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Wenn die digitale Empörungswelle rollt

Er kommt plötzlich und fegt über Menschen, Unternehmen oder ganze Staaten hinweg: der Shitstorm. Heute kann jedermann seine Wut öffentlich machen und sich mit anderen zu Empörungsgemeinschaften zusammenschliessen. Das ist neu und für die Betroffenen erschreckend – aber darum zwangsläufig schlecht?

Wenn die digitale Empörungswelle rollt
Hanne Detel
Es geschah am späten 16. Januar 2014, einem scheinbar ruhigen, völlig gewöhnlichen Fernsehabend. Auf SRF 1 lief «Format», die ARD zeigte «Beckmann». Und im ZDF talkte Markus Lanz. Zu Gast waren unter anderen der Schauspieler Moritz Bleibtreu, der Journalist und Talkshow-Dauergast Hans-Ulrich Jörges und die Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht. Lanz begann mit einer unverfänglichen Frage an Wagenknecht – aber wenig später schlug die Stimmung um, die Fragen wurden härter. «Sie unterstützen Europa uneingeschränkt? Das finden Sie gut?», wollte Lanz zum Beispiel wissen. Und bevor Wagenknecht ihre Antwort beenden konnte, schob er die nächste Frage nach: «Raus aus dem Euro oder drinbleiben?» Ständig unterbrach er sie mit ungeduldigen Bemerkungen wie «Jetzt mal im Ernst» oder «Da muss ich einmal einhaken» – ein selbst für deutsche Talkshows ungewöhnlich harsches Vorgehen. Und immer wieder blickte er zu Jörges, der ihm zur Seite stand und der Politikerin vorwarf, «verantwortungslosen Stuss» zu verbreiten. Wagenknecht reagierte souverän, liess sich nicht auf den Ton der beiden Männer ein und versuchte ein ums andere Mal ihre Antworten zu Ende zu bringen.

Was folgte, war ein Shitstorm – gegen Markus Lanz. 233 355 Menschen forderten in einer Petition auf der Online-Plattform «openPetition» und in zahlreichen wütenden Kommentaren auf Twitter und Co. seinen Rauswurf. Was genau geschah da? Warum reagierten so viele Netznutzer empört auf das Gespräch? Den Entrüstungssturm, der nach dem Interview durchs Netz tobte, will ich im folgenden sezieren und seinen Mechanismus offenlegen, um die Dynamik und Geschwindigkeit, Wucht und Aggression des Phänomens verständlich zu machen. Denn eines ist klar: ein Shitstorm kann heute jeden treffen.

Der Shitstorm hat im deutschen Sprachraum jüngst steil Karriere gemacht. Anders als in der englischen Umgangssprache, wo das Wort ursprünglich herstammt und chaotische Situationen bezeichnet, steht «Shitstorm» im heutigen Deutsch für einen online aufflackernden, sich rasend steigernden Sturm der Empörung, der sich gegen einzelne, aber auch gegen Gruppen oder Unternehmen richten kann.

Zunächst hat das Wort in Netzkreisen Einzug gehalten, nachdem der Blogger Sascha Lobo 2010 seinen Vortrag auf der Internetkonferenz republica mit «How to survive a shitstorm» übertitelt hatte. Als dann eine unabhängige Jury um den Hamburger Sprachwissenschafter Anatol Stafanowitsch den «Shitstorm» zum Anglizismus des Jahres 2011 kürte und zahlreiche Medien darüber berichteten, entwickelte sich der Begriff zum Modewort bei Journalisten. In der Schweiz schaffte es der Begriff 2012 zum Wort des Jahres. Und seit 2013 ist «Shitstorm» mit dem Eintrag in den Duden endgültig salonfähig geworden.

Vom Aufstieg des Worts zurück zum Aufziehen des Sturms: An dem besagten 16. Januar 2014 schaute auch Maren Müller, eine 54 Jahre alte Betriebswirtin aus Leipzig, die Talkshow. «Ich konnte danach nicht schlafen, weil ich mich so aufgeregt habe darüber», sagte sie später in einem Interview mit dem Berliner «Tagesspiegel». Da sei ihr die Möglichkeit einer Online-Petition eingefallen, mit der man Kritik gebündelt an einen Adressaten schicken könne: «Die Zuschauerbeschwerden in den Kommentarspalten von irgendwelchen Zeitungen, auf Twitter oder anderswo im Internet, das geht ja fast alles unter.» Am nächsten Morgen stand sie auf, fuhr ihren Computer hoch und startete mit wenigen Klicks die Online-Petition «Raus mit Markus Lanz aus meinem Rundfunkbeitrag!». Den Link zum Mitschnitt der Sendung auf YouTube stellte sie als Beweis dazu.

