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Wer vorschnell triumphiert,
übersieht die wahren Schwächen

«Mehr staatliche Kontrolle des Finanzsystems!» lautet die Losung der Stunde. Doch wird dadurch das Bankwesen weder sicherer noch moralischer. Am Anfang der Krise stand nicht das Fehlen von Regeln, sondern eine fatale Kombination von Regulierung und Deregulierung.

In dem im August 2007 ausgebrochenen und bis heute anhaltenden Finanzgewitter lässt sich, neben den angsterfüllten Schreien und resignierten Seufzern der Opfer, auch Triumphgeheul vernehmen. «Ich hab’s ja gesagt!» «Hier haben wir nun den Totalzusammenbruch des anglo-amerikanischen Laisser-faire!» «Dies ist das beschämende Resultat der unmoralischen Gier verantwortungsloser Kapitalisten!» «Der Neoliberalismus hat seine desaströse Unfähigkeit gezeigt – nun muss die starke Hand des Staates eingreifen, um das System durch ein umfassenderes und dichteres Regelwerk zu zähmen!»

Fast jedermann scheint überzeugt davon, dass das Finanzsystem, das sich in der jüngsten Vergangenheit so pervers präsentiert, das Produkt eines lupenreinen, deregulierten, freien Marktkapitalismus sei. Das ist es aber gerade nicht (genauso wenig wie die Sowjetunion unseligen Angedenkens ein lupenreines sozialistisches System war). Es stimmt, dass seit dem Zweiten Weltkrieg die Volkswirtschaften in Westeuropa und Nordamerika schrittweise von allerlei regulatorischem Ballast befreit worden sind. Der Handel wurde liberalisiert, Kapitalverkehrskontrollen wurden gelockert oder abgeschafft, und die Vertragsfreiheit wurde einen Teil der ihr seit dem 19. Jahrhundert aufgezwungenen Fesseln los. Dessen ungeachtet blieb das System hybrid, mit einer grossen Portion aktiver oder latenter Staatsintervention, drückenden Steuerlasten und mit einer kapital- und gewinnfeindlichen Geisteshaltung in Kontinentaleuropa. In Tat und Wahrheit gehören die Regulierungen zu den Hauptursachen des Schlamassels.

Am Anfang stand der anhaltende und scheinbar sichere Anstieg der amerikanischen Immobilienpreise während der letzten 15 Jahre. Die Wirtschaft wuchs ziemlich konstant. Intensives Wachstum sollte eigentlich zu höheren Zinsen führen; doch das Zinsniveau blieb komfortabel niedrig (und die Hypotheken daher relativ billig), weil der Globalisierungsprozess einen Abwärtsdruck auf die Preise für Handelsgüter ausübte und dadurch die Inflation mässig blieb. Ein Hauskauf mit Hypothekenfinanzierung – oder ein Verkauf des alten und Kauf eines neuen, teureren Hauses – schien ein sicheres Rezept für einen schönen Kapitalgewinn.

Unterstützt wurde dieser Trend durch die amerikanische Steuergesetzgebung, die erlaubt, Hypothekarzinsen auf Darlehen bis zu einer Million Dollar von den Steuern abzusetzen. Diese Begünstigung der Hauskäufer entsprach einer Subventionierung (durch Steuereinsparung) von schätzungsweise 80 Milliarden Dollar im Jahr. Angesichts stetig steigender Hauspreise schien es praktisch gefahrlos, Hauskäufern bis zu 100 Prozent des Hauspreises vorzuschiessen. Darüber hinaus ermunterten Vorschriften zur «sozialen» Kreditvergabe durch bewusste positive Diskriminierung zugunsten ärmerer Kreditnehmer. Solange die Hauspreise nicht zu fallen anfingen, war die Folge dieser Praktiken, dass von den 13 Billionen Dollar gesamthaft ausstehender Hypotheken lediglich einige 100 Milliarden zweifelhaft (sub-prime) waren. Doch dann bewirkten fallende Hauspreise im ersten Halbjahr 2007 ein rasches Ansteigen des Anteils der sub-prime-Hypotheken.

