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Weshalb die Redefreiheit fundamental ist

Das Recht zur freien Meinungsäusserung erscheint uns heute so selbstverständlich, dass es keiner Verteidigung bedarf. Das ist ein Irrtum.

Weshalb die Redefreiheit fundamental ist
Steven Pinker, photographiert von Rose Lincoln /Harvard University.

Mehr als zwei Jahrhunderte, nachdem die Redefreiheit («First Amendment») in der amerikanischen Verfassung verankert worden ist, dominiert das Thema auf einmal wieder die Schlagzeilen – nicht nur in den USA. «Campus Speech Codes», von Uni-Abschlussfeiern ausgeladene Redner, inhaftierte Performancekünstlerinnen, vertriebene Whistleblower, ein Blogger, der von einem der engsten Verbündeten des Westens zu 1000 Peitschenhieben verurteilt wurde, und nicht zuletzt ein Anschlag auf französische Karikaturisten zwingen die demokratische Welt, sich der unbequemen Frage zu stellen, wie ernst es ihr mit ihrem Bekenntnis zur Redefreiheit ist.

Handelt es sich bei der Redefreiheit lediglich um ein Symbol, ähnlich einer Flagge oder einem nationalen Wahlspruch? Ist die Redefreiheit relativ, müssen wir sie gegen andere Werte abwägen und je nachdem auch einmal auf sie verzichten? War Papst Franziskus im Recht, als er sagte: «Jede Religion hat eine Würde, und man kann sich darüber nicht lustig machen»? Dürfen Universitäten die einen Studenten mundtot machen, um die Empfindlichkeit der anderen nicht zu verletzen? Haben die «Charlie Hebdo»-Karikaturisten die «Grenze überschritten, die die Redefreiheit von der Hetze trennt», wie der Rektor einer Journalistenschule meinte? Oder handelt es sich bei der Redefreiheit um ein fundamentales Recht – ein Recht, das zwar nicht absolut ist, aber nur in sehr eindeutigen und vorsichtig umschriebenen Fällen ausser Kraft gesetzt werden darf?

Die Antwort lautet, dass die Redefreiheit in der Tat ein Grundrecht ist. Es ist wichtig, dass wir uns daran erinnern, weshalb dem so ist. Nur dann haben wir stets eine Begründung zur Hand, wenn dieses Recht in Frage gestellt wird.

Ein erster Grund: wenn wir uns fragen, ob die freie Rede ein Grundrecht ist, dann tun wir nichts anderes, als Ideen auszutauschen und zu bewerten. Das können wir nur deshalb, weil wir davon ausgehen, dass wir ein Recht dazu haben, Ideen auszutauschen und zu bewerten. Wenn wir über die Redefreiheit (oder ein beliebiges anderes Thema) reden, dann reden wir. Wir regeln unsere Differenzen weder mit Armdrücken noch mit einem Schönheitswettbewerb oder einem Pistolenduell. Solange Sie nicht willens sind, sich mit den Worten des Journalisten Nat Hentoff «free speech for me but not for thee» (Redefreiheit für mich, aber nicht für dich) selbst zu diskreditieren, haben Sie als Gegner der Redefreiheit in jenem Augenblick verloren, in dem Sie beschliessen, an einer freien Debatte zum Thema teilzunehmen, um sich gegen die Redefreiheit auszusprechen.

Wem diese logische Argumentation nicht zusagt, den überzeugt vielleicht ein Argument aus menschlicher Erfahrung. Man könnte sich eine Welt vorstellen, in der Wahrsager, Propheten, Päpste, Phantasten, Imame oder Gurus als einzige Zugriff auf eine Wahrheit haben, die nur ihnen gewährt wird und in der es dumm, ja kriminell vom der Rest der Welt wäre, diese Wahrheit zu hinterfragen. Die Geschichte lehrt uns, dass das nicht die Welt ist, die wir bewohnen. Die Geschichte, die Wissenschaft und der gesunde Menschenverstand haben wieder und wieder auf teils witzige Weise aufgedeckt, dass Leute, die behaupten, die Wahrheit gepachtet zu haben, vollkommen daneben liegen.

Die traditionellen Quellen unseres Wissens erzeugen in Wahrheit lauter Irrtümer und taugen als Wissensgrundlage nicht: dies ist die wohl grösste Entdeckung in der Geschichte – eine Entdeckung, die jeder anderen Entdeckung vorangeht. Das gilt sowohl für Glauben, Offenbarungen, Dogmen, Autoritäten, Charisma, Weissagungen, Prophezeiungen, Omen, Intuitionen, Hellseherei, Charisma, Mehrheitsmeinungen wie für subjektive Gewissheiten.

