator-Studie erfasst die Akzeptanz von Andersdenkenden über den Umweg von politischen Themen. Sie fragt etwa nach den Gefühlen gegenüber Personen, denen «die politischen Massnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels noch lange nicht weit genug gehen». Könnte es nicht sein, dass diese Art von Frage eher die politische Erregtheit beim Thema Klimawandel misst als die Akzeptanz von konkreten, andersdenkenden Personen?

Einen simpleren und direkteren Ansatz zur Erfassung der affektiven Polarisierung haben wir von Sotomo für die Schweiz gewählt. Im Herbst 2023 untersuchten wir, wie Personen beurteilt werden, die einer bestimmten Partei nahestehen. Die auf diese Art gemessene affektive Polarisierung ist ausgesprochen symmetrisch (Abbildung 1).

Wohl richten sich die negativsten Gefühle gegen die Anhängerschaft der rechtsstehenden SVP. Diese negativen Gefühle kommen jedoch nicht nur von links, sondern auch aus der Mitte. Die Basis der FDP urteilt dagegen negativer über das rot-grüne Milieu als umgekehrt. Das Maximum an Antipathie findet sich in perfekter Symmetrie zwischen den Wählenden der Grünen und der Basis der SVP. Beide sind für die jeweils anderen ein rotes Tuch. Konkrete «Grüne» lösen auf der rechten Seite durchaus starke Antipathien aus.

«Das Maximum an Antipathie findet sich in perfekter Symmetrie

zwischen den Wählenden der Grünen und der SVP.»

Noch heftiger wird es, wenn sich Klimaaktivisten aus Protest gegen mangelhafte Klimamassnahmen auf die Strasse kleben. Auch das haben wir empirisch untersucht. Im Herbst 2023 gehörten die «Klimakleber» neben der «woken» Anhängerschaft des Gendersterns zu den grössten wahrgenommenen politischen Ärgernissen der Schweiz, und zwar im gesamten bürgerlichen Spektrum. Politische Erregtheit ist kein Privileg der Linken. Dies zeigen zumindest die empirischen Erkenntnisse aus der Schweiz. Politische Intoleranz findet sich an beiden Enden des politischen Spektrums.

Rechts ist Antisemitismus verbreiteter

Für die Beurteilung von Toleranz und Intoleranz ist wichtig, dass sich der Toleranzbegriff nicht auf die Akzeptanz anderer politischer Meinungen beschränkt. So gehört auch heute, fast 250 Jahre nach der Uraufführung von Lessings «Nathan der Weise», religiöse Toleranz zum Kern dieses Konzepts. In einer Befragung, die wir nach dem Hamas-Terrorangriff vom 7. Oktober 2023 durchgeführt haben, zeigt sich dabei ein klares Bild: Es sind die Wähler der SVP, welche die negativsten Gefühle gegen Menschen anderer Glaubensgemeinschaften hegen (Abbildung 2). Muslime stehen bei der SVP-Basis als Feindbilder fast auf Augenhöhe mit den Grünen.

Dem verbreiteten Vorwurf des «linken Antisemitismus» zum Trotz finden sich bei der SVP-Anhängerschaft auch gegenüber Menschen jüdischen Glaubens die negativsten Gefühle. Eine weitere Dimension der Toleranz ist die Akzeptanz unterschiedlicher sexueller Orientierungen und Identitäten, und auch hier zeigen Umfragen rechts geringere Akzeptanz als links.

Das Verteilen von Toleranznoten steht hier jedoch nicht im Zentrum, interessanter ist das Erkennen der Mechanismen, die bei der affektiven Polarisierung am Wirken sind. Warum hat der Vorwurf der linken Intoleranz eine derart heftige und emotionale Debatte ausgelöst? Es ist ein verhängnisvoller Satz in Karl Poppers Meisterwerk «Die offene Gesellschaft und ihre Feinde», der den Schlüssel dafür liefert: «Wenn wir nicht bereit sind, eine tolerante Gesellschaftsordnung gegen die Angriffe der Intoleranz zu verteidigen, dann werden die Toleranten vernichtet werden und die Toleranz mit ihnen.»

Popper hat recht: Toleranz darf nicht zum Akzeptieren von Menschenfeindlichkeit führen. Die offene Gesellschaft muss sich gegen autoritäre und totalitäre Anmassungen verteidigen. Das Problem an seinem Toleranzparadoxon ist jedoch, dass es sich leicht für politische Agitation missbrauchen lässt. Auf der rechten Seite wird die Gefahr des Islamismus zum Vorwand für eine pauschale Ablehnung von Menschen islamischen Glaubens. Linke diffamieren unangenehme politische Meinungen und behaupten, damit bloss Toleranz gegen Intoleranz zu verteidigen. Dies wiederum ermächtigt Rechte zum Angriff auf eine vermeintlich intolerante Linke und ihre «Cancel Culture».

Bewaffnet mit Poppers Argument, lauern allzu viele nur darauf, jeglicher wahrgenommener Intoleranz mit eigener Intoleranz zu begegnen. Auf die Genderstern-Pflicht folgt das Genderstern-Verbot. Die Aufrüstungsspirale der Intoleranz im Namen der Toleranz ist der eigentliche Treiber einer sich aufschaukelnden affektiven Polarisierung. Im Kern geht es dabei um den Versuch, den politischen Gegner aus der Sphäre des Akzeptablen zu drängen. Im Sog eines neuen, schrillen Kulturkampfs werden die Toleranten vielleicht nicht gerade vernichtet – auf der Strecke bleibt dennoch die Toleranz und mit ihr die demokratische Kultur.

Zu einer offenen, pluralen Gesellschaft gehört das Aushalten anderer Meinungen. Das gilt für Rechts wie für Links. Provokative Überzeichnungen und gehässige Anschuldigungen gegen Andersdenkende drehen nicht nur das Rad der affektiven Polarisierung immer weiter, sie tragen letztlich selbst zu jener Erosion der offenen Gesellschaft bei, vor der sie warnen.

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