Viel Schuld hat man inzwischen zwei Finanztechniken zugeschoben: der Verbriefung und der Verwendung verschiedener Derivate (speziell sogenannten Kreditausfall-Swaps, d.h. einem komplexen Versicherungsverfahren, dessen Volumen derzeit 60 Billionen Dollar beträgt – also mehr als das Vierfache des amerikanischen Bruttosozialprodukts). Diese Techniken brachten der Weltwirtschaft enorme Vorteile, da sie Risiken auf diejenigen verteilten, die am ehesten bereit waren, sie zu tragen. Eine sehr grobe Schätzung, kaum mehr als eine Vermutung, veranschlagt ihren Beitrag zum Welt-Volksvermögen auf 30 Billionen. Die Umwandlung von Hypotheken in marktgängige Wertschriften durch Verbriefung hatte indessen verheerende Konsequenzen.

In dem Masse, wie die Hauspreise fielen, zerfiel der Marktwert der mit sub-prime-Hypotheken unterlegten Wertschriften. Unter anderem weil der Wert der Deckung unklar war, gab es wenig Kaufwillige, und die Preise dieser hypothekenunterlegten Wertpapiere brachen brutal ein (ein entsprechendes Portefeuille etwa wurde von Merrill Lynch zu 22 Prozent des Nominalwertes verkauft). Die Fair-value-Buchhaltung unter FASB (Financial Accounting Standards Board)- und IASB (International Accounting Standards Board)-Regeln schreibt vor, dass marktgängige Wertschriften in Bankbilanzen «zum Marktwert» geführt werden. Die Abschreibung der Hypothekenportefeuilles, hinunter auf das Niveau eines praktisch nicht mehr existenten Marktes, riss riesige Löcher in das Eigenkapital der Banken. Das wiederum brachte sie in Konflikt mit den unter der Ägide der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich ausgehandelten Basel-II-Regeln, die vorschreiben, wieviel Eigenkapital den Risikoanlagen gegenüberstehen muss. Da die Banken nunmehr gegen die Vorschriften verstiessen, blieb ihnen nichts anderes übrig, als die entsprechenden Anlagen zu fast jedem Preis abzustossen, um sie aus der Bilanz hinauszubekommen. Der Preisdruck auf die Hypothekenpapiere zwang sie und die anderen Banken in immer tiefere Verstösse hinein.

So löste die kombinierte Wirkung zweier scheinbar vernünftiger Vorschriften, der Fair-value-Buchhaltung sowie von «Basel II», eine Lawine aus. Einige alte und ehrwürdige Namen brachen darunter schlicht zusammen, und fast jede Bank und Versicherungsgesellschaft geriet unter den (im allgemeinen durchaus grundlosen) Verdacht ungenügender Liquidität und Bonität. Interbankkredite, ein absolut fundamentaler Bestandteil jedes modernen Finanzsystems, trockneten vollständig aus, da die Gläubiger bei keinem Schuldner sicher waren, ob sich bei ihm nicht irgendeine versteckte Schwäche oder ein Verstoss gegen Vorschriften verbarg.

Die Vorschriften der zwei Accounting Boards, die festlegen, was Buchprüfer akzeptieren oder nicht akzeptieren können, sind hinsichtlich des bilanzierten Marktwertes marktgängiger Wertschriften unbeugsam, selbst wenn der Inhaber unter keinerlei Verkaufsdruck steht und die Marktverhältnisse momentan chaotisch und die Preise absurd sind. Es gibt gute Gründe für solche Strenge, aber wenn man den Banken etwas Luft eingeräumt hätte zur Bewertung ihrer Portefeuilles nach vernünftigen Gesichtspunkten statt nach starren Grundsätzen, hätte sich ein gutes Teil unnötiger Verheerung vermeiden lassen. Von Basel II liesse sich weitgehend dasselbe sagen. Das Zusammenspiel der beiden Vorschriften schuf einen Teufelskreis. Das ganze Szenario demonstriert das Potential eines hybriden Systems, wie desjenigen der gegenwärtigen Verbindung liberaler Elemente mit dirigistischen. Ursprünglich mittelschwere Ungleichgewichte werden dabei zu einem Drama.

