Wenn nicht ich, wer dann?
Zivilcourage können Menschen mit unterschiedlichsten Hintergründen und in verschiedenen Situationen zeigen.Was sie eint, ist die Bereitschaft, für grundlegende Werte einzustehen.
«Nichts ist schwerer und erfordert mehr Charakter, als sich in offenem Gegensatz zu seiner Zeit zu befinden und laut zu sagen: Nein.»
Kurt Tucholsky
Das Zitat von Schriftsteller Kurt Tucholsky aus dem Jahr 1921 zeigt, worum es bei Zivilcourage geht: um Charakter und Mut. Es kann gefährlich sein, einen solchen Mut zu zeigen. Besonders dramatisch wird es, wenn Zivilcourage als Widerstand gegen Diktaturen und staatlichen Terror gefordert ist.1
Doch was ist die Alternative? Wer keine Zivilcourage zeigt, billigt – durch Schweigen, Wegsehen, Weggehen, Verdrängen oder Verleugnen – Gewalt, Unterdrückung und Terror. Aus diesem Dilemma kommt niemand heraus, der Zeuge oder indirekt Betroffener ist. Wer nicht handelt, macht sich schuldig. Erich Kästner hat das in seinem Kinder- und Jugendbuch «Das fliegende Klassenzimmer» so auf den Punkt gebracht: «An allem Unrecht, das geschieht, ist nicht nur der schuld, der es begeht, sondern auch der, der es nicht verhindert.»
«Wer keine Zivilcourage zeigt, billigt – durch Schweigen, Wegsehen,
Weggehen, Verdrängen oder Verleugnen – Gewalt, Unterdrückung und Terror.»
Letztendlich geht es immer um Gewalt. Sie liegt sowohl aktuell als auch potentiell vor, sie kann von Personen, aber auch durch Strukturen erzeugt werden. Folgt man dieser Differenzierung von Johan Galtung2, dann erweitert sich das Feld für zivilcouragiertes Handeln, verstanden als Verhinderung von Gewalt: Es geht einmal um den Schutz und Beistand, wenn einzelne Personen oder Personengruppen unmittelbar körperlich attackiert oder wegen ihrer Herkunft, Hautfarbe, Lebenssituation, Religion oder sexuellen Präferenz diskriminiert werden. Zum anderen, wenn es mittelbar geschieht, durch soziale Benachteiligungen, durch autoritäre oder diktatorische Herrschaftsstrukturen, wenn Mittel vorenthalten werden, die Gesundheit und Leben retten würden, etc.
Was ist Zivilcourage?
Bei Zivilcourage geht es nicht um die Verteidigung eigener materieller Werte oder um persönliche Selbstverwirklichung, sondern um den Mut, mit dem Humanität, Demokratie und Menschenrechte verteidigt oder gefordert und Menschen geschützt werden, die von Gewalt und Repressalien bedroht werden oder betroffen sind.
«Bei Zivilcourage geht es nicht um die Verteidigung eigener materieller Werte oder um persönliche Selbstverwirklichung.»
Es gibt viele Faktoren oder Beweggründe, die zu einem solchen sozialcouragierten Engagement führen können: Moral, Gewissen, Verantwortung, Vernunft, Empathie. Aber sie sind nicht eindeutig: Auch die nationalsozialistische SS hatte ihren Schergen «Moral» eingetrichtert. Das Gewissen kann einem Soldaten das Töten befehlen. Die vermeintliche Verantwortung für das eigene Volk kann Politiker und Politikerinnen veranlassen, Kriege zu führen. Mit Empathie für die Opfer kann man beispielsweise auch die Todesstrafe für ihre Täter gutheissen.
Der Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen für Opfer von Gewalt und/oder Diktatur, ihnen beizustehen und aus einer inneren Überzeugung heraus entschieden «Nein» oder «Stopp» zu sagen, stehen zwei mächtige Widersacher entgegen: Pflicht und Gehorsam. Beide sind durch Erziehung und Sozialisation in das Gefühlsleben und Verhaltensrepertoire eingepflanzt, sind Richtschnüre bei Entscheidungen und Handlungen geworden. Diejenigen, die «ungehorsam» sind oder sich der ihnen auferlegten Pflicht widersetzen, müssen mit Sanktionen rechnen.
Auch Adolf Eichmann, der massgeblich verantwortlich für die Organisation der Massenmorde der Nazis und der SS war, berief sich auf sein Gewissen. Hannah Arendt hat ihn im Gerichtsprozess in Jerusalem 1961 beobachtet. Es hätte «ihm nur eins ein schlechtes Gewissen bereitet (…): wenn er den Befehlen nicht nachgekommen wäre». Arendt stellte bei Eichmann eine «unerbittliche Pflichttreue»3fest. Er erfüllte gehorsam seine «Pflicht» – so wie Abertausende andere auch. Das veranlasste sie zur folgenden Überlegung: «Es wäre viel gewonnen, wenn wir das verhängnisvolle Wort ‹Gehorsam› aus dem Vokabular unseres moralischen und politischen Denkens streichen könnten.» 4
Pflichterfüllung und Gehorsamsbereitschaft führen zu Anpassung, Unter- und Einordnung, zum Mitläufertum, zum Mitschwimmen im Strom der Mehrheit, zum Wegschauen. Wer sich dagegen zivilcouragiert verhält, muss eine eigene Meinung und den Mut zum Widerspruch haben, muss Autonomie haben und zeigen, also unabhängig, selbstbestimmt und willensfrei sein. Was zeichnet Menschen aus, die diese Eigenschaften haben?
