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Wenn die Eins zur Null wird

Die schweizerischen Parteien setzen zwar vermehrt auf soziale Medien, um ihre Wähler zu erreichen. Gedanken über die Auswirkungen der Digitalisierung auf die eigenen politischen Grundwerte machen sie sich aber nicht. Das dürfte sich rächen.

Parteien bauen ihre politischen Programme auf den ihnen wichtigen Grundwerten auf. Auf dieser Basis definieren sie ihre politischen Positionen und erklären sie nach aussen. So gehört das Begriffspaar «Freiheit und Verantwortung» traditionell zu liberalen Parteien wie der FDP. Die SP spricht lieber von «Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität», die CVP redet im Moment von «Freiheit und Solidarität». Niemand aber fragt: wofür stehen diese Begriffe im digitalen Zeitalter eigentlich?

Das Problem: Datafizierung, Automatisierung, Vernetzung sowie die Interaktion zwischen Mensch und Maschine verändern die gesellschaftlichen Grundlagen und bergen damit auch neue ethische Herausforderungen. Begriffe wie Freiheit und Selbst­bestimmung müssen in diesem Umfeld neu definiert werden. Will der Mensch die Kontrolle, Souveränität und Macht über die eigenen Daten und Entscheidungen behalten – und wenn ja: handelt er dann künftig, wenn die Maschinen aufgrund der von ihnen ausgewerteten Menschen womöglich tatsächlich besser wissen, was er wollen sollte, noch «verantwortlich»? Ist er nur noch so lange «frei», wie er sich nicht an ihre Anweisungen hält? Auch für ­kollektive Werte wie Solidarität und Gerechtigkeit stellen sich neue Fragen: zuvorderst in den Bereichen Gesundheit und Altersvorsorge, wo der «Schleier des Unwissens», ein elementarer Pfeiler des bisherigen Versicherungswesens, zur Seite geschoben zu werden droht. Und kann einer Institution noch klare Verantwortung beigemessen, sie für die Missachtung derselben zur Rechenschaft gezogen werden, wenn sie von einer künstlichen Intelligenz (KI) gesteuert wird? Wer oder was ist das künftig eigentlich – «verantwortlich»?

Zwar sprechen Politiker aller grossen Parteien gern und viel über Digitalisierung, ihre Chancen und Gefahren, an die elementaren Wertkataloge allerdings wagt sich kaum jemand, wie nach einer systematischen Sichtung der öffentlichen Grundwert- und Positionspapiere sowie der Parteistellungnahmen festzustellen ist. Mutlosigkeit regiert in allen politischen Lagern. Dabei hätte eine Partei, die die heutigen Probleme in der digitalen Welt auf den Punkt bringt, grosse Chancen, mit einem Startvorteil in die Wahlen zu gehen. Denn: die Bürgerinnen und Bürger leben täglich in dieser digitalen Gesellschaft – sie stellen sich entsprechende Fragen und sind zumindest teilweise verunsichert ob der Diskrepanz zwischen den politischen Parolen und der Realität. Welche Antworten wären ihnen zu geben?

Erste Aufgabe: «Freiheit» und «Selbstbestimmung» in einer Welt der vernetzten Daten neu definieren

Die Begriffe Freiheit und Selbstbestimmung hängen eng zusammen. Freiheit eröffnet einer Person die Möglichkeit, ihr Leben möglichst unbeeinträchtigt von äusseren Zwängen nach eigenen Vorstellungen zu gestalten – und wenn sie von dieser Möglichkeit Gebrauch macht, so darf sie als selbstbestimmt gelten. Im digitalisierten Zeitalter stellt sich aber die Frage, ob davon überhaupt noch ausgegangen werden kann. Denn: Algorithmen und auf das Individuum zugeschnittene Informationen können Strategien einer Einflussnahme beinhalten, die von den Adressaten nicht wahrgenommen werden. Natürlich können letztere weiterhin meinen, selbstbestimmt und frei zu sein – sie sind es aber nur eingeschränkt.

Selbstbestimmung war zwar auch früher keine 100prozentige Selbstbestimmung, und jede Information enthält bewusste oder unbewusste Falsch- oder Halbinformationen, die vom einzelnen nie in Gänze entlarvt werden können. Neu sind aber die Skaleneffekte: mit Hilfe neuer Techniken können auf einfachstem Wege und ohne grössere Kosten ganze Massen von Nutzern einschlägiger Internetdienste beeinflusst und gesteuert werden – ein Klumpenrisiko für die Freiheit, das nicht nur bei monopolisierten «Staatsmedien» auszumachen ist, sondern auch bei der Marktmacht einiger grosser privater Internetkonzerne und ihrer Plattformen.

