Das Beste, was der Staat tun kann, ist aus dem Weg gehen
Überalterte Gesellschaften sind innovationsschwach und staatsgläubig. Gerade freiheitlich Gesinnte sollten sich daher mehr Kinder wünschen. Plädoyer für einen liberalen Pronatalismus.
Der Internetnutzer ist gewarnt. Wer auf Google nach Pronatalismus sucht, stösst auf Medienartikel über eine «fragwürdige», «neofeudale», «rassistische und sexistische» Ideologie von «wohlhabenden weissen Menschen», insbesondere «Tech-Milliardären». Diese wollten die Rechte von Frauen einschränken und verfolgten eine «rechte Agenda».
Kein Zweifel: Kinderkriegen ist Teil des Kulturkampfs geworden. Für radikale Klimaaktivisten sollte, wer Kinder bekommen möchte, mindestens ein schlechtes Gewissen haben oder noch besser ganz darauf verzichten. Konservative Christen dagegen sehen Fortpflanzung als göttlichen Auftrag und zuweilen – hinter vorgehaltener Hand – als Beitrag gegen die «Islamisierung Europas».
Und die Liberalen? Die stehen schulterzuckend dazwischen. Dabei sollte das Thema sie durchaus beschäftigen. Denn die Faktenlage ist besorgniserregend.
Strukturelle Probleme
In der Schweiz bekommt eine Frau im Schnitt 1,4 Kinder. Das ist weit entfernt von den 2,1 Kindern, die nötig wären, um die Bevölkerung des Landes langfristig stabil zu halten.
Dass die Bevölkerung dennoch wächst, liegt zum einen daran, dass wir immer älter werden, und zum anderen an der hohen Zuwanderung. Weil die Geburtenraten aber auch in anderen Ländern fallen, wird es langfristig schwieriger, einfach Babys durch Ausländer zu ersetzen (so wir das überhaupt wollten).
Eine tiefe Geburtenrate hat weitreichende Folgen, von denen einige auch aus liberaler Sicht ein Problem darstellen.
- Erstens bringt die Überalterung die Altersvorsorge an ihre Grenzen. Bleiben strukturelle Reformen aus, müssen immer weniger Junge für immer mehr Alte aufkommen. Das wird nicht nur teuer, sondern schwächt auch die Wettbewerbsfähigkeit.
- Zweitens sind überalterte Gesellschaften generell in der Tendenz weniger produktiv und innovativ, was die Wettbewerbsfähigkeit zusätzlich schmälert.
- Drittens verschieben sich mit der Alterung die politischen Prioritäten der Stimmbürger. Schutz und Sicherheit (innere, äussere, soziale) werden wichtiger. Innovationskraft, wirtschaftliche Dynamik und Investitionen für die Zukunft wandern auf der politischen Agenda nach hinten. Dass Ältere viel fleissiger abstimmen als Jüngere, verstärkt diesen Effekt. Eine Gesellschaft, der Kinder fehlen, ist ziemlich sicher keine liberale Gesellschaft.
- Viertens ist es grundsätzlich zu bedauern, dass Menschen, die gerne Kinder hätten, diese nicht bekommen. In einer Erhebung des Bundesamts für Statistik wünschten sich 78 Prozent der Befragten zwischen 20 und 30 Jahren mindestens zwei Kinder. Gleichzeitig haben nur 57 Prozent der Personen zwischen 50 und 60 zwei oder mehr Kinder. Untersuchungen aus anderen westlichen Ländern zeigen, dass sich die Leute etwa gleich viele Kinder wünschen wie vor 30 oder 40 Jahren, aber deutlich weniger bekommen. Die wachsende Schere zwischen Wunsch und Wirklichkeit ist ein Problem, das Liberale nicht kaltlassen kann.
«Die Leute wünschen sich in etwa gleich viele Kinder wie vor 30 oder 40 Jahren, bekommen aber deutlich weniger.»
Schlechte Rezepte
Die Gründe für die tiefe Geburtenrate sind vielfältig. Die Zahl ungewollter Schwangerschaften ist stark gesunken – eine zweifelsohne positive Entwicklung. Zugleich hat aber auch die ungewollte Kinderlosigkeit zugenommen. Was auch damit zu tun hat, dass Paare heute mit der Familiengründung länger zuwarten. Ab 35 Jahren nimmt die Fruchtbarkeit rapide ab, insbesondere bei Frauen. Wer bis 30 wartet, dem bleibt ein relativ kurzes Zeitfenster, um seinen Kinderwunsch zu erfüllen. Stimmen dann die Bedingungen nicht, wird es schwierig, auch wenn man heute dank neuer medizinischer Möglichkeiten der Biologie ein Schnippchen schlagen kann.