Empörungspotential und Verbreitungsimpuls

Müllers Veröffentlichung macht deutlich, dass es im Internetzeitalter nicht mehr die klassischen Medien sind, die als «Gatekeeper» fungieren und den exklusiven Zugang zur breiten Öffentlichkeit regulieren. Ihre Meinungsmacht ist gebrochen und jeder Mensch kann – Internetzugang und geringe technische Vorkenntnisse vorausgesetzt – zum Publizisten und zum Initiator eines Shitstorms werden. Allerdings gilt: anders als zu Zeiten, in denen eine Veröffentlichung in einer Zeitung oder einem Magazin, im Fernsehen oder Radio automatisch ein gewisses Mass an Aufmerksamkeit bedeutete, ist auf den meisten Plattformen im Internet Publizität nicht mit Aufmerksamkeit gleichzusetzen. Auf Blogs, Webseiten oder in den sozialen Netzwerken dümpeln zum Teil brisante Informationen oder empörte Aufrufe vor sich hin, ohne wahrgenommen zu werden. Die Frage ist also: Warum werden manche Informationen aufgegriffen, blitzschnell verbreitet und wütend kommentiert – und andere nicht? Das Lanz-Beispiel und zahlreiche weitere Shitstorm-Fälle zeigen, dass zwei Faktoren entscheidend sind: das Empörungspotenzial einer Veröffentlichung und der anfängliche Verbreitungsimpuls.

Das Empörungspotential ist im Fall Lanz aus mehreren Gründen hoch: Erstens sind Lanz’ Unterbrechungen, seine Suggestivfragen und Provokationen kein Glanzstück journalistischer Interviewführung, und viele Menschen empfanden seine Angriffe auf Wagenknecht als unfair. Zweitens birgt schon die Konstellation ein gewisses Empörungspotential, denn zwei Männer, Lanz und Jörges, attackieren eine Frau. Hinzu kommt drittens, dass alle drei Beteiligten prominent sind. Dies beschert ihnen und ihrem Handeln automatisch ein hohes Mass an Aufmerksamkeit, getreu dem Grundprinzip des sogenannten Matthäus-Effekts: Wer hat, dem wird gegeben. Obwohl, dies muss hinzugefügt werden, im Internetzeitalter auch völlig Unbekannte Ziel eines Shitstorms werden können. Der vierte und vielleicht wichtigste Grund ist Lanz selbst. Denn: seit er Thomas Gottschalk als Moderator von «Wetten, dass…?» beerbt hat, steht er regelmässig in der Kritik. Er sei, so heisst es, zum Symbol für eine Form der gebührenfinanzierten Unterhaltung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks geworden, die sich immer weiter dem Entertainment der Privatsender angeglichen habe. Es lag also eine gewisse Anti-Lanz-Stimmung in der Luft, die im Mix mit dem missratenen Interview explosiv wurde.

Ein hohes Empörungspotential reicht jedoch zumeist nicht aus, einen Shitstorm auszulösen; entscheidend ist die Kombination mit einem initialen Verbreitungsimpuls. Im Fall Lanz ging dieser von Maren Müller aus, die zunächst selbst versuchte, Mitunterzeichner für ihre Petition zu gewinnen. Auf Twitter informierte sie ihre Follower über die Aktion: «Bitte teilen, liebe Follower: #Petition Raus mit Lanz aus meiner Rundfunkgebühr! in #Deutschland http://bit.ly/1dbCXoF via @oPetition.» Zwar teilten zunächst nur wenige den Tweet, Müller liess jedoch nicht locker und rief immer wieder zum Mitmachen auf. Und so kam die Empörungswelle ins Rollen: Mehr und mehr Menschen unterzeichneten die Petition, verbreiteten den Link und verfassten unter dem Hashtag #Lanz wütende Twitter-Nachrichten oder kommentierten das Interview auf anderen Plattformen.

