Wenn zwei das Gleiche tun…
In seinem neuen Roman erzählt Lukas Hartmann die tragische Geschichte von Lydia Welti-Escher und ihrer Liebschaft mit dem Maler Karl Stauffer-Bern. Auch die Berner Autorin Stef Stauffer hat vor Kurzem einen Welti-Escher-Roman vorgelegt. Wir besprechen beide – und beide Erzählperspektiven – zusammen.
Ihren Zeitgenossen gilt Lydia Escher-Welti Ende des 19. Jahrhunderts als Skandalon. Die Tochter des «Eisenbahnkönigs» Alfred Escher und Ehefrau eines Bundesratssohns, Kunstmäzenin und reichste Frau der Schweiz wird die Geliebte von Porträtmaler Karl Stauffer; sie wird in Folge geschieden, gründet eine Kunststiftung und nimmt sich schliesslich das Leben.
Als Protagonistin beider Romane, Lukas Hartmanns «Ein Bild von Lydia» wie Stef Stauffers «Die Signora will allein sein», eignet sie sich vornehmlich durch ihr Verhältnis zu Männern: vom berühmten Vater früh als Schreibkraft und Gastgeberin eingespannt, vom Ehemann gelangweilt, vom Maler mutmasslich als Finanzierungsgehilfin engagiert und vom einflussreichen Schwiegervater, in Folge der Liebschaft, in eine Irrenanstalt eingewiesen, erscheint sie in diesem beklemmenden Karree oft mehr oder weniger als soziale Manövriermasse. Dieses «mehr oder weniger» dient den beiden Autoren als Spielraum, in dem ihre je eigene Koalition von Erzählung und Geschichtsschreibung ein Bild der Signora Escher-Welti entstehen lässt.
Lydia 1: Hilfsbedürftiges Mädelchen mit trivialisiertem Intellekt
Stef Stauffer macht vor allem die Beweggründe der Allianz zwischen Lydia und dem Maler, –die gemeinsame Liebe zu Kunst und Freiheit – und die Implikationen von Lydias emanzipativer Meuterei kenntlich. Ihre Entscheidungen werden als proto-feministische Akte inszeniert, wobei sich Stauffer als Autorin gleichzeitig streng an die Faktenlage hält: Ihr Roman setzt ein, nachdem Lydia in eine noble römische Irrenanstalt gebracht worden ist, wo die Ärzte ihre Zurechnungsfähigkeit in Frage stellen. Was wiederum Karl des Missbrauchs einer Geisteskranken überführen soll. Der Kontakt zwischen den beiden ist zu diesem Zeitpunkt bereits abgebrochen. Die Fakten dienen Stauffer als Staffage für die lyrische Innenschau ihrer beiden Protagonisten Lydia und Karl. Hierzu fächert sie ihren Roman strukturell in zwei Erzählformen auf: Während Karls Situation in auktorialen Passagen einfühlsam dargestellt wird, äussert sich Lydia in einem bekenntnishaften Monolog, der sich – als Imitation eines realiter verschollenen Tagebuchs – als poetische Rekurrenz der damaligen Epoche geriert. Hierbei aber verheddert sie sich nicht selten im trivialbelletristischen Sehnsuchtskosmos einer heutigen Jugendlichen, und das ist das Ärgernis in Stauffers Roman: ihre Darstellung bricht komplexe Charakter- und Sozialkonzepte wie auch die Geschlechterproblematik der damaligen Zeit auf Klischees herunter. In ihrer Schilderung regrediert die gebildete und reflektierte Lydia Welti-Escher zu einer einfältigen Frau: von der Fantasie, die sie zu ihren historisch belegten Befreiungsakten zweifellos aufbringen musste, wird wenig erkennbar. Lydia wird mit einem feministischen Temperament ausgestattet, ohne die entsprechenden geistigen Tools mitzubekommen. Stauffers Roman ist so unfreiwillig antifeministisch, denn die naiven Selbstauskünfte Lydias degradieren sie zu einem hilfsbedürftigen Mädelchen.
