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Wer das Sechseläuten als «zu wenig inklusiv» abtut, versteht Traditionen nicht

Nicht jeder Traditionsanlass muss die ganze Vielfalt der Gesellschaft abbilden. Verschiedene Anlässe können nebeneinander existieren.

Wer das Sechseläuten als «zu wenig inklusiv» abtut, versteht Traditionen nicht
Sechseläuten in Zürich, Bild: Wikimedia.

Ich liebe das Sechseläuten. Und ich liebe das Wurstbraten über etwas herausgeschaufelter Glut mit einer Dose Bier in der Hand, während die Flammen den Böögg vollständig verzehren. Wahre Sechseläuten-Fans scheuen die heisse Glut nicht. Sie harren aus. Denn genau in diesem kollektiven Erlebnis des gemeinsamen Ausharrens liegt die Magie dieses einzigartigen Zürcher Rituals.

Die selbsternannten Wächter der Diversität haben nun auch diesen Brauch ins Visier genommen. «Zu männlich, zu bürgerlich, zu wenig inklusiv», so die wohlfeile meist linke Kritik. Doch diese verkennt das Wesen kultureller Traditionen. Das Sechseläuten muss nicht jede moderne Identitätspolitik widerspiegeln, um cool zu sein. Es ist ein historisch gewachsenes Ereignis, das einer eigenen Logik folgt.

Wer das Zunftwesen als «patriarchal» abkanzelt, verbreitet schlichtweg Unwahrheiten. Das Zunftwesen repräsentiert ein Stück lebendiger Schweizer Geschichte und bewahrt wichtige gemeinschaftliche Traditionen. Die Beteiligung der Gesellschaft zu Fraumünster – einer 1989 als weibliches Pendant zu den traditionellen Zünften geschaffenen Vereinigung – ist kein Zugeständnis an den Zeitgeist, sondern eine natürliche Weiterentwicklung.

Tiefe menschliche Weisheit

Die woken Kritiker wollen jedoch nicht eine Tradition bewahren, sondern streben deren vollständige Umgestaltung nach ihrer eigenen Ideologie einer «gerechten» Welt an. Sie tun dies ohne Rücksicht auf kulturelle Eigenheiten. Das gilt aber offenbar nur für Schweizer Traditionen. Bei fremden Traditionen wird plötzlich grössten Wert auf kulturelle Sensibilität und Respekt gelegt. Eine seltsame Doppelmoral.

Auch die Darstellung von Arabern oder Beduinen in traditionellen Kostümen mancher Zünfte wird als «kulturelle Aneignung» gebrandmarkt. Ironischerweise zeigen sich gerade viele arabische Besucher und Autoren stolz darüber, dass ihre Kultur eine solche Faszination auslöst und an einem traditionsreichen Fest gewürdigt wird.

Die ständige Forderung nach «Repräsentation» verkennt, dass nicht jedes einzelne Element einer Kultur die gesamte Vielfalt der Gesellschaft abbilden muss. Die Stärke einer Stadt wie Zürich liegt gerade in der Koexistenz unterschiedlicher Traditionen und Feiern. Neben dem Sechseläuten haben die Street Parade, das Caliente Festival und zahlreiche andere kulturelle Ausdrucksformen ihren berechtigten Platz.

«Die Stärke einer Stadt wie Zürich liegt gerade in der Koexistenz unterschiedlicher Traditionen und Feiern.»

In einer Welt, die zunehmend entzaubert und mechanisiert wird, brauchen wir solche sinnstiftenden Rituale mehr denn je. Das Sechseläuten verkörpert die Dialektik von Ver- und Entzauberung perfekt: Einerseits feiern wir ein modernes, säkulares Stadtfest, andererseits bewahrt es magische Elemente wie das Wahrsagen durch die Brenndauer des Bööggs. Natürlich wissen wir, dass die Sommerlänge nicht wirklich von einem explodierten Schneemann abhängt, und doch lieben wir den spielerischen Umgang mit Aberglauben und Symbolen.

«In einer Welt, die zunehmend entzaubert und mechanisiert wird, brauchen wir solche sinnstiftenden Rituale mehr denn je.»

In dieser Verbindung aus aufgeklärtem Bewusstsein und ritueller Praxis liegt eine tiefe menschliche Weisheit, denn der Mensch lebt nicht vom Brot der Rationalität allein. Dies gilt auch und gerade für einen Atheisten wie mich.

 

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