Was Zivilcourage begründet und verstärkt
Die New Yorker Psychologin Eva Fogelman ist der Frage nachgegangen, warum sich Menschen trotz grosser Gefahren für die Verfolgten und Opfer des Nationalsozialismus eingesetzt hatten. Sie kam aufgrund von Interviews zu folgender Antwort:
«Eines haben sie (die Retter/-innen) immer gemeinsam. Sie haben alle sehr ausgeprägte humanistische Wertvorstellungen.» Alle hatten «ein behütetes, liebevolles Elternhaus; […] eine verständnisvolle und fürsorgliche Erziehung zu Unabhängigkeit, Selbständigkeit und Disziplin, die nicht mit körperlichen Strafen und Liebesentzug operierte» 5.
Der deutsche Historiker Arno Lustiger beschreibt in einer umfangreichen Darstellung etliche Personen, die Rettungsversuche und Rettungen von verfolgten Juden leisteten. Im Unterschied zu Fogelman findet er keine eindeutigen Merkmale und Faktoren, die sie dazu veranlassten:
«Wer waren diese aussergewöhnlichen Menschen? Sie rekrutierten sich aus allen Schichten der Bevölkerung. Viele von ihnen waren einfache Menschen, andere gehörten höheren Schichten an, es gab auch Adlige unter ihnen. Es waren Arbeiter, Professoren, Bauern, Nonnen, Diplomaten, Polizisten, Zirkusbesitzer bis hin zu Prostituierten, denen leider jegliche Anerkennung verweigert wurde. Es waren Gläubige aller christlichen Kirchen. Auch etwa siebzig Moslems waren geehrte Judenretter. (…) Keinem der Forscher ist es gelungen, eine gemeinsame Persönlichkeitsstruktur aller Retter zu entdecken.» 6
Offen ist also, welches die ausschlaggebenden Gründe sind, die einen Menschen veranlassen, seine Ängste zu überwinden und den Mut aufzubringen, zivilcouragiert zu sein. Es fehlen überzeugende Daten. Immerhin konnte festgestellt werden: «Grundsätzlich ohne Bedeutung dafür, ob jemand Zivilcourage zeigt oder nicht, sind die Faktoren Alter und Bildung (ausser gegenüber Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit) sowie Beruf, Einkommen, regionale Herkunft, Religions- bzw. Konfessionszugehörigkeit.» 7
Aber es gibt eine Reihe von Eigenschaften, die für einen zivilcouragierten, mit sozialem Mut ausgestatteten Menschen charakteristisch sind: Wertorientierung, moralische Grundhaltung, Mitempfinden, Mitgefühl, Fähigkeit zum Perspektivwechsel, Sinn für Gerechtigkeit, soziale Grundhaltung, Fähigkeit zur Solidarität, Gemeinsinn, Toleranz, Hilfsbereitschaft, Selbstvertrauen, Handlungsfähigkeit, Entscheidungssicherheit, Konfliktfähigkeit, Risikobereitschaft, Verantwortungsgefühl, Bindung an Vorbilder, kommunikative Kompetenz, Wissen und Argumentationsfähigkeit …
Eine aktuell dringende Herausforderung ist, dass Zivilcourage nicht nur in unmittelbaren Situationen erforderlich ist, sondern auch zunehmend in der virtuellen Welt der «sozialen» Medien. Es ist schon mutig, gegen die sich aufschaukelnde Kette der Verächtlichmachung und des Hasses mancher Kommentare im Netz einfach einen Widerspruch zu posten, und zwar im Klarnamen.
Ob das erfolgreich ist, bleibt offen. Daher bleibt am Ende nur die unerbittliche Einsicht über die Zivilcourage: Wenn nicht ich, wer dann?
Kurt Tucholsky: Verteidigung des Vaterlandes. In: Band 3 der Gesammelten Werke in 10 Bänden. Reinbek bei Hamburg, 1975, S. 58. ↩
Johan Galtung: Strukturelle Gewalt. In: Beiträge zur Friedens- und Konfliktforschung. Reinbek bei Hamburg, 1975. ↩
Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. Reinbek bei Hamburg 1978, 53, 175. ↩
Hannah Arendt: Was heisst persönliche Verantwortung in einer Diktatur? München 2019, 52. ↩
Eva Fogelman: «Wir waren keine Helden». Lebensretter im Angesicht des Holocaust. Motive, Geschichten, Hintergründe. Frankfurt/M. und New York 1995, 249/50. ↩
Arno Lustiger: Rettungswiderstand. Über die Judenretter in Europa während der NS-Zeit. Göttingen 2011, 20 f. ↩
Gerd Meyer: Jenseits von Gewalt – Zivilcourage als sozialer Mut im Alltag. In: Gerd Meyer/Siegfried Frech (Hrsg.): Zivilcourage. Aufrechter Gang im Alltag. Schwalbach/Ts. 2014, 32. ↩