Aus welcher Quelle kann sich also unser Wissen speisen? Abgesehen von mathematischen Theoremen, die sich nicht mit der materiellen Welt beschäftigen, liegt die Antwort in einem Prozess, den der Philosoph Karl Popper «Vermutungen und Widerlegungen» genannt hat: Wir entwickeln Ideen über die Natur der Realität und überprüfen, ob diese mit der Wirklichkeit übereinstimmen, erlauben es der Welt also, unsere Ideen zu widerlegen. Der «Vermutungs»-Teil dieser Formel ist natürlich nur dann möglich, wenn Redefreiheit herrscht. Wir müssen eine Vermutung äussern können, ohne eine vorhergängige Versicherung zu haben, dass sie korrekt ist. Nur dadurch, dass wir verschiedene Ideen entwickeln, um daraufhin zu prüfen, welche dieser Ideen sämtlichen Widerlegungsversuchen widerstehen, können wir neues Wissen erwerben.

Als die Menschen dies während der Aufklärung realisierten, stand ihr traditionelles Weltverständnis auf einmal kopf. Die Entdeckung, dass die Erde um die Sonne kreist und nicht umgekehrt, hatte zuerst massiven Widerstand von Seiten der kirchlichen Autoritäten zu überwinden. Doch die kopernikanische Revolution war bloss der Anfang eines Umwälzungsprozesses, der letztlich dafür gesorgt hat, dass unser heutiges Weltverständnis für unsere Vorfahren unverständlich wäre. Alles, was wir über die Welt wissen – das Alter unserer Zivilisation und Spezies, unseres Planeten und des Universums; der Stoff, aus dem wir bestehen; die Gesetze, die Materie und Energie bestimmen; die Funktionsweise von Körper und Geist –, galt ursprünglich als Beleidigung von unantastbaren Dogmen. Heute wissen wir, dass die geliebten Überzeugungen einer Zeit und Kultur jederzeit widerlegt werden können. Zweifellos wird das auch für viele unserer heutigen geliebten Überzeugungen gelten.

Ein dritter Grund, weshalb die Redefreiheit ein für das Wohlergehen der Menschheit grundlegendes Recht darstellt, besteht darin, dass sie eine grundlegende Voraussetzung der Demokratie und ein Bollwerk gegen die Tyrannei bildet. Wie gelangten die monströsen Regierungen des 20. Jahrhunderts an die Macht und schafften es, diese Macht zu erhalten? Indem eine Gruppe bewaffneter Fanatiker ihre Kritiker und Gegner mundtot machte. Der Wahl von 1933, die den Nazis die Mehrheit verschaffte, waren Jahre der Einschüchterung, des Mordes und des gewalttätigen Chaos vorangegangen. Einmal an die Macht gelangt, machten die neuen totalitären Herrscher jedwede Kritik strafbar. Das gilt auch für zwar weniger genozidale, aber dennoch brutale heutige Regimes wie diejenigen in China, Russland, afrikanischen Despotien und zahlreichen islamischen Ländern.

Weshalb dulden Diktatoren keine abweichenden Meinungen? Schliesslich könnte man sich auch einen Autokraten vorstellen, der seine Schäfchen bereits ins Trockne gebracht hat und alle seine Privilegien angreifenden Menschen bereits getötet oder verhaftet hat, während seine machtlosen Untertanen frei sind, sich so oft und offen zu beschweren, wie sie wollen. Es gibt allerdings einen guten Grund, weshalb Diktaturen nicht so funktionieren. Die verarmten Untertanen eines tyrannischen Regimes lassen sich nämlich nichts vormachen: Sie wissen, dass sie nicht glücklich sind. Wenn zehn Millionen desillusionierter Bürger sich zusammenschlössen, wäre wohl kein Regime stark genug, um ihnen zu widerstehen. Der Grund, weshalb die Bürger eines Unrechtsstaates nicht massenhaft Widerstand leisten, liegt einzig darin, dass es ihnen an Bewusstsein mangelt – sie wissen nicht, dass alle anderen ihre Unzufriedenheit teilen. Wer sich gegen ein despotisches Regime stellt, riskiert sein Leben oder zumindest seine Freiheit. Niemand wird sich trauen zu protestieren, solange er nicht sicher sein kann, dass viele andere Menschen gleichzeitig bereit sind, dasselbe Risiko einzugehen.

