Werden auch Sie ein vernünftiger Optimist
Mit grosser Gewissheit glauben wir, über den Zustand der Welt Bescheid zu wissen. Konfrontiert mit den statistischen Realitäten, erweisen sich aber die meisten unserer Annahmen als übertrieben pessimistisch. Die Welt ist besser, als wir denken.
Geht es der Welt heute besser als zum Zeitpunkt Ihrer Geburt? Machen Sie den Test, indem Sie diese Frage in Ihrem Bekanntenkreis stellen. Man wird Ihnen ‒ von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen ‒ mit «Nein» antworten. Die meisten Menschen haben rasch Gründe für die Annahme zur Hand, dass die Situation heute schlimmer sei denn je. Doch das ist ein grundlegender Irrtum. In der Tat gibt es viele Gründe zur Erklärung der Diskrepanz zwischen der Realität und unserer Vorstellung von ihr. Gemeinsam ist ihnen, dass wir die negativen Aspekte überbewerten und dabei das grosse Ganze aus den Augen verlieren.
Zu diesem erstaunlichen Ergebnis kam der schwedische Arzt und Statistiker Hans Rosling. Erstaunt über die Kluft zwischen den pessimistischen und falschen Antworten auf seine Fragen zum Zustand der Welt und den oft ermutigenden statistischen Fakten, die er beobachtete, machte er es sich zur Aufgabe, diese Ignoranz zu verringern. Nach seinem Tod im Jahr 2017 setzte die Gapminder-Stiftung sein Werk fort. 2019 befragte sie in ihrer «Global Misconception Study» 15 500 Menschen in 31 Ländern. Die Antworten stehen fast alle in völligem Widerspruch zur Realität. Ausgehend von der Feststellung «Seit 1970 hat sich das Durchschnittseinkommen in den zehn reichsten Ländern mehr als verdoppelt», stellte sie den Befragten folgende Frage: Hat sich das Durchschnittseinkommen in den anderen Ländern der Welt «mehr als verdoppelt», «halbiert» oder «stagniert es»?
Das Ergebnis: 85 Prozent der Befragten wählten Option 2 oder 3. Nur 15 Prozent wussten, dass sich das Einkommen in den Ländern ausserhalb der Top 40 tatsächlich verdreifacht hat, von 3464 US-Dollar im Jahr 1970 auf 10 688 US-Dollar heute. Das Ergebnis ist noch erstaunlicher, wenn man die Menschen nach der Entwicklung der extremen Armut in den letzten 20 Jahren befragt: 89 Prozent antworten, dass sie gleichgeblieben oder gestiegen sei. Dabei ist sie erfreulicherweise von fast 30 Prozent der Weltbevölkerung im Jahr 1999 auf weniger als 10 Prozent zurückgegangen. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit besteht eine gute Chance, dass die extreme Armut zur Ausnahme wird. Und wir weigern uns, daran zu glauben.
«Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit besteht eine gute Chance, dass die extreme Armut zur Ausnahme wird. Und wir weigern uns, daran zu glauben.»
Es gibt noch viele weitere Beispiele: Ernährung, Lebenserwartung, Alphabetisierung und so weiter. Der Welt geht es besser, als wir uns vorstellen können. Angus Deaton, der im Gedenken an Alfred Nobel den Preis der Schwedischen Reichsbank für Wirtschaftswissenschaften erhalten hat, spricht sogar von einem «grossen Ausbruch» der Menschheit. Auf globaler Ebene verbessert sich die Lage weiterhin. Wir konzentrieren uns auf markante, weil negative Ereignisse und haben Mühe, die stillen, aber positiven Hintergrunddynamiken zu sehen.
«Wir konzentrieren uns auf markante, weil negative Ereignisse und haben Mühe, die stillen, aber positiven Hintergrunddynamiken zu sehen.»
Auch wenn die Schweiz nicht zu den von der Gapminder Foundation befragten Ländern gehört, gibt es keinen rationalen Grund zu glauben, dass die in anderen Teilen der Welt beobachtbaren Vorurteile nicht auch in unseren Köpfen zu finden sind. Wie überall in der Welt ist auch in der Schweiz Pessimismus ein beliebtes Narrativ. Hans Rosling war fasziniert von der Tatsache, dass der Mensch selbst bei zufälligen Antworten zu einem Ergebnis kommt, das näher an der Realität liegt als das Ergebnis, das er bei der Beantwortung seines Fragebogens erhält. Mit anderen Worten: Unabhängig von unserem Bildungsniveau machen uns unsere Überzeugungen über den Zustand der Welt blind.
Die Herausforderungen, die es zu bewältigen gilt, bleiben natürlich zahlreich. Umso wichtiger ist es, sich nicht mit falschen Wahrheiten zu belasten, die uns am Weiterkommen hindern. Denn wie Johan Norberg, ein weiterer realistischer Optimist, sagt, ist die wichtigste Erklärung für die Sehnsucht nach der «guten alten Zeit» der Mangel an Erinnerungsvermögen. Seien Sie also nicht deprimiert über den Zustand der Welt, sondern werden sie ein vernünftiger Optimist wie Hans Rosling. Erste Etappe: Lesen Sie sein Buch «Factfulness: Wie wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist»!
Diese Kolumne erschien zuerst auf Französisch in «Le Temps».