Wer erzählt, hat Macht
Nach Mailand mit dem «blinden Masseur» von Catalin D. Florescu
Bücher sind Lebenshelfer. Ich habe mir vorgenommen, bei jeder wichtigen, gefährlichen oder unsicheren Reise das richtige Buch dabei zu haben. «Der blinde Masseur» von Florescu ist für meine heikle Reise nach Mailand das richtige. Das Hotel in Mailand heisst Lady, ich finde es lange nicht, weil ich nach einem Ledi suche. Ledii, so wie es von der tiefen Frauenstimme am Telefon ausgesprochen wurde.
«Ich steckte fest am Ende aller Strassen, vor einem Berg, der sich für Audis nicht öffnete, und folgte mit meinem Gepäck auf dem Arm einem Blinden, der Hugo zitierte.»
So, wie ich nicht weiss, dass ich vor dem gesuchten Hotel stehe, weiss die Hauptfigur in Catalin Dorian Florescus neustem Roman nicht, dass sie in diesem Blinden, der sich Ion nennt, ihr Alter ego gefunden hat. Teodor Moldovan kehrt nach 20 Jahren Schweizer Exil nach Rumänien, dem Land seiner Kindheit, zurück, «um einen verlorenen Faden wiederaufzunehmen», um sich Geschichten erzählen zu lassen, wie damals in seiner Kindheit, als er mit einem Aufnahmegerät herumzog. In der Schweiz ist er zu einem erfolgreichen Geschäftsmann geworden, aber Geschichten hat er keine bekommen. Die eine Heimat gibt Geld und Erfolg, die andere Geschichten. Teodor Moldovan ist Europaverantwortlicher für einen Hersteller von Sicherheitstüren. Da werden nicht nur Fremde und Diebe abgehalten, auch Geschichten müssen draussen bleiben, denkt man sich als Leser. In etwa drei Monaten wird auch Rumänien zu diesem Europa gehören.
Vor einem Eingang steht ein blinder Bettler. Ich gebe ihm einige Euro und frage, ob er wisse, wo das Hotel Ledi sei. «Es steht vor Ihnen», sagt er, und als ich seinem Blindenstock entlang hinaufschaue, sehe ich die Inschrift «Lady, Hotel Ristorante». Ich wage nicht, ihn zu fragen, ob er Ion heisse und ob er auch Victor Hugo zitieren könne. Das Buch hat mich gepackt, gefangen. Ich weiss genau, dass nur der Leser die Erfahrung mit Literatur machen kann, und zwar am Text. Die Mündigkeit, die ihm zugestanden wird, unterschätzt er häufig.
Am Empfang erkenne ich die tiefe Frauenstimme wieder. Die Frau heisst Valeria und sieht so aus, wie ich mir die rumänische Valeria vorgestellt habe, die von Teodor Moldovan gesucht wird, weil sie mit ihm vor Jahren auf Geschichtenfang gegangen war. Vielleicht ist sie hierher gekommen, um hier zu warten.
«Überall gab es Kioskverkäuferinnen, Fabrikarbeiterinnen, Lehrerinnen, Bäuerinnen, Ärztinnen, Hausfrauen, die warteten. Sie warteten beim Gehen, beim Essen, beim Arbeiten.»
Ich schliesse die Türe meines Zimmers auf – ist es eine Sicherheitstüre? –, stelle das Buch auf den kleinen Tisch, der vor einem Fenster mit Sicht auf den Innenhof steht. Das warme Rot des Umschlages tut dem Zimmer gut. Ich erinnere mich an einen Satz von Walter Benjamin: «Bücher und Dirnen – sie haben jedes ihre Sorte Männer, die von ihnen leben und sie drangsalieren. Bücher die Kritiker.» Jetzt, kurz vor meiner Sitzung, wäre eine Massage des blinden Masseurs Ion gerade das richtige. Ich frage mich, ob ich das Buch auf meinen Rücken legen soll. Können Bücher massieren? Oder nur Texte?
Teodor Moldovan lässt in der Schweiz alles stehen, um zum Geschichtenerzählen, zur Quelle seines Seins zurückzukehren. Bei dieser Suche trifft er, sozusagen im Dantesken dunklen Wald, auf Ion Palatinus, den blinden Mann, der 30’000 Bücher gesammelt hat, Werke der Weltliteratur und nicht das orale Erzählgut. Von den Erzählungen, die Teodor in seiner Jugend aufgenommen hatte, ist nur noch eine Kassette übriggeblieben.
«Das ist alles, was von diesen Aufnahmen übrig geblieben ist. Den Rest haben wir mit den Jahren überspielt», sagt Valeria.
So einfach ist das! Überspielen. 30’000 Bücher sind eine Macht, sie lassen sich nicht überspielen. Mit seinen legendären Massagen hat Ion die Menschen aus seiner Umgebung dazu gebracht, Buch um Buch für ihn auf Band zu sprechen. Lesen, vorlesen, bespielen, «…sie lieben mich dafür, dass ich ihnen die Gelegenheit gebe, in ihrem Leben etwas Sinnvolles zu machen», so die Erklärung, die Teodor erhält.
Mein Zimmertelefon klingelt, Valeria meldet zwei Herren, die sich mit mir verabredet haben. Meine Sitzung. Das Buch fällt von meinem Rücken, öffnet sich. Da steht noch Teodor am Fenster, ihm sind nur noch der Rest der Bibliothek und Elena geblieben, die jetzt zu ihm kommt; das Tonband mit der übriggebliebenen Kassette läuft.
«Das bist doch du», sagte sie.
«Das war ich früher.»
Ion hat nicht nur fast die ganze Bibliothek verbrannt, er hat ihm auch das Geld, den Anzug, den Pass, den Namen und die Schweiz gestohlen. Dort, in diesem Land, das im Roman eine Hauptrolle als Paradies der sauberen Natur und des Respekts vor dem Individuum spielt, will er sich eine neue Existenz aufbauen. Teodor ist Ion, Ion ist Teodor geworden.
Im Sitzungszimmer realisiere ich, dass ich Jacke, Geld und Pass in meinem Zimmer gelassen habe.
Catalin Dorian Florescu: «Der blinde Masseur». Zürich: Pendo Verlag, 2006.
Francesco Micieli, geboren 1956 in Kalabrien, lebt als Schriftsteller in Bern und unterrichtet dort unter anderem an der Hochschule der Künste.