Wer bist du?
Vor 40 Jahren, im Jahr 1979, endete die Terrorherrschaft der Roten Khmer in Kambodscha. Alice Grünfelder erinnert literarisch an die Grauen von damals.
Eine junge Frau in grauem T-Shirt schaut mich an. Auf dem T-Shirt sind die Spuren kleiner Füsse aufgedruckt, sie trippeln quer über den Oberkörper. Vielleicht trägt die Frau dazu Schlaghosen, die Mitte der 70er Jahre auch in Kambodscha Mode sind.
Wer bist du?
Vielleicht zupfst du das T-Shirt noch ein wenig zurecht, als der Fotograf die Augenbinde abnimmt. Er ist einer der ersten, den du zu Gesicht bekommst. Er nimmt deinen Kopf in seine Hände und sagt: «Schau geradeaus, auf keinen Fall nach links oder rechts.» Für das Porträt musst du auf einem Stuhl sitzen; solche Stühle erfand die französische Kolonialregierung und stellte sie in ihre Gefängnisse. Praktisch. Gefängnisdirektor Duch verfeinerte die Mechanismen im Auftrag von Angkar. Er leitete das Gefängnis Tuol Sleng in Phnom Penh und besass als einstiger Mathematiklehrer ein Faible für Technik und Akkuratesse.
Dein Foto hängt an einer Stellwand hinter Glas, daneben, darüber, in den Räumen davor: die Fotos Hunderter anderer Gefangener. Wer bist du? Bist du allein gekommen? Oder haben sie euch verhaftet, weil ihr westliche Musik gehört habt, du und deine Freunde nach der Arbeit auf dem Reisfeld, denn andere Arbeit war nicht erlaubt, selbst Kfz-Mechaniker galten als gebildet und wurden deshalb umgebracht. Nur die Führer der Roten Khmer waren Akademiker, liebten einst französische Literatur und französischen Wein. Von Pol Pot heisst es, er sei ein netter und feinfühliger Lehrer gewesen, nie laut geworden. Seine Ausbildung im Kloster habe ihn gelehrt, dass das Leben eines Menschen nach dessen Tod eine Schüssel Asche sei, unter den Roten Khmer verwandelte Pol Pot die Lebenden bereits in Asche.1
Der Fotograf beklagte sich später über den harten Job: «Um halb sieben musste ich aufstehen, hatte nur Zeit für ein Brot, eine Schüssel Reis, denn um sieben kamen schon die ersten Gefangenen. Manchmal kamen sie einzeln, mal in Gruppen, mal ganze Lastwagen voll. Dann musste ich die Fotos entwickeln, zum Trocknen aufhängen und sie Duch bringen – hätten ihm die Fotos nicht gefallen, wäre ich umgebracht worden. Aber Duch mochte mich, denn ich war anständig und gut organisiert. Er schenkte mit sogar eine Rolex.»2
Du hattest keine Uhr, aber hast vielleicht Popsongs von Sinn Si Samouih gehört und wusstest da noch nicht, dass er schon nicht mehr lebt? Warst du auf einer Party, hast du den Geburtstag einer Freundin gefeiert und ihr seid von den Nachbarn verraten worden, weil ihr denen schon immer ein Dorn im Auge wart? Oder waren deine Eltern in Missgunst geraten, und man vernichtete dich zusammen mit ihnen, denn «Dich zu erhalten, ist kein Gewinn, dein Tod kein Verlust», so das Motto der Roten Khmer?
Wer bist du? Warum schaust nur du mich so an wie sonst niemand in diesen Räumen mit den mehr als 6000 Fotografien?
Als du hier im Gefängnis warst, hörte ich in einer süddeutschen Kleinstadt dieselbe Musik wie du, ging auf Partys wie du, trug dieselben T-Shirts und Hosen, wusste von Asien nur, dass in Vietnam einst ein Krieg tobte, da die Nachrichten Abend für Abend Informationen über den Truppenvormarsch und die Truppenstärke der einen Seite einblendeten, danach die der anderen. Dann kamen die Bilder der zerfurchten Gesichter auf Booten, die über die riesigen Meere schaukelten. Offenbar befanden sie sich auf der Flucht. Vor wem, warum, das verstand ich nicht, da halfen mir auch die Nachrichten nicht weiter.
Nachdem sie dich fotografiert haben, bringen sie dich in ein anderes Gebäude, auf dem Weg über den Hof siehst du eine Schaukel, so wie sie bei euch im Schulhof stand, bevor der Besuch einer Schule verboten wurde und in der Schule fortan Schweine untergebracht waren. Du bist beruhigt, von den Umerziehungen hast du schon gehört, du würdest also nicht lange hierbleiben.
Im Raum legen sie dir Fussfesseln an, binden dich mit anderen Frauen an eine Stange am Boden. Zu essen gibt es nur morgens und abends eine Schüssel mit wässrigem Reis, zu wenig, ihr habt Hunger, doch wenn ihr dabei ertappt werdet, wie ihr die Moskitos esst, die sich auf euch setzen, schlagen sie euch so lange mit einem Schuh, bis die Augen rot sind vor Blut. Sie kennen kein Erbarmen, manche sind sogar jünger als du, schauen dich aus teilnahmslosen Augen an. Der Gefängnisdirektor hat sie rekrutiert, Jugendliche, die nie in der Schule waren, die aber wissen, dass jeder, der nach Toul Sleng kommt, ein Verbrecher ist und gegen Angkars Regeln verstossen hat. Die Organisation, Angkar, steht über allem, das Wort Angkars ist Gesetz – auch wenn sie dieses Gesetz nicht immer wirklich verstehen: Sie führen es aus.
