Wenn Zauberer entzaubern
Philipp Gut: «Thomas Manns Idee einer deutschen Kultur». Frankfurt a.M.: Fischer, 2007. Ganz unbekannt ist dieses Thema nicht. Wer es einmal mehr bearbeitet, kann schwerlich darauf hoffen, bislang unentdecktes Material von erheblicher Tragweite zu finden. Doch eines kann nie schaden: einen frischen Blick auf allzu Bekanntes zu werfen; neu zu deuten, was als Gemeinplatz erschien; […]
Philipp Gut: «Thomas Manns Idee einer deutschen Kultur». Frankfurt a.M.: Fischer, 2007.
Ganz unbekannt ist dieses Thema nicht. Wer es einmal mehr bearbeitet, kann schwerlich darauf hoffen, bislang unentdecktes Material von erheblicher Tragweite zu finden. Doch eines kann nie schaden: einen frischen Blick auf allzu Bekanntes zu werfen; neu zu deuten, was als Gemeinplatz erschien; innerhalb dieses unvergleichlichen Werkes, das Thomas Mann hinterlassen hat, bislang übersehene Zusammenhänge zu entdecken und aufzuzeigen. Und genau das ist Philipp Gut gelungen. Er hat es noch einmal auf sich genommen, die sperrigen «Betrachtungen eines Unpolitischen», die «Josephs-Tetralogie», den «Doktor Faustus», das essayistische Werk, die Briefe und Tagebücher auf das hin zu untersuchen, was Thomas Mann umgetrieben hat: die Auseinandersetzung mit dem Phänomen «deutsche Kultur», diesem magischen Zauberwort, das für unerreichte Höhen steht und für unsägliche, abgrundtiefe Barbarismen. Die zweideutige Grösse der deutschen Kultur und das Leiden an ihr, die versuchte Umwertung dieses Wertes, die gefährlich selbstverliebte, politik- (und realitäts-)ferne Seite dieser Kultur sowie Thomas Manns an Selbstentzauberung grenzender Versuch, sich die einst verketzerte demokratisch-westliche Zivilisation anzuverwandeln, alles das ist Thema dieses luzide geschriebenen Buches. Seine Lesbarkeit ist kein geringes Verdienst, von den eigentlichen Befunden zu schweigen: Gut zeigt, wie Thomas Manns essayistisches Fragment «Geist und Kunst» (1909) die Stichworte für seine Kritik an der westlichen Zivilisation lieferte; schlüssig analysiert er den Paradigmenwechsel in Thomas Manns Schaffen nach dem Ersten Weltkrieg, liest den Zauberberg als intellektuellen Schlüsselroman, deutet triftig das politische Verhalten Manns in der Emigration, einschliesslich dessen Geste, sich selbst mit deutscher Kultur gleichzusetzen und bis zuletzt «verzweifelt deutsch» zu bleiben.
Diese Studie verdient eine eingehendere Würdigung als dies hier geschehen kann. Aber dieses sei noch erwähnt: auf der Grundlage von Guts Untersuchung liesse sich ein Desiderat angehen, nämlich die Erörterung der Frage, welche Bedeutung Thomas Manns «Idee einer deutschen Kultur» heute noch haben kann, ob sie mehr bleibt als nur ein historisches Zeugnis. Welcher deutschsprachige Gegenwartsschriftsteller bezieht sein Kulturbewusstsein von Schopenhauer und Nietzsche, Wagner und etwas Spengler? Man hüte sich vor überstürzten Schlüssen. Wie wesentlich, wie beziehungsreich gerade in seiner Problematik dieses Erbe noch immer sein kann, belegt diese Arbeit mit dankenswerter, jargonfreier Klarheit. Man liest, dass Guts Studie als Dissertation in Zürich angenommen wurde. Glückliche Schweiz, wenn dort solche Dissertationen geschrieben werden!
vorgestellt von Rüdiger Görner, London