Wettbewerb im Interesse der Bürger
Der Föderalismus wird oft als ineffizient kritisiert. Aus ökonomischer Sicht ist er aber besser als sein Ruf.
Die Coronapandemie trifft auf eine Welt, die sich in einem intensiven Systemwettbewerb befindet. Gegenüber stehen sich das politisch und wirtschaftlich aufstrebende China und der Westen – in erster Linie die USA, aber trotz des Wunsches nach einer losgelösten Rolle genauso die Mitgliedstaaten der Europäischen Union zusammen mit weiteren im westlichen Bündnis, etwa in der Nato, verankerten Staaten. In diesem Wettbewerb werden regelmässig Vergleiche gezogen – wer besser mit der Pandemie und ihren wirtschaftlichen Auswirkungen zurechtkommt, wer welche Fehler macht und warum es woanders in dem einen oder anderen Politikbereich besser aussieht. Beispielsweise blickte die Öffentlichkeit in den (mehrheitlich) deutschsprachigen Ländern, Deutschland, Österreich und der Schweiz, im Sommer 2020 etwas hochmütig auf die Coronalage in den Vereinigten Staaten, nur um im Frühjahr 2021 festzustellen, dass die USA zusammen mit Israel eine erfolgreichere Impfkampagne zu realisieren in der Lage sind als die Europäer.
Vor diesem Hintergrund wird wieder über die Vor- und Nachteile des Föderalismus debattiert. In Deutschland wird der Ministerpräsidentenkonferenz als Element des kooperativen Föderalismus die Schuld an der unzureichenden Bekämpfung der dritten Welle und an der kaum in die Gänge kommenden Impfstrategie gegeben. In Österreich beobachtet man ähnliche Schuldzuweisungen, wobei der Einfluss der Interessengruppen auf der Ebene der Bundesländer etwas stärker betont wird. In der Schweiz machen manche den «Kantönligeist», vornehmer ausgedrückt die kantonale Entscheidungsautonomie als Element des wettbewerblichen Föderalismus, für die relativ spät ergriffenen Schliessungsmassnahmen zur Eindämmung der zweiten Infektionswelle verantwortlich.
Unbeschadet der Tatsache, dass so mancher stärker zentralisierte Staat, etwa Italien und Spanien, vor allem aber das unitarische Frankreich und trotz einer erfolgreicheren Impfkampagne das Vereinigte Königreich, kaum besser durch die Krise kommen, dass in dieser Diskussion, ganz unwissenschaftlich, andere Einflussfaktoren, etwa kulturelle Unterschiede zwischen Asien und dem Westen, die Rolle des Datenschutzes und der Rechtsstaatlichkeit allgemein oder unterschiedlich hohe Sicherheitsbedürfnisse bei der Zulassung von Impfstoffen, völlig unberücksichtigt bleiben: Der Föderalismus steht wieder am Pranger.
Zwiespältige Machtkonzentration
Ein schlechter Ökonom schriebe hier, wenn nicht sogleich ein «einerseits – andererseits» folgte. Der Föderalismus ist in den klassischen Bundesstaaten, also Australien, Deutschland, Kanada, Österreich, der Schweiz und den Vereinigten Staaten, ein Kompromiss des Wunsches nach mehr Einigkeit, also einem Bund vor allem in Verteidigungsfragen, und der selbstbewussten Sicherstellung der Souveränität und Eigenständigkeit der jeweiligen Gliedstaaten: Einheit in Vielfalt.
Das ist natürlich stark vereinfachend und jeder dieser Bundesstaaten hat seine ganz eigene Geschichte und dadurch ebenso eigene Ausprägung des Föderalismus. Gleichwohl hat dieses Modell eines Zentralisierungsprozesses bei Wahrung von Autonomie etwas für sich. Es führt zur Charakterisierung vertikaler Beziehungen, also etwa dem Element der vertikalen Gewaltenteilung, und horizontaler Beziehungen, also wie sehr die Gliedstaaten ihre eigene Politik betreiben können und dadurch im Wettbewerb zueinander stehen.