Ihr wisst nicht, was sie von euch wollen. Lange denkt ihr, es müsse ein Versehen sein. Doch schon bald wirst du gerufen, du sollst gestehen, was sollst du gestehen, du hast doch nichts verbrochen, vielleicht die falsche Musik gehört, überhaupt Musik gehört, das Nachbarskind eines armen Dorfbewohners beschimpft, weil es die Wäsche, die du zum Trocknen aufgehängt hattest, mit Dreck beworfen hat. Nein, das ist nicht, was sie hören wollen, deshalb schlagen sie jetzt mit Bambusstäben auf dich ein. Du sollst gestehen! Dann nehmen sie dir Blut ab, um die verletzten Soldaten an der Front damit zu versorgen. Du lehnst an der Wand, schwach, entkräftet, neben dir kippt ein Mann zur Seite, ist er tot?
Am nächsten Tag ziehen sie dir die Finger- und Zehennägel, wollen wissen, mit welcher fremden Macht du unter einer Decke steckst. Du schüttelst den Kopf, weil du nicht verstehst, was hier vor sich geht. Du siehst auch nicht, wie sie nachts Männern die Hände hinter dem Rücken verbinden, sie an der Schaukel daran hochziehen und, wenn sie ohnmächtig werden, wieder heruntergelassen und Kopf voran in die Tonkrüge gesteckt werden, in denen normalerweise Wasser gesammelt wird, hier aber sind sie voll mit Exkrementen.
Du kennst keine fremden Mächte, hast nichts zu sagen. Also setzen sie Tausendfüssler auf deine blutigen Brustwarzen und zwischen die Beine. Bis du nicht mehr kannst, vor lauter Schreien und Weinen keinen Ton mehr herausbringst, nickst, losgebunden wirst. Als sie dein Geständnis haben, sind sie zufrieden.
Streng achtet Gefängnisdirektor Duch darauf, dass unter der Folter niemand stirbt, die Methoden hat er aus den Büchern der Franzosen, der schnellste Weg zum Geständnis ist ihm das Wichtigste. So kommt er der Verpflichtung nach, Woche für Woche Hunderte Verräter zu produzieren – sie sind das Einzige, was in der entvölkerten Stadt Phnom Penh noch produziert wird.
Abertausende Dokumente mit Verhörprotokollen werden später gefunden, Duch, so wird später einer seiner Bediensteten vor dem Tribunal erzählen, liest die ausführlichen Beschreibungen der Verhöre im Kreis seiner Familie Abend für Abend. Er ist es höchstpersönlich, der dein Geständnis unterzeichnet, und dein Name wird sodann auf eine Liste gesetzt. Am nächsten Abend wirst du auf einen Lastwagen verfrachtet, der dich in deine neue Unterkunft bringen wird, sagen sie dir, als sie dir wieder die Augen verbinden. Ihr fahrt nicht lange. Du hörst das Flüstern alter und junger Männer, alter Frauen und junger, manche haben ein Kind bei sich.
Als ihr aussteigt, ist es bereits dunkel, der Weg ist hell erleuchtet – die Scheinwerfer werden von Generatoren betrieben, deren Geräusch ist ohrenbetäubend. In einer Hütte wird dein Name aufgerufen, jemand macht ein Kreuz auf seiner Liste, alles hat seine Ordnung, du stellst dir schon die neue Unterkunft vor, als sie dich und die anderen Frauen mitnehmen. Aus den Lautsprechern, die in den Ästen der Banyanbäume hängen, kommen Revolutionsgesänge. Darunter schlagen Wächter die Köpfe von Kindern blutig, erst jetzt hörst du ihr Schreien.
Jemand stösst dich, du kniest nieder.
Nein, es geht nicht schnell. Kambodscha ist ein armes Land, und der Völkermord ist hier Handarbeit. Der Schlag mit einer Eisenstange in dein Genick ist der Anfang, die erste Fahrt des stumpfen Messers über deine Kehle aber noch nicht das Ende. Irgendwann werfen sie dich in eine Grube, bestäuben dich mit weissem Pulver, bedecken dich mit Erde, wie alle anderen. Hätten sie nicht getan, wie ihnen befohlen worden war, wären auch sie umgebracht worden, sagen sie, taten nur ihre schwere Arbeit. Nuon Chea, einer der Anführer der Roten Khmer, gesteht in den Prozessen immerhin, dass ihm der Schmerz der Menschen leid täte. Noch mehr aber der Schmerz der Tiere. Ein Tumult im Gerichtssaal, nein, kein Übersetzungsfehler. Duch, der einstige Mathematiklehrer und Gefängnisdirektor, ist der einzige Angeklagte, der Reue zeigt.
Als vietnamesische Truppen am 7. Januar 1979 Phom Penh eroberten und das Gefängnis Toul Sleng entdeckten, lagen im Hof verstreut Tausende Dokumente. Die dazugehörigen Fotos klebten nicht mehr darauf. Jene, die gut erhalten waren, stellte man aus. In der Hoffnung, Verwandte würden doch noch ihre Angehörigen wiederfinden. Wurdest du gefunden? Oder waren deine Familienangehörigen in den anderen Gefängnissen umgekommen, in den Reisfeldern zu Tode gehungert worden? Wer bist du?
Cyanotypien: Simone Glauser
Soth Polin: The Diabolic Sweetness of Pol Pot. In: Frank Stewart und Sharon May (Hrsg.): In the Shadow of Angkor. Manoa: University of Hawai’i Press, 2004. ↩
So würde er später vor dem Khmer-Rouge-Tribunal aussagen, und dass er die Uhr gegen zwanzig Sack Reis getauscht habe. Vgl. Seth Mydans: Out from behind a Camera at a Khmer Torture House. In: «New York Times» vom 26. Oktober 2007. ↩