Klassische Medien als Verstärker

Sind Empörungspotential und Verbreitungsimpuls gegeben, kann ein rasend schnelles Schneeballsystem in Gang kommen: Über jeden Netznutzer, der mit einem raschen Klick die brisanten Informationen teilt oder mit ein paar hastig niedergeschriebenen, oftmals wenig durchdachten Worten kommentiert, erfahren weitere Menschen davon. Eine grosse Rolle spielen dabei auch sogenannte «prominente Vermittler», etwa vielbeachtete Blogger, die, wenn sie die Informationen aufgreifen, mit einem Mal eine grosse Zahl an Menschen erreichen. So veröffentlichte der Blogger Stefan Niggemeier bereits am frühen Abend des 17. Januar einen empörten Beitrag über Lanz’ Gespräch mit Wagenknecht in seinem Blog. Der Text wurde über 12 500mal auf Facebook geteilt und 180mal kommentiert – unter anderem immer wieder mit Hinweisen auf Müllers Online-Petition.

Die so losgetretene Empörungswelle blieb auch den klassischen Medien nicht verborgen, und folglich dauerte es nicht lange, bis erste Berichte erschienen – sie dienen sozusagen als späte Verstärker der Dynamik im virtuellen Raum und den Medien selbst als Möglichkeit, von der geballten Aufmerksamkeit zu profitieren. Am 21. Januar wies die «Tageszeitung» in einer kurzen Meldung auf die Petition hin. «Bringt Online-Petition Markus Lanz zu Fall?», fragte der Berliner «Tagesspiegel» am 22. Januar. Und die «Welt» titelte: «Stürzt Markus Lanz über die rote Wagenknecht?» Während sich die ersten Artikel noch vorwiegend der reinen Berichterstattung über den Talkshowabend und die Online-Petition widmeten, folgten wenig später Kommentare zu Lanz’ Verhalten, und schliesslich nahmen – mit steigender Zahl der Petitionsunterschriften – immer mehr Journalisten den Shitstorm selbst in den Blick und schrieben über die «Shitstorm-Inflation» («Spiegel Online») oder «Das hässliche Gesicht der Netzdemokratie» («Welt»).

Die Berichterstattung riss nicht ab, denn immer wieder gab es neue Aufhänger: Wagenknechts Kommentar zum Interview, die Reaktion des ZDF, Lanz’ erstes Interview nach dem verhängnisvollen Talkshowabend, Lanz’ erster Auftritt nach dem Shitstorm bei «Wetten, dass…?», eine Online-Petition gegen Online-Petitionen usw. Und so erfuhren nach und nach auch Menschen, die sich wenig oder gar nicht im Netz tummeln, von dem, was sich da ereignete. Wie Blogger spielen demnach auch klassische Medien als «prominente Vermittler» eine enorme Rolle bei der Entstehung einer grösseren Empörungswelle. Sie verleihen der Sache Glaubwürdigkeit und Relevanz und befeuern damit den Shitstorm – mit der Folge einer länger andauernden Hochphase des ansonsten meist eilig vorüberziehenden Entrüstungsphänomens.

Ist der Shitstorm einmal im Gange, so lässt er sich bis zu seinem natürlichen Abklingen, etwa durch neue Aufmerksamkeitsmagnete, nur schwer stoppen, denn er wirkt sich selbst verstärkend. Die Analyse zahlreicher Empörungsfälle offenbart allerdings Prinzipien eines Skandalmanagements, die zumindest das Potential haben, einen Shitstorm zu bremsen und die längerfristigen Konsequenzen für Reputation und Selbstwertgefühl in Grenzen zu halten: Dazu gehört eine schnelle, allerdings nicht überhastete Reaktion, die sachlich auf den Kern der Kritik eingeht und dem eigenen Image gerecht wird. Die Stichworte lauten: Nüchternheit, allenfalls Selbstkritik, Ehrlichkeit, Authentizität und natürlich Geduld. Wichtig ist dabei, maximale Transparenz zu schaffen und sich – wenn die Kritik Substanz hat – zu entschuldigen. Alles, was nach PR aussieht, heizt die Empörung bloss weiter an. Eine Zensur unbehaglicher Inhalte oder aber eine emotionale Antwort auf die Anschuldigungen sind ebenfalls kontraproduktiv.