Das Bankensystem hat die Aufgabe, von Kunden Ressourcen entgegenzunehmen, indem ihnen dafür ein hoher Grad an Liquidität geboten wird, und dann diese Ressourcen anderen Wirtschaftssubjekten in längerfristiger Form wieder anzubieten. Vorbedingung für diese Umwandlung kurzfristiger Passiven in längerfristige Aktiven ist offensichtlich das Vertrauen. Daraus ergibt sich als Umkehrschluss, dass im Falle erschütterten Vertrauens und einsetzender Panik nicht einmal die strengste Reglementierung das System vor einem zumindest teilweisen Zusammenbruch zu schützen vermag.

Enden kann das Ganze dann nur auf zwei Arten. Die erste ist, den Zusammenbruch geschehen und den Umstände ihren Lauf zu lassen. Dies bedeutet einschneidende Verluste für einige und entsprechende Gewinne für andere – ein Nullsummenspiel. Bei der zweiten wird der Steuerzahler zur Bereitstellung der Ressourcen gezwungen, die für die Notoperation am kollabierenden System nötig sind. Auch dies ist ein Nullsummenspiel, wenn auch ein komplexeres. Der Steuerzahler kann dabei zu den Gewinnern gehören, wie sich das mit der Resolution Trust Corporation in Amerika zugetragen hat, die ins Leben gerufen wurde, um die Sparbankenpleite nach 1989 zu sanieren, und wie es sich wahrscheinlich mit der Quasinationalisierung des Versicherungsriesen AIG und der Fortis-Gruppe 2008 zutragen wird.

Einer der traurigsten und deprimierendsten Aspekte des Finanzdebakels von 2007/2008 ist wohl, dass die Panik ohne objektive Gründe und ohne eigentliche Absicht ausgelöst worden ist. Das Problem mit den amerikanischen notleidenden Hypotheken führte zu Verlusten bei den Gläubigern – hauptsächlich Banken –, die auf knapp unter 1 Billion Dollar geschätzt werden. Auch dies ist zum grossen Teil eine Nullsumme; denn es wurden keine realen Werte vernichtet, und es gab keine Verluste bei der laufenden Waren- und Dienstleistungsproduktion: die belehnten Immobilien standen immer noch, waren weiterhin von den ursprünglichen Bewohnern bewohnt oder konnten – nach Zwangsvollstreckung – wieder vermietet werden. Der Billionenverlust war in Wirklichkeit eine Umverteilung bestehenden Besitzes, schmerzhaft aber nicht katastrophal, und nicht wirklich bedeutend angesichts der amerikanischen 14-Billionen-Dollar-Wirtschaft.

«Einer der traurigsten und deprimierendsten Aspekte

des Finanzdebakels von 2007/2008 ist wohl, dass die Panik

ohne objektive Gründe und ohne Absicht ausgelöst worden ist.»

Die Medien eröffneten trotzdem ein Sperrfeuer von Panikkommentaren, genügend schrill und intensiv, um allen ausser den kühlsten Köpfen das Fürchten beizubringen. Zugunsten der Medien lässt sich vorbringen, dass es ja zu ihrem ureigensten Geschäft gehört, beim Publikum Interesse und Emotionen zu wecken, unabhängig davon, ob dies letztlich dem gemeinen Besten dient. Was dagegen unverzeihlich ist, sind die panikerregenden Erklärungen einiger der erlauchtesten Autoritäten – deren Geschäft es gerade nicht wäre, beim Publikum Applaus zu ernten und in die Schlagzeilen zu kommen. Sie hätten vielmehr die Aufgabe (und sie sind dafür gewählt und bezahlt), dem gemeinen Besten zu dienen, indem sie zur Vernunft und zur Wahrung der Proportionen mahnen.

