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Wer kein Schaf ist, braucht auch keinen Hirten
Milosz Matuschek, fotografiert von Enno Kapitza.

Wer kein Schaf ist, braucht auch keinen Hirten

Höchste Zeit für eine Privatisierung der Spiritualität.

«Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind…» Wer wie ich, katholisch aufgewachsen, im Christlichen Verein Junger Menschen (CVJM) und in christlichen Zeltlagern kirchennah geprägt wurde, gar als Ministrant gedient hat (aber irgendwann mit Anfang 30 aus der Kirche ausgetreten ist), weiss noch, wie der Text weitergeht: «…da bin ich mitten unter ihnen.»1 Gemeint ist Jesus oder Gott.

Ein im Grunde schöner Gedanke: Zur Religion selbst braucht es nicht viel, nur zwei oder drei. Doch tatsächlich braucht es nicht mal irgendwen, ausser einen selbst. Religiös zu leben ist eine intime Entscheidung, die Teil des Persönlichkeitsrechts eines jeden ist und zu Recht respektiert und geschützt wird. Religion ist, egal wie man dazu stehen mag, ein scheinbar urmenschliches, höchstpersönliches Bedürfnis. Wir leben im Irdischen, sehnen uns jedoch nach Transzendenz und höheren Seinsschichten. Die Frage ist dann aber: Warum braucht es dafür einen Verwaltungsapparat?

«Institutionalisierten Glaubensgemeinschaften geht und ging es natürlich nie allein um das Seelenheil des einzelnen. Denn hierfür braucht es sie auch gar nicht. Es geht ihnen um Macht.»

Wer die Existenz der Institution Kirche – also einer Anstalt für betreute Transzendenzerfahrungen – aus den Religionsinhalten selbst ableiten will, kommt unweigerlich in die Bredouille. Wenn Gott dem Menschen nicht nur Vernunft, selbständiges Denken, den prometheischen Funken und eine Prise Ungehorsam mitgegeben hat, warum sollte dieser sich dann einer von Menschen gemachten Institution mit ihren Dogmen, Lehrsätzen, Rechtskodizes, ihrem Verwaltungs- und Steuerapparat unterwerfen? Wer spirituell auf der Suche ist, begibt sich auf eine persönliche Reise. Die Institution hingegen macht daraus eine Art Pauschaltourismus, denn sie beendet die freie Suche und Reise, indem sie sagt: Hier bei uns ist deine Suche beendet. Reihe dich in die Gemeinschaft der Schafe ein und folge dem Hirten zum allein erfüllenden Seelenheil.

Für das Seelenheil braucht es keine Kirchen

Institutionalisierten Glaubensgemeinschaften geht und ging es natürlich nie allein um das Seelenheil des einzelnen. Denn hierfür braucht es sie auch gar nicht. Es geht ihnen um Macht. Nicht erst seit dem Aufkommen sozialer Netzwerke weiss man: Wer es schafft, Followerpower zu generieren, also eine grössere Schar Menschen hinter sich zu vereinigen, hat Macht. Im Falle von religiösen Gemeinschaften ist diese bis heute gross. Kirchen sind rechtlich selbständige Gebilde: Sie können Steuern erheben, wirken bei Gesetzgebungsvorhaben mit, sitzen in Mediengremien und sind quasi der einzige Verein, bei dem man durch die Eltern schon ab Geburt Mitglied wird. Ein bemerkenswertes, ungeheuerliches Privileg. Wo sonst gibt es eine Zwangsmitgliedschaft in einem völlig undemokratischen Gebilde, das niemandem rechenschaftspflichtig ist und auf dessen Ausrichtung man nie wird Einfluss nehmen können? Die Staatskirchen sind soziale Netzwerke mit automatischer Profilerstellung ab Geburt, eine Art spirituelles Einwohnermeldeamt. Geht’s noch?