Die Digitalisierung führt uns auch neue Grenzen der Privatsphäre vor Augen: Wähnten wir uns bis vor einigen Jahren in unseren vier Wänden unbeobachtet, sind wir nun den Augen von «Big Brother» auch im Privaten ausgeliefert. Sobald wir im Internet surfen oder ein Smartphone benutzen, werden wir «gesehen». Wir können zwar im Prinzip weiterhin selbst bestimmen, ob wir vernetzte Geräte und Dienste nutzen – der gesellschaftliche Druck, sie zu gebrauchen, ist jedoch derart gross geworden, dass die Nichtnutzung für viele gar keine Option mehr darstellt. Liberale waren sich bisher einig, dass Monopole und Oligopole problematisch sind, wenn es um die (Wahl-)Freiheiten der Bürger geht. De facto ist es aber längst so weit, dass wir nur noch dahingehend frei sind, zu wählen, ob wir die Konzessionen bei der Privatsphäre eher an Apple oder an Google machen wollen. Wer nach China mit seinen Social-Scoring-Systemen schaut, auf die auch westliche Staaten ein Auge geworfen haben, könnte sagen: immerhin noch so frei.

Zentral wird künftig auch die Fähigkeit, selbst zu bestimmen, welche unserer Daten (und bisherigen Geheimnisse) mit der Umwelt geteilt werden. Individuen muss es möglich sein, auf Basis persönlicher Präferenzen effektive Souveränität über die persönlich relevanten Daten zu haben. Unter diese Freiheit gliedert sich auch die selbstbestimmte Kontrolle über Informationen zur eigenen Lebensführung. Aus liberaler Sicht ist klar: Jeder muss autonom entscheiden können, wie und wem er über die Freigabe seiner Daten Zugang zur eigenen Person gewährt. Der einzelne soll dazu aber nicht nur berechtigt, sondern auch befähigt werden, denn nicht jedem ist das Wissen gegeben, um sich mit diesen Entwicklungen fachkundig auseinandersetzen zu können – und dazu sind entsprechende Bildungsangebote nötig. Wenn Herr oder Frau Schweizer nämlich an der (digitalen) Türe einmal an der falschen Stelle «Ja» ankreuzt, so hat das künftig wahrscheinlich nicht nur Einfluss auf Anzahl und Typ der Waschmaschinen im eigenen Keller, sondern gleich auf ihre Verträge mit der Hausrat-, Unfall- und Krankenversicherung, der örtlichen Wasserversorgung, der Bausparkasse ihres Enkelkinds und dem Social-Media-Management des Herstellers, der die eingebaute 360°-Webcam zur «Verbesserung der Servicequalität» selbstverständlich jederzeit ein- und ausschalten kann.

Es geht in der digitalisierten Welt vermehrt darum, wie Individuen ihre bisherige Freiheit bewahren und verteidigen können, ohne dass sie – vielleicht durchaus zugunsten von mehr Bequemlichkeit und Effizienz – durch neue äussere Rahmenbedingungen allzu leichtfertig eingeschränkt wird. Ein weites Feld, das die Parteien leider unbeackert lassen.

Zweite Aufgabe: «Verantwortung(en)» neu verteilen

Verantwortung übernehmen heisst, für die Folgen einer Entwicklung geradezustehen. Aber: wer ist für die Folgen der Digitalisierung in den verschiedenen Lebensbereichen verantwortlich? Das komplexe Zusammenspiel von Individuen, Unternehmen, Institutionen und Technik in der digitalisierten Gesellschaft erschwert diese Zuordnung.

