Wir brauchen Ihre Unterstützung — Jetzt Mitglied werden! Weitere Infos

Wen vertreten eigentlich die Kantonsvertreter?

Wenn sie vom Bund entschädigt werden, nehmen die kantonalen Regierungen auch ihre eigene Entmachtung hin. Ein Föderalismus, der solche Fürsprecher hat, braucht keine Gegner mehr.

Wen vertreten eigentlich die Kantonsvertreter?
The Grande-Dixence Dam, in Valais, Switzerland. Bild: Jérémy Toma, Wikimedia.

Als die Schweiz 1848 über die erste Bundesverfassung diskutierte, standen sich Zentralisten und Föderalisten unversöhnlich gegenüber: Erstere wollten die Macht der Kantone vollständig brechen, Letztere wollten den bisherigen losen Staatenbund mit dem Prinzip «Ein Kanton, eine Stimme» beibehalten. Am Ende setzte sich ein Kompromiss durch, ein Parlament mit zwei Kammern. Im Nationalrat werden die Sitze gemäss der Einwohnerzahl vergeben, im Ständerat haben alle Kantone gleich viele Sitze. Zudem brauchen wichtige Entscheidungen wie Verfassungsänderungen die Mehrheit der Stimmbürger wie auch der Kantone. Ohne diese Sicherheitsanker für ihre Souveränität wären die Kantone kaum bereit gewesen, zugunsten des neuen Staates auf einen Teil ihrer Kompetenzen zu verzichten.

Föderalismus und kantonale Souveränität sind somit nicht einfach historisch gewachsen – sie sind konstituierend für den Schweizer Bundesstaat. Ohne kantonale Souveränität, ohne föderalistische Mitsprache gäbe es die moderne Schweiz nicht. Doch dieser Kern des schweizerischen Staatsaufbaus ist unter Beschuss. Von wem?

Von den Kantonen.

Beispiel gefällig? Am Freitag gab die Konferenz der Kantonsregierungen (KdK) bekannt, dass sie das neue Vertragspaket zwischen der Schweiz und der EU mehrheitlich (21 zu 4 Stimmen bei einer Enthaltung) befürworte. Ein Vertragspaket, das durch die «dynamische» Rechtsübernahme die demokratische Mitsprache in der Schweiz empfindlich einschränkt. Mehr noch: Auch die Mitspracherechte der Kantone werden beschnitten. Das Vernehmlassungsverfahren, ein entscheidender Kanal für die Kantone im demokratischen Prozess, fällt in vielen Fällen weg oder wird bedeutungslos. Die Rechtsetzungskompetenz der Kantone in Bereichen wie Energie und Verkehr wird abgeschafft und wandert auf EU-Ebene.

Nun mag man der Ansicht sein, dass die wirtschaftlichen Vorteile des Abkommens diese demokratiepolitischen Nachteile aufwiegen. Irritierend ist allerdings, dass es die Kantone zugleich mehrheitlich (15 zu 10 Stimmen bei einer Enthaltung) ablehnen, das Vertragspaket dem doppelten Mehr von Volk und Ständen zu unterstellen. Dies, obwohl die Verträge den Kern des schweizerischen Staatsaufbaus berühren und namhafte Juristen ein obligatorisches Referendum für angebracht halten. Mit 15 Stimmen wurde zwar das erforderliche Quorum von 18 Stimmen verfehlt, damit die KdK eine offizielle Stellungnahme im Namen der Kantone abgeben dürfte. Doch der Fakt bleibt: Die Mehrheit der Kantone spricht sich dafür aus, ihre eigene Souveränität und ihr Mitspracherecht zu untergraben.

Der Entscheid reiht sich ein in einen besorgniserregenden Trend, dass die Kantone ihre eigenen Rechte, ihre Autonomie, ihre Kompetenzen und ihre Souveränität zunehmend aushöhlen.

  • In der Coronakrise fürchteten sich die Kantone geradezu davor, Verantwortung zu übernehmen. Stattdessen flehten sie den Bund an, durchzugreifen – und mehr Geld
  • Das «Sparpaket» (die Bezeichnung ist irreführend, da lediglich das Wachstum der Ausgaben leicht gebremst würde), das derzeit im Parlament diskutiert wird, sieht Abstriche bei den Geldflüssen vom Bund zu den Kantonen (etwa im Asylbereich oder für die Hochschulen) vor – und prompt heulten die Standesvertreter kollektiv auf. Dabei übersahen sie, dass jeder Geldfluss mit einer entsprechenden Kompetenzverschiebung einhergeht. Wenn der Bund die Finanzierung übernimmt, will er auch die Entscheidungshoheit.
  • Das gilt generell für die Finanzpolitik: Immer wieder nehmen die Kantone bereitwillig Geld vom Bund an oder machen gar aktiv die hohle Hand. Ein Beispiel ist die familienergänzende Kinderbetreuung, eigentlich eine klassische Kompetenz der Kantone. Diese lassen aber lieber den Bund bezahlen. Seit über 20 Jahren läuft eine «Anstossfinanzierung» des Bundes für Kitas und Co. Diese ursprünglich temporäre Subventionierung soll nun verstetigt und in ein entsprechendes Gesetz gegossen werden.
  • Bei den EU-Verträgen wiederholt sich auch dieser Mechanismus: Die Kantone befürworten das Paket zwar, verweisen aber gleichzeitig auf die «finanziellen Mehrbelastungen» und fordern eine entsprechende «Unterstützung des Bundes» in den betroffenen Bereichen.

Natürlich versteht der Bund jedes finanzielle Engagement, das er eingeht, zugleich als Einladung für mehr (Bundes-)Regulierung. Im Ergebnis verschiebt sich die kantonale Kompetenz zum Bund. Und die Kantone sind offenbar ganz zufrieden damit.

Zugespitzt formuliert sagen sie dem Bund: «Wir nehmen unsere Entmachtung hin, wenn du uns dafür finanziell entschädigst.»

Ein Föderalismus, der solche Fürsprecher hat, braucht keine Gegner mehr.

»
Abonnieren Sie unsere
kostenlosen Newsletter!