Lydia 2: Eine «Puppe» verlangt nach Selbstbestimmung
Lukas Hartmann beweist in seiner Interpretation «Ein Bild für Lydia» mehr Gespür für jene Strukturen, welche die Frau sozial entmündigen. Und er findet eindrückliche Bilder dafür: etwa die «Weisse Lydia», ein Gemälde Karl Stauffers, auf dem Lydia «trotz ihrer ruhigen Haltung und der abgeschnittenen Füsse [..] so lebendig» wirke, «als würde sie [..] gleich aufstehen oder den Betrachter ansprechen.» Wir sehen hier zum einen die der männlichen Darstellung ausgelieferte Frau, die selbst vom Maler noch am eigenständigen Stehen und Gehen gehindert wird. Zum andern aber wird Karl Stauffers Bemühen sichtbar, dennoch die Vitalität einer Frau herauszuarbeiten, die trotz ihrer sozialen Beschnittenheit nicht resigniert.
Auch weitere Bilder imponieren in diesem Sinne: Als Kind bekommt Lydia von ihrem Vater eine kostbare Puppe geschenkt, deren herausgeputzte Leblosigkeit sie anwidert: Die Puppe kann nur, was man mit ihr anstellt, von sich selbst aus kann sie nichts. Dem sich in diesem Bild manifestierenden Streben, jegliche Autonomie zu betäuben, widersetzt sich Lydia zumindest ansatzweise. In Zeiten seelischer Nöte aber lässt Hartmann – zweifellos inspiriert von Conrad Ferdinand Meyers Bemerkung, Lydia sei «wie eine Puppe» – die erwachsene Frau zum kleinen Mädchen werden, das sich führen, kleiden und füttern lässt. Hartmanns Ansatz ist ein anderer als der Stef Stauffers; statt Lydias Innenleben auszukundschaften, um ihr emanzipatives Potenzial zu glorifizieren, inszeniert er sie als Benachteiligte der sozialen Umstände, die systematisch um ihr Vermögen gebracht und seelisch zerstört wurde. Bereits die Erzählperspektive zeugt davon: Als Erzählerin fungiert Lydias Kammerzofe Luise, ein Mädchen aus niederem Stande, das als Bindeglied zwischen den Klassen hindurchdiffundiert und dem Leser den Blick auf Lydia aus mehreren Perspektiven erlaubt.
Aber auch Hartmann präsentiert seine Lydia als Opfer, das von einflussreichen Männern, wie Luise deutelt, «in die Verzweiflung getrieben» worden sei. Eine Auslegung, die den Leser einnehmen soll für das Schicksal einer «getriebenen» Frau. Dabei unterschätzt Hartmann vielleicht die emanzipativen Implikationen von Lydias Werdegang: das Bekenntnis zu Karl Stauffer und die Trennung von ihm, die Gründung ihrer Kunststiftung und nicht zuletzt ihr Freitod bezeugen ein entschiedenes Verlangen nach Selbstbestimmung. Als Versuch, geschichtliche Ereignisse literarisch neu zu erfinden, ist Hartmanns Roman unterdes nicht gescheitert. Dank seines Recherchefleisses gelingt es ihm, die atmosphärischen Bedingungen einer vergangenen Epoche in einem leicht lesbaren Roman zu skizzieren. Stef Stauffers Porträt einer prä-feministischen Frau dagegen strauchelt angesichts einer falsch verstandenen Einfühlsamkeit, die einer historischen Person ein heutiges Individuationskonzept überstülpt. Was progressiv gemeint war, gerät unter ihrer sprachlich limitierten Feder bieder und altbacken.
Die Bücher:
Lukas Hartmann: Ein Bild von Lydia. Zürich: Diogenes, 2018.
Stef Stauffer: Die Signora will allein sein. Basel: Münsterverlag, 2017.