Was ist beispielsweise mit gesammelten Daten und ihren Pools? Sollten Organisationen, die Daten sammeln, verarbeiten und diese dann an Dritte weitergeben, nicht neu eine Primärverantwortung übernehmen und einen sicheren Umgang mit diesen Daten garantieren? Sie müssten dafür entsprechende technische Massnahmen entwickeln, umsetzen und etablieren – und das tun sie vielleicht nicht ohne Druck durch die Bürger oder staatlichen Zwang. Diese Primärverantwortung befreit den einzelnen natürlich auch nicht davon, als Datengeber weiterhin ebenfalls Verantwortung für die Abgabe der Daten zu übernehmen. Eine neue Austarierung der Verantwortlichkeiten tut vor allem deshalb not, weil die bisherigen Datenpools und ihre Verwendungen aus einer Zeit heraus generiert wurden, in der kaum jemand absehen konnte, wie sich die Datenwirtschaft entwickeln würde. Trat man zu Beginn einem sozialen Netzwerk beim Beitritt nur wenige Nutzungsrechte ab, an denen auch niemand interessiert war, gab es schon vor Jahren einen ersten Aufschrei bei der Verwendung von Fotos zu Werbezwecken. Was, wenn die Daten, die auf einem Profil nur eingeschränkt ersichtlich sind, künftig über eine neue Schnittstelle an den Arbeitgeber verkauft werden können – oder an den Lebensversicherer? Was, wenn das sogar möglich wäre, obwohl das Profil längst gelöscht wurde? Und was, wenn Herr und Frau Schweizer mit ihrem «Ja» zu einer neuen Waschmaschine einwilligten, dass aus ihren Profilen auch Daten von Menschen herausgelesen werden können, die mal mit ihnen «befreundet» waren?

Was vor kurzem noch utopisch klang, ist längst möglich und wird mitunter auch praktiziert. Natürlich, die Politik hinkt dem technischen Wandel stets hinterher. Aber wenn die Bürger sich doch längst fragen, ob der Staat in einer solchen neuen Welt noch die Verantwortung für die Rechte seiner Bürger übernehmen kann, so sollten wir an neuen konkreten Antworten arbeiten, statt nur «mehr Freiheit» oder «mehr Regulierung» zu fordern, denn beides ist nicht zielführend, wenn man Verantwortung und Souveränität wie vor zweihundert Jahren definiert.

Der einzelne erhält in der digitalisierten Welt nur dann die Möglichkeit zum souveränen Umgang mit seinen Daten, wenn dazu auf allen Seiten – also auch von Wirtschaft und Politik! – Verantwortung übernommen wird. Es braucht eine breite öffentliche Diskussion unter Beteiligung der Parteien, um die entsprechenden Rollen und das konkrete Verständnis der jeweiligen Verantwortung zu klären.

Dritte Aufgabe: «Solidarität» und «Gerechtigkeit» neu bestimmen

Es ist klar: die Solidarität gründet häufig in Reziprozitätserwartungen. Weil kein Individuum hinter dem Schleier des Unwissens seine zukünftige Position in der Gesellschaft kennt, muss sich eine Gesellschaft darauf einigen, was vernünftigerweise «allen» zustehen soll. Vor dem Schleier des Unwissens verhalten sich Personen meist solidarisch, weil sie die Partikularinteressen ihres Gegenübers und ihre eigenen nicht kennen und also vorsichtig sein müssen.

Die Bereitschaft zur Solidarität gegenüber anderen dürfte aber in der digitalen Gesellschaft nachlassen, wenn plötzlich transparent ist, ob und wie viel sich der oder die einzelne für die Gesellschaft einsetzt – oder sich, ebenfalls ganz frei, fahrlässig selbst schädigt. Die Möglichkeiten, potentiell übergrossen Nutzen auf Kosten anderer zu haben – etwa als verheimlichter Raucher in der Krankenkasse –, wären geringer. Wie kann aber Solidarität funktionieren, wenn die Partikularinteressen durch die zunehmende Verfügbarkeit personalisierter Daten kaum mehr verdrängt oder verborgen werden können? Was, wenn die (aus betrieblichen Gründen womöglich sinnvolle) Nichtversicherung von Patienten mit hohem Krebsrisiko plötzlich überhaupt erst möglich, geschweige denn der dazu notwendige Datenkanal – und nicht erst bei der Geburt – automatisiert bespielt wird? Was, wenn das Leben lückenlos dokumentiert und öffentlich wäre und eine Person nirgends mehr eine Chance auf einen Neuanfang hätte, weil all ihre Verfehlungen und vermeintlichen Verfehlungen bekannt wären – aus Gründen der «öffentlichen Sicherheit» zum Beispiel. Wäre diese Person noch frei, wenn sie keine Solidarität mehr von anderen erwarten könnte? Kurzum: die Parole der Solidarität nur auszugeben, ohne sagen zu können, was sie in der digitalisierten Gesellschaft noch beinhaltet, reicht künftig nicht mehr aus.