Allgemeinwissen wird durch öffentliche Informationen gebildet, wie zum Beispiel durch veröffentlichte Stellungnahmen. Die Geschichte «Des Kaisers neue Kleider» illustriert die dahinterliegende Logik: Wenn der kleine Junge hinausschreit, dass der Kaiser nackt ist, erzählt er nichts, das die Leute oder er selbst nicht bereits wissen oder mit eigenen Augen sehen können. Doch der Junge verändert dennoch das Wissen der Bürger, denn nun erst wird allen klar, dass allen anderen auch klar ist, dass der Kaiser nackt ist. Und dieses öffentliche Wissen ermutigt die Untertanen, die Autorität des Kaisers durch ihr Gelächter zu untergraben.

Diese Geschichte erinnert uns daran, weshalb Humor nicht zum Lachen ist – und weshalb Satire, sie mag noch so kindisch und geschmacklos sein, in Autokratien gefürchtet und von Demokratien geschützt wird. Unmerklich gelingt es der Satire, die stillschweigenden Annahmen, die den Menschen bereits in Fleisch und Blut übergegangen sind, in Frage zu stellen. Sie zwingt die Leute dazu, einzusehen, dass ihre Annahmen absurde Konsequenzen mit sich bringen.

Aus diesem Grund hat der Humor oftmals den sozialen Fortschritt beschleunigt. Voltaire, Swift und Johnson, die «Klugscheisser» des 18. Jahrhunderts, zogen die Kriege, Unterdrückungsversuche und grausamen Praktiken ihrer Zeit ins Lächerliche. In den Sechzigern porträtierten Komiker und Künstler Rassisten als begriffsstutzige Neandertaler und Vietnamkriegsbefürworter und sonstige Kalte Krieger als amoralische Psychopathen. In der Sowjetunion und ihren Satellitenstädten blühte derweil der satirische Untergrund, wie beispielsweise in einer berühmten Unterscheidung zwischen den beiden damaligen Ideologien: «Der Kapitalismus ist die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen; der Kommunismus ist das genaue Gegenteil davon.»

Wir machen von boshaften Scherzen Gebrauch, um die Macht derjenigen Leute zu untergraben, die uns unterdrücken, nicht nur politisch, sondern auch im Alltag: der tyrannische Chef, der scheinheilige Priester, der Aufschneider in der Bar, der regelbesessene Nachbar.

Natürlich hat auch die freie Rede ihre Grenzen. Für Betrug, Verleumdung, Erpressung, die Preisgabe militärischer Geheimnisse oder die Anstiftung zu kriminellen Handlungen gelten Ausnahmen. Doch diese Ausnahmen müssen strikt festgelegt und auf einer individuellen Basis gerechtfertigt werden; sie sind keine Entschuldigung, die Redefreiheit so zu behandeln, als wäre sie ein ersetzbares Gut. Die Despoten zahlreicher sogenannter «Demokratischer Republiken» sind geübt darin, politische Gegner unter der vorgeblichen Anklage von Verrat, Verleumdung und Anstiftung zu kriminellem Handeln zu inhaftieren. Selbst das eigentlich eher laxe britische Verleumdungsgesetz wurde bereits mehrfach missbraucht, um die Kritiker von politischen Figuren, Oligarchen oder Holocaustleugnern und Quacksalbern zum Verstummen zu bringen. Selbst die berühmte Ausnahme von der Redefreiheit, dass es nämlich trotz Redefreiheit nicht erlaubt ist, in einem vollen Theater laut «Feuer!» zu brüllen, die 1919 von Oliver Wendell Holmes, Richter am Obersten Gerichtshof der USA, erfunden wurde, lässt sich leicht missbrauchen und wurde nicht zuletzt durch Holmes selbst missbraucht. Er verurteilte nämlich einen Mann, der während des Ersten Weltkriegs Flugblätter verteilt hatte, auf denen Männer dazu ermuntert wurden, dem Einrückbefehl keine Folge zu leisten. Ein klarer Fall einer Meinungsäusserung, wie sie in einer Demokratie möglich sein sollte.

Wenn Sie meiner Argumentation widersprechen, wenn Sie meine Logik mangel- und meine Ausführungen fehlerhaft finden, dann steht vor allem ein Recht hinter Ihrer Möglichkeit, diese Kritik auch zu äussern: das Recht auf freie Meinungsäusserung.

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