Es gibt also viele Gründe, sich eine höhere Geburtenrate zu wünschen oder zumindest gute Voraussetzungen dafür zu schaffen. Überdies sollten Liberale dem Thema nur schon deshalb Beachtung schenken, um es nicht den Kulturkämpfern links und rechts zu überlassen. Jene, die sich am eifrigsten für mehr Kinder einsetzen, sind leider auch jene mit den schlechtesten politischen Rezepten.
Christliche Fundamentalisten sehen etwa den Schlüssel darin, den Zugang zu Verhütungsmitteln zu erschweren; sie wollen Abtreibungen erschweren oder verbieten. Das ist nicht nur ein Eingriff in die Selbstbestimmungsrechte von Frauen über ihren Körper, sondern auch eine denkbar untaugliche Massnahme, um die Zahl der Geburten zu steigern. Das kommunistische Rumänien etwa erliess in den 1960er-Jahren ein drakonisches Abtreibungsverbot. Doch die Geburtenrate stieg nur minim und vorübergehend.
Generell sind die Möglichkeiten des Staates, die Fertilitätsrate zu steigern, sehr limitiert. Die Bemühungen von so unterschiedlichen Ländern wie Japan, Ungarn oder Australien haben höchstens inkrementelle Wirkungen gezeigt (siehe dazu den Beitrag von Michael Straumann).
Bauen für Babys
Dennoch kann der Staat eine Rolle spielen. Zum einen gibt es niederschwellige Massnahmen, die eine Wirkung haben können. So sind Investitionen in die Vereinbarkeit von Beruf und Familie in zurückhaltendem Mass legitim, etwa über Gutscheine für externe Kinderbetreuung. Auch könnte die Schweiz wie andere Länder Fortpflanzungsmedizin wie künstliche Befruchtung oder das Einfrieren von Eizellen zumindest teilweise von der Krankenkasse bezahlen lassen. Das Argument, Kinder seien Privatsache, zielt in diesem Fall ins Leere, da die Kassen ja auch die Kosten für Geburten und Abtreibungen übernehmen.
Am meisten bewirken kann der Staat aber dadurch, dass er weniger im Weg steht.
- Die hohen Wohnkosten halten Paare von der Familiengründung ab? Warum erleichtert die Politik dann nicht das Bauen neuer Wohnungen? Untersuchungen aus den USA belegen, dass Städte mit restriktiven Bauvorschriften besonders tiefe Geburtenraten haben.
- Kinder sind zu teuer? Steuersenkungen für mittlere Einkommen können Gegensteuer geben. Zudem sollten die Zentralbanken ihre verheerende ultralockere Geldpolitik aufgeben, die Sparer schleichend enteignet und ihnen den Vermögensaufbau verunmöglicht.
- Das Angebot an Kinderkrippen ist ungenügend? Eine Deregulierungsoffensive würde die externe Kinderbetreuung zugänglicher und günstiger machen – und definitiv mehr bringen als immer mehr Subventionen.
Es gibt zahlreiche Möglichkeiten, Familien (und nebenbei auch alle anderen) durch Entlastungen und Entbürokratisierungen zu unterstützen.
Entscheidend dürften letztlich aber vor allem kulturelle Faktoren sein. Israel ist das einzige westliche Land mit einer Fertilitätsrate über 2,1. Das liegt nicht (primär) an den orthodoxen Juden; säkulare Juden haben in Israel mehr Kinder als etwa in den USA. Auch zeichnet sich das Land nicht durch besonders grosszügige sozialstaatliche Leistungen aus.
Zentral dürfte vor allem eine ausgesprochen kinderfreundliche Kultur sein. Eine grosse Familie sei mit hohem Status verbunden, schreibt der Demografieexperte Paul Morland in seiner Analyse zu Israel. Auch erhielten Eltern viel Unterstützung von Grosseltern, und im öffentlichen Raum sei die Kinderfreundlichkeit überall zu sehen und zu spüren. Das hat womöglich auch mit der latenten Bedrohung zu tun, der sich Israel seit seiner Gründung ausgesetzt sieht. Die Bevölkerung ist sich bewusst, dass es ohne Kinder langfristig kein Israel gibt.
Ein weiterer Faktor dürfte die Erziehungskultur sein. Paradoxerweise haben Eltern heute zwar weniger Kinder als früher, wenden aber mehr Zeit für sie auf. Viele von ihnen glauben, dass sich ein Kind nur dann gut entwickelt, wenn sie es ständig umsorgen und überwachen. In seinem Buch «Selfish Reasons to Have More Kids» stellt der Ökonom Bryan Caplan diese Vorstellung in Frage – und argumentiert, dass sie mitverantwortlich sei für die tiefen Fertilitätsraten. Etwas mehr Freiräume und Vertrauen stärken Kinder und entlasten gleichzeitig die Eltern.
Vielleicht müssen Staat und Gesellschaft nicht unbedingt besonders kinderfreundlich werden. Es würde schon reichen, wenn sie etwas weniger kinderunfreundlich wären.