Wer Religion als Ursache für Gewalt geisselt, vergisst, dass säkulare Ideologien oft noch schlimmer sind
Nicht der Glaube führt zu Kriegen und Unterdrückung, sondern der absolute Wahrheitsanspruch. Dieser ist bei Kommunisten und Faschisten mindestens so verbreitet wie bei religiösen Eiferern.
Neulich habe ich mit ein paar Kollegen über den Wert der Religion diskutiert – ein Thema, das stets Emotionen hervorruft. Schnell fiel die weitverbreitete Behauptung, Religion sei der Auslöser für Kriege und daher abzulehnen. Doch ist es wirklich so einfach? Diese Sichtweise ist nicht nur verkürzt, sondern ignoriert tieferliegende Ursachen, die in den dunkelsten Kapiteln des letzten Jahrhunderts eine entscheidende Rolle spielten.
Denken wir an die Kriege und Verbrechen des 20. Jahrhunderts. Viele davon wurden nicht durch religiöse Eiferer entfesselt, sondern durch atheistische oder säkulare Ideologien angetrieben, die nicht minder gefährlich waren. Totalitäre Systeme wie der Stalinismus, der Maoismus oder das Regime der Roten Khmer in Kambodscha verfolgten das Ziel einer klassenlosen Gesellschaft, in der Religion keinen Platz hatte. Ironischerweise wandten sie dabei Methoden zur Machtkontrolle an, die nicht weniger blutig und tyrannisch waren als das, was man Religion oft vorwirft.
«Totalitäre Systeme wie der Stalinismus, der Maoismus oder das Regime der Roten Khmer in Kambodscha verfolgten das Ziel einer klassenlosen Gesellschaft, in der Religion keinen Platz hatte.»
Hitler verachtete das Christentum
Betrachten wir das erschreckende Erbe der atheistischen Regimes des 20. Jahrhunderts: Unter Mao Zedong führte die Kulturrevolution in China und der Grosse Sprung nach vorn zu geschätzten 40 bis 70 Millionen Todesopfern. Das kommunistische Regime Stalins in der Sowjetunion verursachte den Tod von 20 bis 25 Millionen Menschen – durch Säuberungen, Hungersnöte und Arbeitslager. Die marxistisch-leninistischen Roten Khmer unter Pol Pot sind für die Vernichtung von etwa einem Viertel der kambodschanischen Bevölkerung während ihrer Herrschaft von 1975 bis 1979 verantwortlich.
Ein weiteres Beispiel, das vielleicht überrascht: Adolf Hitler. Auch wenn Hitler kein Atheist im klassischen Sinn war, lehnte er die moralischen Prinzipien der Religionen ab und verachtete das Christentum zutiefst. Er sah darin eine «Religion für Sklaven», die dem Prinzip der natürlichen Selektion widerspreche. In «Hitler: A Study in Tyranny» schreibt der Historiker Alan Bullock, dass Hitler das Christentum als einen Aufstand gegen das «natürliche Gesetz des Kampfes der Stärksten» verurteilt habe. Für ihn war Religion ein Hindernis, ein «Fehler», der die Menschheit schwäche.
Genauso kritisch sah Benito Mussolini die Religion. Er behauptete: «Gott existiert nicht – Religion ist in der Wissenschaft eine Absurdität, in der Praxis eine Unmoral und im Menschen eine Krankheit.» Auch Mussolini wollte eine Gesellschaft, in der Religion keine Rolle spielte – und hielt es für seine Pflicht, dem Volk diese «Krankheit» auszutreiben.
Diese Regime zeigen, dass auch atheistische Ideologien sehr gefährlich sein können. Wenn jede Form religiöser Moral verdrängt wird, öffnet das die Türen zu einer entmenschlichten Politik, die nur noch dem Staat und seiner Macht dient. Die Menschen werden nicht mehr als Individuen gesehen, sondern als blosse Werkzeuge im Dienst des Kollektivs und des Staates. In solchen Systemen zählt einzig und allein die Macht des Staates; abweichende Meinungen gelten als Bedrohung, die es zu unterdrücken gilt.
«Wenn jede Form religiöser Moral verdrängt wird, öffnet das die Türen zu einer entmenschlichten Politik, die nur noch dem Staat und seiner Macht dient.»
Frieden bedingt Vielfalt im Denken
Dies führt zur zentralen Frage: Ist das eigentliche Problem wirklich Religion? Oder ist es vielmehr der absolute Machtanspruch, der in allen totalitären Ideologien – ob religiös oder atheistisch – zu finden ist? Religion wird oft missbraucht, um die Massen zu mobilisieren und für «heilige Kriege» zu gewinnen. Doch atheistische Regime haben gezeigt, dass sie nicht weniger brutal und blutig vorgehen können. Die Ideologie selbst ist nicht das Problem; gefährlich wird sie, wenn sie zum alleinigen Massstab wird und jede andere Meinung vernichtet werden soll.
Die Geschichte zeigt, dass überall dort, wo nur eine einzige Denkweise geduldet wird – sei sie religiös, politisch oder ideologisch –, die Grundlage für Tyrannei gelegt ist. Die Herrschaftsansprüche der atheistischen Regime des 20. Jahrhunderts sollten uns eine Warnung sein: Wenn Ideologien jegliche Moral und Menschlichkeit unterdrücken und den Staat über das Individuum stellen, ist das Ergebnis immer das Gleiche: Unterdrückung, Leid und Tod.
Verstehen Sie mich nicht falsch: Es geht nicht darum, Atheismus pauschal zu verurteilen oder zu behaupten, dass religiöse Konflikte harmlos seien. Doch die Annahme, Religion sei die Hauptursache für Krieg und Konflikt, greift zu kurz. Wenn wir wirklich verstehen wollen, wie es zu den blutigsten Konflikten unserer Geschichte kam, müssen wir genauer hinsehen – und erkennen, dass Ideologien, die die Religion durch absolute Macht ersetzen wollten, oft die wahren Brandstifter waren.
Wir müssen wachsam bleiben. Wir müssen uns gegen jede Form der Zensur und des Absolutismus einsetzen, gegen jede Ideologie, welche die «absolute Wahrheit» und die «moralische Hoheit» für sich beansprucht. Echter Frieden entsteht nur dort, wo Vielfalt in Denken und Glauben existieren darf und Menschen nicht in den Dienst einer einzigen Wahrheit gezwungen werden. Freiheit und Frieden sind untrennbar verbunden – und die Basis dafür ist die Bereitschaft, anderen Raum zu geben, selbst wenn ihre Meinung unbequem ist.