Der Einfluss der Kirchen und Religionsgemeinschaften geht noch weiter: Während Beleidigungen der Vernunft immer noch straffrei sind, steht die Verächtlichmachung von Glaubensinhalten oder Riten in vielen Ländern unter Strafe. In der Schweiz etwa erhält eine Geldstrafe, wer «öffentlich und in gemeiner Weise die Überzeugung anderer in Glaubenssachen, insbesondere den Glauben an Gott, beschimpft oder verspottet oder Gegenstände religiöser Verehrung verunehrt».2 Kirchliche Dogmen bestimmen über den Anfang und das Ende des Lebens mit – teilweise völlig losgelöst von biologisch-wissenschaftlichen Realitäten oder vorbei an den Bedürfnissen der einzelnen. Wer heute aus Erziehungsgründen in Deutschland einem Kind einen Klaps auf den Po gibt, begeht eine Misshandlung. Wer jedoch auf die Idee kommt, einem männlichen Säugling auf dem Küchentisch die Vorhaut zu amputieren, erfährt aus dem deutschen Bürgerlichen Gesetzbuch3, dass dies im Sinne des Kindeswohls sei. Es genügt also, von einem imaginären Bündnis mit Gott zu reden, um Kinder in Sachen körperlicher Unversehrtheit für schutzlos zu erklären. So viel zur Lage der Vernunft im Jahr 2019.

Statt Denken: Geborgenheit durch Gleichförmigkeit

Der Dalai Lama hat einmal in bezug auf Religionen erklärt, dass diese im Grund überflüssig seien: Im Kern genügt eine praktische Lebensethik als gemeinsame Grundlage. Warum also sollte das Erfahren dieser Lebensethik steuerpflichtig sein oder der staatlichen Amtshilfe bedürfen? Insbesondere wenn die Vermittlung institutionelle Kollateralschäden mit sich bringt? In bezug auf Religion sei der Hunger des Menschen dessen Nahrung, bemerkte einmal der Soziologe Georg Simmel. Das Geborgensein in kirchlicher Gemeinschaft entlastet den einzelnen Menschen von der ein oder anderen Entscheidung – wenn dieser bereit ist, sein Denken zu delegieren und durch das Glauben zu ersetzen. Geborgenheit durch Gleichförmigkeit lautet der Trade-off.

Warum tut sich der Mensch das an? Der Sozialpsychologe Erich Fromm erklärte diese Haltung mit zwei gegensätzlichen Trieben: dem Trieb, sich in die Komfortzone zu begeben, und dem Trieb zur Selbstbestimmung und der Suche nach Neuem. Rückbildung und Fortbildung stehen in ständigem Kampf. Den Weg zur Erkenntnis versperrt sich der Mensch also auch selbst, wie schon Francis Bacon in seinem «Novum Organum» skizzierte (und damit übrigens wie Tausende andere Autoren auf dem Index der Kirche4 landete). Wir schaffen uns Götzen, denen wir uns unterwerfen, gehen also in eine Form der «freiwilligen Knechtschaft» (Etienne de la Boétie). Den Ausweg zeigte Nietzsche: «Lieber noch ein wenig zähneklappern als Götzen anbeten!»

«Wer sich im Besitz der Wahrheit glaubt, für den ist der Zweifler ein Feind. Wenn der Mensch in der Wahrheit leben will, muss er Institutionen entmachten, und zwar durch Entzug seiner Gefolgschaft.»

Institutionen, die eine Anleitung zum Glauben voraussetzen, statt die Freiheit des Glaubens zuzulassen, sind heute schlicht überholt. In der Geschichte wechselten sich häufig zentrifugale und zentripetale Kräfte ab, bemerkte der Soziologe Vilfredo Pareto. Entwicklungen geschehen in Wellen. Die Institution der Kirche steht für eine Hierarchieform auf religiöser Basis, eine klassische Top-down-Struktur, die immer mehr Mühe hat, ihre Räumlichkeiten mit Menschen zu füllen. Der Trend heute geht deutlich in Richtung egalitärer Netzwerkstrukturen. Was im Bereich der weltlichen Sphäre in Form der Demokratisierung geschah – also die Übertragung von Macht und Kontrolle an viele einzelne –, ist seit längerem auch im Bereich der Spiritualität zu beobachten. Der Eklektizismus eines Goethe, der sich seine Privatreligion noch aus dem Gesamtangebot der verfügbaren Strömungen herausdestillierte, ist heute für viele Standard. Die Identitätsfunktion der Religion lässt nach. Aus primordialen Codes (Religion, Nation, Herkunft, Ethnie) sind moderne, vergeistigte und verflüssigte Codes geworden. Heute kann man auf dem Papier ein Katholik, mit einer Atheistin verheiratet sein und die Kinder im Geiste des westlichen Buddhismus aufziehen. Der Vertretungsanspruch der Kirche gerät zunehmend zu einer Sprachführerschaft für Karteileichen.

