Wer hat Angst vorm bösen Staat?
Replik auf die Replik von David Dürr
Eine fragwürdige Idee wird nicht dadurch besser, dass immer wieder Leute meinen, auf sie zurückkommen zu sollen: auf die Erfindung eines Perpetuum mobile, auf den ultimativen Gottesbeweis oder immer einmal wieder auf die Verheissungen der Anarchie. Dass man immer wieder auf so etwas zurückkommt, ist verständlich; denn die Belohnung im Falle des Gelingens wäre über aller Massen gross: eine nie versiegende Quelle von Energie zu besitzen, den sicheren Beweis dafür zu haben, dass ein Gott existiert, das wären unvorstellbare Triumphe.
Was aber erhoffen die Verfechter der Anarchie zu gewinnen? Sie erhoffen sich nicht weniger als den Endsieg über den bösen Geist, der aus der Hölle der Ideen ausgebrochen ist, um die Menschen zu entrechten, zu unterdrücken und auszuplündern, den Sieg über den Staat. Gegen den predigen sie mit dem heiligen Zorn barocker Bussprediger und mit deren Wort- und Bildgewalt, wenn sie beispielsweise dazu auffordern, den Staat in der Badewanne zu ersäufen. Kann man das schöner, kann man das feinsinniger formulieren?
Vor dem Hintergrund einer solchen manichäischen Weltsicht, in der die Guten, nämlich die freiheitsliebenden Bürger, gegen die Bösen, den Staat und seine Helfershelfer, in ein wahrhaft episches Ringen verstrickt sind, bekommt das Unternehmen «Ersäufen» eine geradezu metaphysische Dimension. Von daher erscheint der Kampf gegen den Staat so selbstverständlich wie der gegen den Krebs, und die Frage, wozu das gut sein soll, nicht nur töricht sondern geradezu ketzerisch. Es erübrigt sich zu erklären, was da eigentlich durch die Abschaffung des Gesetzgebungs- und Gewaltmonopols des Staates zugunsten eines freien Spiels privater Interessen und eben auch privater Gewalt optimiert werden soll (Gerechtigkeit? Freiheit, Verwaltungskosten?) und ob das alles durch die Abschaffung des Staates tatsächlich erreicht werden kann.
Man mag solche Fragen nach den konkreten Einzelheiten der Umsetzung als kleinlich und lästig empfinden, wo man doch das Grosse & Ganze im Blick hat. In der Theorie und im Grossen Überhaupt ist allerdings auch der Kommunismus eine wunderbare Sache. Erst in der Praxis wird er regelmässig zum Desaster, wo immer auf der Welt eine Praxis versucht worden ist. Die gerade aktuelle Variante des Scheiterns kann man in Venezuela besichtigen. Der Beweis des Kuchens ist eben nicht das Rezept, das mag sich verheissungsvoll lesen, der Beweis ist das Essen, und da hat sich der kommunistische Pie regelmässig als unbekömmlich herausgestellt. Ob ein anarchistischer Strudel verträglicher wäre, darf allerdings bezweifelt werden; denn wo immer auf der Welt ein Rechtsstaat, der diesen Namen halbwegs verdient, sein Gesetzgebungs- und Gewaltmonopol nicht mehr aufrecht erhalten kann, breitet sich Anarchie nicht mit Friede, Freude, Eierkuchen aus sondern mit privater Gewalt, die aus den Läufen von Kalaschnikows kommt; und nichts wird für die Menschen in Somalia oder in Mexiko, in Mali, Nigeria oder der Ukraine besser, wenn Warlords, Rebellen, selbsternannte Befreier, Gotteskrieger oder Bürgerwehren die Dinge in die Hand nehmen.