Dominique Strauss-Kahn, der in Frankreich für die Wahlen von 2012 als sozialistischer Präsidentschaftskandidat gesetzt ist, hat sein prestigereiches Amt als Präsident des Internationalen Währungsfonds dazu missbraucht, um sich, vom Podest des internationalen Funktionärs und Experten herunter, als allwissende Kassandra aufzuspielen. Schon kurz nach seiner Ernennung im August 2007 hat er bei mehreren Gelegenheiten erklärt, dass sich die Situation mit Sicherheit verschlimmern werde und dem System die Katastrophe drohe. Sekundiert wurde er dabei vom britischen Schatzkanzler Alistair Darling, einem Mann höchst mittelmässigen Zuschnitts. Da nun einmal Finanzstabilität entscheidend vom Vertrauen abhängt, hatten diese unnötig panikmachenden Prophezeiungen das Potential, sich selbst zu erfüllen.

Der gegenwärtige Finanzschock erscheint besonders furchteinflössend, weil sowohl die nordamerikanische wie die europäische Wirtschaft vermutlich in eine Rezession gleiten wird oder sich schon darin befindet. Viele Beobachter glauben sogar, die Rezession sei in Wirklichkeit vom Fastzusammenbruch des Finanzsystems ausgelöst worden.

Man betrachtet amüsiert den Verhältnisblödsinn, der sich dergestalt kundtut. Das Bruttoinlandprodukt (BIP) Frankreichs, wo ich wohne, ist im zweiten Quartal 2008 um 0,3 Prozent gesunken und wird voraussichtlich im dritten und vierten Quartal je um 0,1 Prozent sinken. Es herrscht nun allgemeine Aufregung und Niedergeschlagenheit – das Schlimmste sei nun eingetreten und die Rezession bei uns angekommen. Doch wie sähe es aus, wenn die offiziellen Statistiken – statt eines prozentualen Abschwungs – einfach die Höhe des BIPs als 99,7 Prozent des Vorjahres fürs zweite, und 99,9 Prozent fürs dritte und vierte Quartal bekanntgäben? Wäre es dann nicht grotesk, von einer Katastrophe zu reden?

Fast einhellig ist man der Meinung, das existierende hybride Bankenregulierungssystem sei viel zu liberal, zu permissiv und zu tolerant gewesen gegenüber der angeprangerten Verantwortungslosigkeit und «Gier». Ja man vermutet sogar, mangelnde Regulierung sei deren Ursache. Prominente Stimmen rufen nach «Moralisierung» des Systems und nach Säuberung von «Spekulation» – einem Synonym für finanzielle Unmoral.

Diese populistische Welle wird wahrscheinlich verebben, wenn der Sturm sich etwas gelegt hat. Sie wird in der öffentlichen Meinung lediglich das Vorurteil zurücklassen, dass «Liberalismus nicht funktioniert», dass man es «damit versucht hat, und sieh nun das Resultat!» Als bleibende Andenken werden uns wohl eine Reihe regulatorischer Hindernisse beschert sein, mit denen versucht wird, «Spekulation zu erschweren». In solchen Massnahmen spiegeln sich ökonomischer Analphabetismus und eine kindische Unfähigkeit, die positive Funktion der Spekulation in einer Marktwirtschaft zu verstehen. Die Massnahmen werden Schaden anrichten, liegen jedoch dem Mann von der Strasse zu sehr am Herzen, als dass sie vermieden werden könnten. Die «Marktwert»-Vorschrift wird wahrscheinlich gelockert – dies wäre dann in der Tat ein liberaler und heilsamer Schritt. Im übrigen jedoch wird das existierende liberal-dirigistische System wohl in eine weit dirigistischere Form umgegossen werden. Dies macht das Bank- und Finanzwesen weder sicherer noch «moralischer». In Tat und Wahrheit würden dadurch die skrupellosesten und gerissensten Banker begünstigt – diejenigen, welche die Vorschriften am besten zu umgehen wissen.

In einem «rein» liberalen System hängen dauerhafter Erfolg und dauerhafte Gewinnmaximierung vom Erwerb und Erhalt des Vertrauens der Anleger und anderer Kreditgeber ab. In einem «rein» dirigistischen System müssen nicht die Kunden zufriedengestellt werden, sondern die Regulierungsbehörden. In einem hybriden System, irgendwo zwischendrin, lassen sich unter Umständen weder die Kunden noch die Regulierungsbehörden befriedigen.

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