Werkzeug der Diktaturen
Wie künstliche Intelligenz bestehenden und potentiellen Autokraten in die Hände spielt.
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Der Staatssicherheitsdienst der DDR, die Stasi, ist eine der durchdringendsten Geheimpolizeiorganisationen, die jemals operiert haben. Sie wendete enorme Ressourcen zur Überwachung und Kontrolle jeglicher Informationsflüsse auf; so zählte sie 1989 fast 100 000 Mitarbeiter und mindestens 500 000 Informanten (bei einer Bevölkerung von etwa 16 Millionen). Aufgrund des so weit reichenden Netzes von Agenten und Verbündeten war die Präsenz der Stasi in allen Bereichen des ostdeutschen Lebens zu spüren: Sie hörte Telefone ab, überwachte persönliche und familiäre Beziehungen und inspizierte sogar Post. Die Stasi war ein Beispiel dafür, wie eine Diktatur zwecks des Machterhalts grossen Gefallen an der Unterdrückung ihrer Bürger fand.
Die meisten Diktaturen haben weder die Ressourcen noch die Fähigkeiten, um das ostdeutsche Modell nachzuahmen. Mit dem Aufkommen neuer Technologien ist das allerdings auch nicht mehr nötig: Digitale Werkzeuge bieten den autokratischen Machthabern einfache und kostengünstige Alternativen zur Befriedigung ihrer Überwachungsgelüste. Nicht selten übertreffen die neuen Methoden sogar die kühnsten Träume des Beamtenstabs der ehemaligen DDR.
Digitale Omnipotenz
China steht bei dieser Entwicklung an vorderster Front. Das Regime von Xi Jinping und der Kommunistischen Partei ist heute das Paradebeispiel der digitalen Diktatur: Es verwendet zum Beispiel auf künstlicher Intelligenz basierende Überwachungstechniken, um unglaubliche Mengen an Informationen über seine Bürger anzuhäufen, von ihren Steuererklärungen bis hin zu ihren Krankenakten. «Soziale Kreditpunkte» sollen sicherstellen, dass die Bürger den Verhaltensrichtlinien des Regimes gerecht werden. In der Region Xinjiang setzt die Regierung unter anderem Gesichtserkennungssoftware ein, um die uigurische Bevölkerung rund um die Uhr zu überwachen und durchzusetzen, wer bestimmte Kontrollpunkte passieren darf. Die allgegenwärtige Präsenz der Überwachungskameras ermöglichte die Inhaftierung von über einer Million Uiguren.
Neue digitale Werkzeuge verbessern auch das Zensurpotenzial des chinesischen Regimes: Mit der «Great Firewall» kann die Regierung riesige Mengen von Internetinhalten durchforsten, filtern und blockieren. Unliebsame Stimmen und Kritiker des Regimes können so gezielt, effizient und fast augenblicklich zum Schweigen gebracht werden. Diktaturen können die neuen Technologien auch nutzen, um die öffentliche Wahrnehmung des Regimes zu formen: Automatisierte Accounts in sozialen Medien können Einflusskampagnen verstärken und eine Flut von ablenkenden oder irreführenden Beiträgen erzeugen, um so Botschaften der Gegner zu verdrängen. Digitale Werkzeuge unterstützen Diktaturen dabei, sich gegenüber den Bürgern als wohlgesinnt und aufgeschlossen zu präsentieren – auch wenn ihr wahres Gesicht oftmals ein ganz anderes ist.
«Eine stärkere digitale Repression korreliert mit einer
längeren Lebensdauer der Diktatur:
Hochtechnologisierte Regimes bestehen länger.»
Mit dem Aufkommen neuer Technologien müssen die aufstrebenden Diktaturen zur Unterdrückung ihrer Bürger kein zusätzliches Sicherheitspersonal mehr rekrutieren und ausbilden. Stattdessen können sie ganz bequem und einfach neue Repressionstechnologien kaufen und einige Beamte in deren Anwendung schulen (oft mit Unterstützung aus China). Im Handumdrehen wird der Überwachungsalbtraum zur Realität.
Geburtshelferin der Diktatur
Diese neue Form der digitalen Repression verändert die Zukunftsaussichten der Autokraten dieser Welt. Andrea Kendall-Taylor, Joseph Wright und ich haben mit unserer Forschung gezeigt, dass heute mehr Diktaturen als je zuvor einen extensiven technologischen Repressionsapparat installiert haben. Aus der Perspektive des Regimes ist das auch sinnvoll: Digitale Unterdrückung senkt das Risiko von Protesten, die heute die grösste Bedrohung für autoritäre Regierungsvertreter darstellen. Sie ermöglicht es den Regimes auch, «hochintensivere» Formen der Repression zu verfolgen, wie zum Beispiel ein System der gezielten Inhaftierung von Dissidenten. Und schliesslich ist eine stärkere digitale Repression mit einer längeren Lebensdauer der Diktatur korreliert: Hochtechnologisierte Regimes bestehen länger. Zwischen 1946 und 2000 – dem Jahr, in dem sich digitale Werkzeuge zu verbreiten begannen – herrschte eine typische Diktatur etwa zehn Jahre lang. Seit 2000 hat sich dieser Wert mehr als verdoppelt. Es scheint offensichtlich, dass moderne Technologien dabei eine Rolle spielen: Zwischen 2000 und 2017 brachen 37 der 91 Diktaturen, die mehr als ein Jahr bestanden hatten, zusammen; im Durchschnitt wiesen diejenigen Regime, die den Zusammenbruch vermieden, ein deutlich höheres Mass an digitaler Repression auf.
Die heutigen Diktaturen machen sich ein neues Arsenal an digitalen Werkzeugen zunutze, um den Autoritarismus für die Moderne umzugestalten. In fragilen Demokratien bringen die Technologien ein erhöhtes Risiko eines demokratischen Rückfalls mit sich. Der Fall ist klar: Die Trends deuten darauf hin, dass der Gegenwind im Kampf für weltweite Freiheit anhalten wird. Entgegen den hoffnungsvollen Erwartungen der Technologieoptimisten zu Beginn des Jahrtausends sind digitale Werkzeuge in den Diktaturen von heute keine Demokratiebringer, sondern vor allem ein Repressionsmittel der Autokraten; mit ihnen unterdrücken die Machthaber ihre Bürger und weiten ihren Zugriff auf die Macht aus. Nur wer sich dieser düsteren Realität bewusst wird, kann auch etwas gegen sie unternehmen.
Weiterführende Lektüre von Andrea Kendall-Taylor, Erica Frantz und Joseph Wright zum Thema: The Digital Dictators: How Technology Strenghtens Autocracy. In: Foreign Affairs (März/April 2020). Und: Digital Repression in Autocracies. The Varieties of Democracy Institute Users Working Paper, März 2020.