So ist das natürlich nicht gemeint mit der Anarchie; aber die Väter des Kommunismus haben wohl auch nicht an Plänen für einen Archipel Gulag oder die Killing Fields von Kambodscha laboriert. So etwas stellt sich dann früher oder später ein, wenn ein simples Rezept gegen die Widerständigkeit einer hochkomplexen und schwer durchschaubaren Realität durchgesetzt werden soll, notfalls auch mit Gewalt. Und dann geht es nicht. Nicht so und nicht anders. Und wenn dann nach der unfehlbaren Logik des Misslingens nicht etwa die Brauchbarkeit des Rezepts in Frage gestellt wird sondern als einzige Lösung des Problems gilt, mehr desgleichen anzuwenden, also mehr Gewalt, dann ist ein Schrecken ohne Ende programmiert. Der «wahre» Kommunismus, der mit dem menschlichen Antlitz, existiert nur in Platons wunderbarem Himmel der Ideen und ist in unserer sublunaren Welt nicht zu verwirklichen, so wenig wie die «wahre» Anarchie, die ohne Anwendung von Gewalt errichtet wird und in der Folge ohne sie auskommt; denn die Gewalt verschwindet ja nicht aus den menschlichen Verhältnissen, wenn sie nicht mehr auf eine nachvollziehbare und vielfältig kontrollierte Weise von einem Staat in Grenzen gehalten wird, sie vervielfältigt sich als private Gewalt und wuchert auf eine unvorhersehbare Weise in alle möglichen Richtungen weiter und ist, ist sie erst einmal in der Welt, nur schwer wieder einzuholen.
Die lange und oft blutige Geschichte des menschlichen Zusammenlebens, die uns am Ende zu der grossen zivilisatorischen Leistung des demokratisch verfassten Rechtsstaats geführt hat, der – so das Ideal – einen optimalen Ausgleich zwischen notwendigen Einschränkungen und individuellen Freiräumen ermöglichen soll, darf uns weiterhin eine Lehre sein. Wie weit ein solches Ideal durch bestehende staatliche Strukturen schon erreicht worden ist, darf und soll diskutiert werden. Auch im Ansatz gute Lösungen lassen sich fast immer noch verbessern. Hüten sollte man sich dabei jedoch vor allzu simplen, vor eindimensionalen Rezepten: Es lassen sich nicht alle tatsächlichen oder vermeintlichen Übel aus einem Punkte erklären und aus ihm heraus kurieren, dem der Regulierung. Nicht der Überstaat, der alles plant und regelt, noch der bis zur Nichtexistenz geschwächte Staat, der nichts mehr planen und regeln kann, werden zur besten aller Welten führen. Worauf es tatsächlich ankommt, ist, das optimale Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit in demokratisch legitimierten Prozessen herauszufinden und sich dem in vielen mühsamen Schritten von Versuch und Irrtum anzunähern.
Es ist schlicht abwegig, dem demokratischen Rechtsstaat zu unterstellen, er versuche wie eine Partei unter anderen, eigene Interessen mit dem Recht des Stärkeren gegen seine Bürger durchzusetzen. Der Staat ist gerade nicht Partei, er ist Schiedsrichter, der zwischen Parteien und Interessen vermittelt. Seine Rolle ist es, die Bedingungen der Möglichkeit eines friedlichen und fruchtbaren Zusammenlebens herzustellen und dauerhaft zu garantieren, und das keineswegs willkürlich sondern nach gemeinsam ausgehandelten Regeln, die verhandelbar bleiben und jederzeit durch demokratische Prozesse verändert werden können.
Die These, die Dinge würden ohne einen überparteilichen Schiedsrichter besser laufen, ist nicht plausibel. Will uns jemand ernsthaft einreden, ein Fussballspiel würde reibungsloser und friedlicher verlaufen, wenn es keinen Schiedsrichter gäbe und die Mannschaften von Fall zu Fall untereinander oder unter Mithilfe des Publikums ausmachen müssten, ob jetzt auf Tor, Abseits oder Strafstoss entschieden werden soll? Würde da je ein Spiel in 90 Minuten regulär zu Ende zu führen sein, würde es überhaupt zu Ende zu führen sein und nicht in eine allgemeine Rauferei ausarten? (Und vom Eishockey will ich lieber gar nicht erst anfangen…) Der unparteiische und an gemeinsam anerkannte Regeln gebundene Schiedsrichter ist eine grossartige Erfindung, hinter die kein vernünftiger Mensch mehr zurück möchte. Und der demokratisch verfasste Rechtsstaat ist das auch.