Der Vorteil in der vertikalen Dimension liegt auf der Hand: Machtmissbrauch durch die zentralstaatliche Ebene wird erschwert. Ein «Durchregieren» ist nicht möglich. Selbst im relativ stark zentralisierten deutschen Bundesstaat bleiben die Länder völlig eigenverantwortlich in der Verwaltung von Politik, in der Coronakrise etwa der Umsetzung der Impfstrategie. Ein Nachteil ergibt sich als Kehrseite der Gewaltenteilung: Die politischen Prozesse erscheinen ineffizient, sind verlangsamt. Föderalismus und vertikale Gewaltenteilung schaffen neue Vetopositionen für politisch einflussreiche Spieler, nicht zuletzt für Interessengruppen. Zudem schafft Föderalismus eine Zerstreuung von Verantwortung. Es ist nicht eine einzige politische Führungsfigur, wie etwa der französische Präsident, die als Projektionsfläche von Erfolg und Misserfolg einer Politik fungiert. Verantwortlich sind verschiedene Entscheidungsträger, und sie schieben gerne Verantwortung auf die jeweils anderen ab.
Besonders in Krisen treten die hier beschriebenen Zielkonflikte wie in einem Brennglas zutage. Immer wieder erschallt im Anschluss an die Kritik des Föderalismus der Ruf nach mehr politischer Führung. Ökonominnen und Ökonomen kommt das meistens entgegen, denn sie verwenden in ihren Analysen zumeist den zentralstaatlichen wohlwollenden Diktator als politischen Entscheidungsträger, der effizient zu handeln vermag. Dummerweise ist ein (Zentral-)Staat, der in der Lage ist, effizientes staatliches Handeln sicherzustellen, zugleich in der Lage, die Verfügungsrechte von Menschen zu verletzen. Sinn vertikaler Gewaltenteilung ist es gerade, dies zu verhindern. Zur Abmilderung der Zielkonflikte haben manche Staaten spezifische, verfassungsrechtlich gewährte Kriseninstrumente, wie etwa eine Notstandsgesetzgebung. Die Schweiz kennt den dringlichen Bundesbeschluss, der erst ex post sanktioniert werden kann.
Noch etwas anderes bleibt bei einer solchen Betrachtung auf der Strecke. Der Wunsch nach Eigenständigkeit der Gliedstaaten ist Ausdruck unterschiedlicher politischer Präferenzen. Die Menschen in Basel wollen politisch zuweilen eine andere Lösung als diejenigen in Zürich, Bern oder Genf, ganz zu schweigen von Uri, Schwyz und den beiden Unterwalden. In Bayern «ticken die Uhren anders» als in Berlin. Kalifornien verlässt sich stärker auf den Staat als Texas. Die politischen Entscheidungsträger der Gliedstaaten sind näher an den Menschen und ihren Bedürfnissen.
Die Verheissung des Föderalismus in der ökonomischen Literatur knüpft an dieser Dezentralisierungsüberlegung an. Gliedstaaten bieten unterschiedliche Politik an, finanziert mit unterschiedlich hohen Steuern, so dass Bürgerinnen und Bürger die aus ihrer Sicht, also gemäss ihren Präferenzen, günstigste Steuer-Politik-Kombination auswählen können. Die Auswahl findet beispielsweise durch Wanderung statt – voting by feet. Wallace Oates hat daran sein Dezentralisierungstheorem geknüpft: Dezentrale Leistungserstellung und Finanzierung sind effizient, wenn deren Nutzniesser, Kosten- und Entscheidungsträger personell übereinstimmen, diese Gruppen somit kongruent sind.