Followerschaften

Zudem bekommt die Religion heute einen immer stärkeren Wider­sacher aus dem Bereich der Technologie. Phänomene wie der «Burning Man» mögen einer Tech-Elite vorbehalten sein, aber für den kleinen Mann gibt es das Angebot der sozialen Medien. Auf Facebook & Co. gibt es längst Gruppierungen und Followerschaften für geistige Inhalte und eine Form der Lifestylespiritualität. Sinngebung kommt so heute für viele aus Kalendersprüchen in Meme-Form, und zwar gänzlich ohne Mitgliedschaftszwang, sondern nur durch ein situatives Plebiszit der Likes. Über Plattformen wie Patreon & Co. können sich moderne Sinngeber von ihrer Community auch gleich noch sponsern lassen. So wie sich der Protestantismus vom Katholizismus gabelte und einen eigenen Weg einschlug, kann heute jeder mit einem Angebot an transzendenter Lebensberatung auf seine eigene Social-Media-Kanzel steigen und die eigene Followerschaft beglücken. Ob die Privatisierung der Religion durch moderne Massenkommunikation gelingt, hängt wiederum von der Reife der Menschheit ab: Schliesslich kann man jedes Thema zur Glaubensfrage machen und mit reli­giösem Eifer aufladen. Ein virtueller Tribalismus als Zusatz zum analogen hilft uns nicht weiter. Die persönliche Sinnsuche im Geiste der Toleranz hingegen schon. Wenn jeder für sich spricht und niemand für alle sprechen darf, lassen sich weltumspannende Konflikte vielleicht irgendwann auf kleine private Scharmützel eindampfen.

«Der Herr ist mein Hirte», heisst es in der Bibel. Das Bild der Schafe und der Hirten findet sich bezeichnenderweise sowohl in der politischen Philosophie als auch im Sprachgebrauch der Kirche. Der Hirte kümmert sich um die Schafe, doch am Ende sind sie Nutztiere und werden geschoren, gemolken und geschlachtet. Der Ausgang des Menschen aus der selbstverschuldeten Schaf-Eigenschaft geht also nur durch eigene Initiative und mit der Rückgewinnung von Kontrolle. «Nicht die Diktatoren schaffen Diktaturen, sondern die Herden» (George Bernanos). Wer sich im Besitz der Wahrheit glaubt, für den ist der Zweifler ein Feind. Wenn der Mensch in der Wahrheit leben will, muss er Institutionen entmachten, und zwar durch Entzug seiner Gefolgschaft. Tolstoi meinte, man müsse alle Kirchen vernichten, um die Religion zu retten. Vielleicht meint er damit, dass erst durch die Zurückeroberung des Denkens dem Menschen ein besonderes Kunststück gelingen kann: das der aufgeklärten Spiritualität.

  1. Die Bibel: Das Evangelium nach Matthäus, 18, 20.

  2. StGB Art. 261, Störung der Glaubens- und Kultusfreiheit, http://www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/19370083/index.html#a261

  3. BGB §1631d Beschneidung des männlichen Kindes, https://dejure.org/gesetze/BGB/1631d.html

  4. Eine Liste von Personen, die auf dem Index Librorum Prohibitorum (Verzeichnis der verbotenen Bücher) standen, ist auf de.wikipedia.org einsehbar (Liste von Autoren, deren Werke auf dem Index Librorum Prohibitorum standen).

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