Die Sammlung und Weitergabe grösserer Datenmengen berührt auch grundlegende Fragen zur Gerechtigkeit. Letztere gebietet, willkürliche Privilegierungen und Diskriminierungen einzelner oder bestimmter Gruppen zu vermeiden – der Liberalismus hat Jahrhunderte für die Umsetzung dieser Forderungen gekämpft. Die Verwendung von personalisierten Daten allerdings beinhaltet auch die Gefahr der Diskriminierung aufgrund derselben. Dabei ist nicht nur die Privatsphäre einzelner Individuen und Familien gefährdet, sondern zunehmend diejenige grösserer Gruppen, denen aufgrund von Merkmalskombinationen bestimmte Risikoprofile zugewiesen werden. Betroffene werden immer öfter und granularer von Algorithmen zu sozialen Gruppen zusammengefasst, um sie in bestimmten Kontexten ein- und ausgliedern zu können. Zwar bestand die Gefahr der Diskriminierungen von ganzen Gruppen auch bisher (junge Autofahrer zum Beispiel zahlen mehr für ihre Versicherung, selbst wenn sie vorsichtig fahren). Mit der erhöhten Granularität, die die Digitalisierung mit sich bringt, sind jedoch neue, bedenkliche Formen der Diskriminierung verbunden. Denn die Zuordnung zu einer durch mehrere Merkmale bestimmten Gruppe, die je nach Kontext variieren kann, ist für den einzelnen nicht erkennbar, bis er von einer Entscheidung, die er nicht beeinflussen kann, betroffen ist. In der staatlichen Strafverfolgung gehören Kollektivstrafen, ganz im liberalen Sinne, längst der Vergangenheit an – im Netz, und damit auch in unserer Realität, sind sie an der Tagesordnung.

Es muss ein Ruck durch die Parteien gehen

In den gesellschaftspolitischen Diskussionen der nahen Zukunft, und bestenfalls schon vor den Wahlen 2019, sind genau diese grossen, wichtigen Fragen von den Bürgern zu stellen und von Gesellschaft und Politik zu klären: Wie können individuelle Freiheit und Privatheit gewahrt, Verantwortung und Vertrauen gefördert und schliesslich Gerechtigkeit und Solidarität gesichert werden?

Die Bürgerinnen und Bürger erwarten, dass politische Positionspapiere Antwortvorschläge dazu enthalten. Umfragen zeigen, dass die Bevölkerung in einer Welt der totalen (digitalen) Vermessung einen Verlust an Individualität und Selbstbestimmung befürchtet. Und sie glaubt, dass in einer solchen Welt sowohl Eigenverantwortung wie auch Solidarität bedroht sind.

Das traditionelle politische Gegensatzpaar Eigenverantwortung und Solidarität wird derweil nicht mehr als solches gesehen, vielmehr werden individuelle Einbussen in beiderlei Hinsicht befürchtet. Das allein zeigt schon, dass gerade liberal denkende Parteien vertiefter an der Beantwortung obiger Fragen arbeiten sollten, denn ihr Wertesystem ist von der Digitalisierung besonders betroffen – egal, ob es sich nun um gesellschaftsliberale oder wirtschaftsliberale Ausprägungen des Liberalismus handelt.

Kurzum: wenn das traditionelle politische Koordinatensystem und liebgewonnene Positionierungen der althergebrachten Parteien durch Digitalisierung und Unsicherheiten in der Bevölkerung in Frage stehen, besteht gerade für die FDP eine Chance, sich klar und zeitgemäss zu positionieren. Sie ist eine Bürgerrechtspartei, die ihre Wurzeln auch in den stürmischsten Zeiten der Industrialisierung und Digitalisierung nie verloren hat. Sie hat das Zeug, die Potenziale des Fortschritts und neuer Technologien einerseits, aber auch den Schutz des einzelnen andererseits ins Zentrum ihrer Politik zu stellen und damit ein weiteres Mal politische Pionierarbeit zu leisten. Jetzt ist die Zeit dafür.

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Lukas Golder, fotografiert von Lukas Rühli.
«Aus der ‹chambre de réflexion› ist eine ‹chambre de coalition› geworden»

Die zunehmende Lust am öffentlichkeitswirksamen Polarisieren hemmt die Reformfähigkeit der Schweiz. Bei wechselnden Koalitionen ist von einem bürgerlichen Schulterschluss im Parlament wenig zu spüren. Was bedeutet das für die Parteien ein Jahr vor den Wahlen?

Wenn die Eins zur Null wird

Die schweizerischen Parteien setzen zwar vermehrt auf soziale Medien, um ihre Wähler zu erreichen. Gedanken über die Auswirkungen der Digitalisierung auf die eigenen politischen Grundwerte machen sie sich aber nicht. Das dürfte sich rächen. Parteien bauen ihre politischen Programme auf den ihnen wichtigen Grundwerten auf. Auf dieser Basis definieren sie ihre politischen Positionen und erklären […]

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