
Wer überleben will, muss ein
wenig verrückt sein
Die hiesigen Literaturverlage stehen unter wachsendem ökonomischem Druck. Um langfristig Erfolg zu haben, braucht es Kreativität – und den Mut, Bestehendes zu hinterfragen.
Im Prinzip liebe ich die Buchbranche. Vor allem das Buch an und für sich. Wer ein Buch aufschlägt, wird mit einer einzigen Geste in eine komplett neue Welt katapultiert und kann viel Neues erleben. Auch ausserhalb der eigenen Komfortzone.
Das erfuhr ich als junge Leserin, als ich die Romane von Jules Vernes verschlang. Das Eintauchen in Geschichten und Fantasien anderer Menschen, der Moment des Verschmelzens, so wie ich mich auch später in Kafkas Vorstellungen und Verwirrungen verlor, nur um mich selbst in einem ebenso wirren Hinterfragen besser zu erkennen. All dies ist bereichernd und beglückend. Später, an der Schauspielschule, kamen Michail Bulgakow, Fjodor Dostojewski, Maya Angelou, Jane Austen, Virginia Woolf, Anton Tschechow, William Shakespeare und noch viele mehr dazu, die mich mit ihrer Prosa und ihren Dramen in die Welt der feinen Nuancen der zwischenmenschlichen Beziehungen oder innersten Konflikte einführten. Vor allem lehrten sie mich, zwischen den Zeilen zu lesen.
Diese Metaebene, die damit verbundenen Erfahrungen und die Begeisterung, die sie auslösten, wurden zur Grundlage, weshalb mich Literatur bis heute fasziniert und mich inspiriert und weshalb ich mich – nach einer Laufbahn am Theater – dazu entschieden habe, Verlegerin zu werden. Die Welt der Sprache, der Geschichten und der Bücher, die als Gefäss dienen, um Geschichten in die Gesellschaft zu tragen, wollte ich nicht mehr verlassen.
Diese Überzeugung ist der Grund, warum sich viele Verlagsmenschen – obwohl die Löhne niedrig sind – voller Enthusiasmus der Aufgabe widmen, Literatur zu vermitteln. In Buchform oder an Lesungen, an Messen oder Literaturfestivals: Der Aufgabenbereich ist gross und vielseitig.
Die Welt rund um einen Literaturverlag ist wild, wunderschön, bewegend, berauschend, märchenhaft, brutal, ehrlich, erleuchtend, sensibel – alles zugleich. Und sie ist endlos weit. Doch allzu oft schwankt der Boden, auf dem die Verlage stehen. Weniger, weil das Buch an Bedeutung verloren hat. Es sind die sich wandelnden Bedürfnisse der Gesellschaft und die allgemeine wirtschaftliche Situation sowie der zunehmende kulturpolitische Diskurs, die den Schweizer Literaturverlagen das Leben schwer machen. Denke ich an die aktuelle Situation, in der sich die meisten unabhängigen Schweizer Literaturverlage befinden, fühle ich mich wie in einer Dystopie – in bester Aldous-Huxley-Manier. Nur, dass ich diesen Roman nicht «Schöne neue Welt» nennen würde, sondern vermutlich «Das unaufhaltsame Wühlen im Überlebensmodus».
«Die Welt rund um einen Literaturverlag ist wild, wunderschön,
bewegend, berauschend, märchenhaft, brutal, ehrlich, erleuchtend,
sensibel – alles zugleich.»
David gegen Goliath
So vielfältig, wie unsere Schweizer Verlagslandschaft ist, so vielfältig sind die Chancen und Herausforderungen, mit denen sie in der Gegenwart konfrontiert ist. Unweigerlich fühle ich mich vom Auftrag, darüber zu schreiben, überfordert. Wie soll ich meine Gedanken zu den komplexen Prozessen, den Facetten und Verknüpfungen der Branche in einen knappen, nicht allzu verwirrenden Essay verwandeln? Schliesslich brauchte ich mehrere Jahre, um diese Verlagslandschaft und ihre Strukturen zu verstehen. Denn es braucht etwas Basiswissen, damit ein Verständnis für die Herausforderungen und Chancen vermittelt werden kann.
Versuchen wir es mit Zahlen: Dem Marktreport 2022 des Schweizer Buchhandels- und Verlagsverbands (vom Februar 2023) kann entnommen werden, dass bei der Belletristik der Anteil von Schweizer Verlagen am gesamten inländischen Verkauf im letzten Jahr bei 16,7 Prozent lag – etwas weniger als im Vorjahr. Davon entfallen satte 11,7 Prozent auf den Diogenes-Verlag. Unklar ist, wie viele der restlichen fünf Prozent der verkauften Belletristiktitel aus Schweizer Verlagen auch Schweizer Literatur sind. Dies erwähne ich hier nicht als Qualitätsmerkmal der Literatur. Diese Zahlen weisen nur auf eine Herausforderung hin, mit der wir bei jeder neuen Publikation konfrontiert sind: Wie erhalten unsere Autorinnen und Autoren Aufmerksamkeit? In der Schweiz gibt es unzählige Verlage mit wunderbaren, gut durchdachten und kuratierten Verlagsprogrammen. Sie alle hätten das Recht auf Anerkennung, kämpfen…

Weiterlesen?
Dieser Artikel ist in Ausgabe 1106 – Mai 2023 erschienen. Er ist nur registrierten, zahlenden Nutzern zugänglich. Vollen Zugang erhalten Sie über unsere attraktiven Online- und Printangebote.
Abo lösen