An dieser Annahme lässt es sich reiben. So untersucht die Wissenschaft, was passiert, wenn die Annahme nicht erfüllt ist, wenn Externalitäten oder Netzwerkeffekte auftreten oder Skaleneffekte in der Leistungserstellung erzielt werden können. Skaleneffekte lassen sich beispielsweise in der Landesverteidigung realisieren. Netzwerkeffekte finden sich in der öffentlichen Infrastruktur. Externe Effekte sind vielfältig. Eine Pandemie ist sozusagen die Mutter der Externalitäten: Covid-19 kümmert sich nicht um die Grenze zwischen Appenzell Innerrhoden und Appenzell Ausserrhoden.
Effiziente Politik, leistungsfähige Wirtschaft
Dieses holzschnittartig beleuchtete Für und Wider den Föderalismus lässt Kritiker der aktuellen Coronapolitik etwas ratlos zurück. Ist der Föderalismus denn nun gut oder schlecht? Das lässt sich nicht so einfach beantworten. Es kommt auf seine konkrete Ausgestaltung an. Jedenfalls ist es entscheidend, empirische Evidenz zurate zu ziehen und damit möglichst vergleichend auf real existierende Staatsorganisationen zurückzugreifen. Selbst dann hält die Empirie nur Durchschnittsbetrachtungen dafür bereit, ob eine bestimmte Organisation des Föderalismus gemessen an Performanzkriterien günstiger abschneidet als eine andere. Dann kann es immer noch sein, dass diese ganz bestimmte Ausprägung des Föderalismus in ganz bestimmten Fällen – etwa einer Pandemie – trotzdem relativ schlechter dasteht.
In einer umfassenden Studie zum Schweizer Föderalismus haben Christoph Schaltegger und ich, zusammen mit unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, uns mit den ökonomischen Wirkungen des Föderalismus befasst.1 Neben neuer empirischer Evidenz für die Schweiz stellen wir in einer Übersicht der theoretischen und empirischen Literatur auf Ergebnisse in anderen Ländern ab.
Im Durchschnitt schneidet der Föderalismus in den vorliegenden empirischen Analysen relativ gut ab. Dies gilt vor allem für den wettbewerblichen Föderalismus Schweizer Prägung. Der intensive Wettbewerb zwischen den Kantonen hat zwar gewisse Auswüchse, die man kritisch sehen kann. Aber letztlich führt er zu einer relativ effizienten Politik. Gerade wettbewerbliche Elemente wie der kantonale Steuerwettbewerb wirken produktivitätssteigernd, weil die dadurch bedingten Einschränkungen der Staatstätigkeit und -ausgaben zu höherer Effizienz zwingen. Dies erhöht die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der kantonalen Volkswirtschaften und geht interessanterweise mit einer ausgeglicheneren individuellen Einkommensverteilung vor Steuern und Transfers einher.2 Mit systematischer Evidenz bestätigen diese Analysen die deskriptiven Ergebnisse in unterschiedlichen Rankings, ob zur Wettbewerbsfähigkeit, zur Innovationsfähigkeit oder zur ökonomischen Freiheit. Häufig finden sich klassische Bundesstaaten in den Top Ten solcher Rangordnungen.
Nach Bewältigung der Coronapandemie werden wir besser wissen, wie der Föderalismus in einer so schwierigen Krisensituation abschneidet. Noch ist es dazu zu früh. Es ist somit auch zu früh, den Stab über den Föderalismus zu brechen. Vielmehr lässt die bisherige Evidenz den Schluss zu, dass er besser ist als sein Ruf.
Lars P. Feld, Christoph A. Schaltegger et al.: Föderalismus und Wettbewerbsfähigkeit in der Schweiz. Zürich: NZZ Libro, 2017. ↩
Lars P. Feld, Christian Frey, C. A. Schaltegger und Lukas Schmid: Fiscal Federalism and Income Inequality: An Empirical Analysis for Switzerland. In: Journal of Economic Behavior and Organization 185, 2021, S. 463–494. ↩