Wenn die Verantwortung schwindet…
Es stimmt schon: der Ruf nach Verboten ertönt öfter als noch vor einigen Jahren. Aber sind daran bloss die Politiker schuld? Eine Entgegnung auf Balthasar Glättli.*
Staatliche Zwangsmassnahmen erleben in der Schweiz eine neue Blüte, schreibt Balthasar Glättli, Gemeinderat der Grünen in Zürich. Er kritisiert den willkürlichen Zwang, der sowohl im Ausländerrecht als auch bei der «Einzonung des öffentlichen Raums gegen unerwünschtes Verhalten» um sich greife. Das ist gut formuliert; doch scheint mir, dass Glättli hier einer rechtlichen Beliebigkeit das Wort redet, die letztlich zur Anarchie führt.
Ich beginne beim Prinzipiellen. Die Gewährleistung von Ruhe und Ordnung ist eine grundlegende Aufgabe des Staates. Der Schutz der Bürger voreinander durch ihn, und der Bürger vor ihm, ist ein zentrales Thema des modernen Rechtsstaates. Es ist nun zweifellos so, dass das Sicherheitsbedürfnis der Menschen in jüngerer Zeit gewachsen ist. Der Ruf nach dem Staat und dem Gesetzgeber ist lauter geworden, staatliche Regeln und Normen haben an Bedeutung gewonnen. Warum ist das so?
Es gelingt uns im Zuge einer zunehmenden Individualisierung immer weniger, uns als Gemeinschaft über gemeinsame, verbindliche Werte zu verständigen. Einzelne Personen und Gruppen erlauben sich Dinge, die ausserhalb der gesteckten Grenzen liegen. Dies führt zu Gegenreaktionen – die Akzeptanz ausserrechtlicher Gepflogenheiten bei der jeweiligen Mehrheit schwindet. So wächst paradoxerweise als Folge der Individualisierung die Bereitschaft vieler Menschen, ihre Freiheit zu Gunsten des Kollektivs einzuschränken. Dabei herrscht der Irrglaube, der Staat sei besser geeignet als das Individuum, gesellschaftlichen Fehlentwicklungen entgegenzutreten.
Glättli argumentiert zu Recht, dass es sich hierbei um eine ungute Entwicklung handle. Doch übersieht er, dass dahinter nicht ein politischer Wille zum Zwang steht, sondern vielmehr das Versagen oder Fehlen des gesellschaftspolitischen Grund- und Wertekonsenses.
Was bedeutet dies konkret für die Aufgabe des Staates? Die Freiheit des einzelnen stösst dort an ihre Grenzen, wo die Freiheit des Nächsten tangiert wird. Wenn einzelne Gruppen oder Personen den öffentlichen Raum für sich einnehmen und andere Menschen an der Mitbenützung hindern, so muss ein Ausgleich geschaffen werden. Wer leistet dies? Die Betroffenen selbst sowie Dritte immer weniger. Um das Feld nicht einfach dem «Stärkeren» zu überlassen, muss der moderne Rechtsstaat eine hoheitliche Klärung herbeiführen. Damit gewinnen fast alle, auf jeden Fall aber jene, die sich respektvoll und anständig verhalten. Hooligans oder gewalttätige Politaktivisten, die meinen, das Anpöbeln anderer Menschen oder die Beschädigung fremden Eigentums seien ein Menschenrecht, werden durch den Staat in die Schranken gewiesen.
Derselbe Staat hat auch zu regeln, wer das Recht hat, sich auf seinem Gebiet aufzuhalten. In rechtsstaatlichen Verfahren mit gerichtlicher Überprüfungsmöglichkeit wird festgestellt, wer sich in der Schweiz aufhalten darf und wer unser Land mangels Asylgründe wieder verlassen muss. Rechtssicherheit und Respekt vor den Regeln des gesamtgesellschaftlichen Zusammenlebens gebieten es, dass der Rechtsstaat diese Verpflichtung auch zwangsweise durchsetzen kann. Wer die Einschränkung der persönlichen Freiheit bei illegalen Aufenthaltern, die sich nicht nur weigern, die Schweiz zu verlassen, sondern staatliche Rückführungsbemühungen aktiv hintertreiben, als Aussetzung der Grundrechte bezeichnet, macht sich die Sache zu leicht. Er verkennt, dass eine Gesellschaft mit Rechten allein nicht lebbar ist, sondern auch die Einhaltung von Pflichten voraussetzt.
Wenn Glättli schliesslich das Gewaltmonopol des Staates in den Kontext von Michel Foucaults Machtkritik stellt, wird die Argumentation vollends abstrus. Der französische Philosoph geht davon aus, dass Machtbeziehungen überall entstehen und allen anderen Beziehungen immanent seien. Es gibt seiner Meinung nach kein gesellschaftliches Leben ohne Macht. Die Machtbeziehungen, von denen wir im Rechtsstaat sprechen, haben nun den Vorteil, demokratisch legitimiert zu sein: von gewählten Behördenmitgliedern geregelt, von einer Mehrheit des Volkes akzeptiert. Gerade im schweizerischen Rechtsstaat wird die Macht nicht einfach von einem «anonymen» Staat verkörpert, sondern von demokratischen Institutionen und damit letztlich von der Gesellschaft selbst.
Fazit: staatliche Regeln und Normen sowie deren Durchsetzung sind für das friedliche Zusammenleben in unserer Gesellschaft notwendig. Der Wertekonsens kann hingegen nicht durch noch mehr staatliche Massnahmen und Kontrollen ersetzt werden. Es bedarf vielmehr einer neuen Zusammenarbeit des Staates – einer neuen Art contrat social – mit den Bürgerinnen und Bürgern. Dieser Zusammenarbeit muss die Einsicht zugrunde liegen, dass die Verantwortung des einzelnen für die Gesellschaft wächst, je grösser seine Freiheit ist.
* «Politische Zwangsneurosen», «Schweizer Monatshefte» Nr. 963, S. 11.
Karin Keller-Sutter, geboren 1963, ist seit 2000 Vorsteherin des Sicherheits- und Justizdepartements des Kantons St. Gallen.