 «Liebes ZDF…»

Es besteht also die Chance, eine Empörungswelle einzudämmen. Im Fall von Lanz ist dies indes nur mässig gelungen: Am 21. Januar, also ganze fünf Tage nach der Sendung, veröffentlichte das ZDF auf seiner Facebook-Seite ein knappes Statement: «Viele Zuschauer haben den Stil der Diskussion mit Frau Wagenknecht kritisiert. Diese Kritik nehmen wir ernst und haben das auch intern diskutiert.» Im Nachgespräch hätten die Redaktion und Markus Lanz nicht den Eindruck gehabt, dass Sahra Wagenknecht mit der Sendung unzufrieden gewesen sei. Ausserdem seien kontroverse Diskussionen «Bestandteil des erfolgreichen Formats». Diese Stellungnahme des Senders irritierte nicht nur zahlreiche Internetnutzer, sondern auch Wagenknecht selbst. Die Politikerin reagierte prompt via Twitter: «Liebes ZDF, nach dem breiten Protest gegen Markus #Lanz’ Gesprächsstil zu behaupten, ich sei zufrieden gewesen, ist doch etwas arg frech.»

Und auch beim Publikum hatte das ZDF mit dem Versuch, die Kritik zu ignorieren, wenig Erfolg. Das Statement kam zu spät und ging nicht ausreichend auf den Kern der Kritik ein. Stattdessen wirkte es mit der lapidaren Äusserung, man nehme die Kritik ernst und auch intern sei darüber diskutiert worden, bestenfalls halbherzig. Der Versuch einer Rechtfertigung misslang. Kein Wunder, dass sich viele Menschen nicht ernst genommen fühlten und dies in zahlreichen Kommentaren im Netz auch kundgaben – und damit den Shitstorm weiter anheizten.

Lanz selbst meldete sich am 23. Januar in einem Interview mit dem Medienmagazin dwdl.de öffentlich zu Wort: «Wenn das energische Nachfragen zu rustikal und sogar persönlich war, dann bedaure ich das.» Das habe er der Politikerin bereits in einem längeren Telephonat gesagt. Und weiter: «Daraus lerne ich, glaube aber auch, dass Meinung und Haltung in einer Sendung, die den eigenen Namen trägt, wichtig ist.» Diese zumindest teilweise Entschuldigung kam wie das Statement des Senders spät, aber nicht zu spät – danach ging die tägliche Zahl der Petitionsunterzeichner schlagartig zurück. Ob die Entschuldigung der zen­trale Grund dafür war und welche Rolle die Shitstorm-kritischen Artikel spielten, von denen zu dieser Zeit immer mehr erschienen, ist unklar. Eines jedoch wird deutlich: Zumindest ein Teil der Empörten nahm Lanz ab, dass er ihren Protest ernst genommen hatte – und vielleicht sogar daraus lernen würde.

 «Menschenjagd»?

Welche Moral ist aus dieser Geschichte nun zu ziehen? Handelt es sich bei wütenden Netznutzern um einen bösen Mob, den es selbst zu skandalisieren gilt – wie im Lanz-Fall in zahlreichen Zeitungskommentaren geschehen? Kann von einer «Menschenjagd» (Kabarettist Ottfried Fischer) gesprochen werden? Und ist der Vergleich mit der Nazi-Kampagne gegen jüdische Geschäfte, wie ihn der «Zeit»-Herausgeber Josef Joffe zog, angemessen? Oder ist der Shitstorm vielmehr ein wichtiges demokratisches Instrument, das der Bevölkerung die Möglichkeit gibt, zwischen den Wahlterminen ihre Meinung öffentlich kundzutun und auch gehört zu werden?

Weil kein Shitstorm dem anderen gleicht, gibt es keine allgemeingültige Antwort auf diese Fragen. Natürlich kann ein Shitstorm «böse» sein: wenn die Empörungswellen von nur wenigen, besonders lauten Menschen vorangetrieben werden, auf falschen Belegen basieren, mit bösen Drohungen einhergehen oder die Falschen verdächtigen. Ebenso gut können die Online-Stürme aber auch von gesellschaftlicher Relevanz sein und lange überfällige Debatten anregen – etwa über die Verwendung von Rundfunkgebühren oder die Frage, ob Online-Petitionen gegen Einzelpersonen gerechtfertigt sind. Bei einem solchen Shitstorm sind es dann nicht (nur) Fäkalien, die durchs Netz wirbeln, sondern (auch) legitime Kritikfetzen und wichtige Empörungsschreie. Den Spreu vom Weizen zu trennen, nach dem Kern der Kritik, seiner (quantitativen) Basis und auch nach allfälligen Gegenstimmen zu fragen, obliegt nicht zuletzt den klassischen Medien. Ihre Aufgabe wäre, das turbulente Geschehen scharfen Blicks ruhig und differenziert einzuordnen und sich vom Tosen und Brausen des Shitstorms nicht mitreissen zu lassen.

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