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Wem der Schuss gehört

Am Leitfaden der realen Biographie des polnischen Literaten Jan Graf Potocki (1761–1815) entwickelt Felix Philipp Ingold in seinem neuen Roman nach Art eines Computerspiels eine zwischen historischer Realität und erzählerischer Fiktion sich entfaltende Handlung, die den vielgesichtigen Protagonisten auf einer Odyssee durch das aufgeklärte Europa führt. Im Verlauf seiner Forschungs- und Abenteuerreise gelangt Graf Potocki auf die Mittelmeerinsel Malta, wo er sich in ein Duell verwickeln lässt, das erst viel später in seinem Leben mit einem lange aufgesparten Schuss sein Ende findet.

Wem der Schuss gehört
Illustration aus «Noch ein Leben für John Potocki», das im August im Verlag Matthes & Seitz, Berlin, erscheint.
An dieser Stelle – wir markieren sie mit der Ortstafel LAND’S END – fügen wir eine Art Zwischenspiel ein, das uns den Übergang… das uns den Aufstieg zum nächsthöheren Level erlauben soll, und mehr als das, wir wollen damit versuchsweise einen neuen Stoff einfädeln, den wir vielleicht später wieder aufgreifen und fortentwickeln können.

Stoff?

Ja, doch. Ein Sketch mit einfacher überschaubarer Handlung, wenig Personal, schlichter Kulisse. Wir inszenieren, zeitgenössischen Usanzen entsprechend, ein Duell, an dem wir John Nepomuk Potocki eher zufällig teilnehmen lassen … und das wir … und wir wollen eingestehen … wir stützen uns dabei … wir stützen uns auf einen ungefähr zehnminütigen Kostümfilm, den wir … wir haben ihn neulich auf YouTube entdeckt und … und werden ihn unverändert in unser Spiel übernehmen. Um es kurz und klar zu machen – es handelt sich um eine aus der wenig erfolgreichen History-Reihe «Russian Geniuses, Adventurers & Martyrs» ausgekoppelte Episode mit dem Titel «The Shot Is Yours». In natur- und geschichtsgetreuer Inszenierung wird darin ein Duell nachgespielt, das ein junger polnischer Aristokrat unter merkwürdigen Umständen mit einem Offizier der russischen Mittelmeerflotte auf Korfu austrägt – ein dramatisches Ereignis, das in die russische Geschichte eingegangen sein soll, mehr noch, das der russischen Geschichte am Ausgang des 18. Jahrhunderts eine entscheidende Wendung gegeben habe.

Wir verlegen das Duell von Korfu auf Malta, von der russischen Hafenfestung auf das Ordensritterhospiz und lassen John Potocki in der Rolle des «jungen polnischen Aristokraten» auftreten.

Das Filmchen zeigt den Grafen in schwankender Stimmung, bald nachdenklich über einen Folianten, eine Seekarte gebeugt, bald hochfahrend, beim Kartenspiel seine Partner oder Gegner beschimpfend, sein melancholischer, dabei impulsiver Charakter und seine leise, zischende Redeweise verstärken den Eindruck des Geheimnisvollen, wenn nicht Unheimlichen, das ihn umgibt. Dazu trägt nicht zuletzt das Gerücht bei, er lebe hier – man hört im Off das ungute hämische Flüstern – mit einer entführten Haremsdame aus Rabat und er beherrsche im übrigen zweiunddreissig Sprachen, sei Linkshänder, Privatgelehrter, mehrfacher Schützenkönig und Schachgrossmeister, ein Spinner, ein Genie, ein trauriger Dandy, ein kauziger Eigenbrötler, ein adliger Tausendsassa, der aus unerfindlichen Gründen die militärische Karriere ausgeschlagen habe, der weit in der zivilisierten und unzivilisierten Welt herumgekommen sei und «irgendwie» – das Flüstern wird langsam ausgeblendet – den Weg auf die Ordensinsel gefunden habe.

Und da sind wir wieder.

Wir sehen den Grafen in knapp sitzendem Gehrock und knirschenden Halbstiefeln in den Flur zur Offiziersmesse einbiegen, sehen, wie er mit entschiedenem Schritt auf die Schiebetür zugeht, sie mit der ausgestreckten linken Hand auftut und hinter den wieder zuschnappenden Flügeln verschwindet. Wir sehen ihn in freier Natur, sehen, wie er auf ausgedehnten Spaziergängen mit einem Sextanten das schrundige Inselgelände und mit seinem Luftblaumesser das Blau des Himmels vermisst.

Und weiter … und bei anderer Gelegenheit sehen wir auf unserem Rundgang, wie der Mann kniend Moose und Pilze sticht, wie er unter der Steilklippe Muscheln, Versteinerungen, antike Trümmerstücke aufsammelt, sehen, hören, wie er sich von Hirten oder Fischern maltesische Dialektwörter vorsprechen und erklären lässt, sehen zumindest schemenhaft, wie er nachts, vor seiner ruinösen Eremitei rücklings auf dem Boden liegend, mit einem ausgeliehenen Marinefeldstecher das Haar der Berenike am lichtschwachen Nordpol der Milchstrasse beobachtet und wie er danach seine Erkenntnisse oder Vermutungen in der Blockhütte bei flackerndem Kerzenschein einer Sekretärin diktiert, die auch seine Assistentin oder seine Geliebte sein könnte, vielleicht ist sie beides zugleich – seine geliebte Assistentin.

Einen gänzlich anderen Eindruck gewinnen wir, wenn wir ihn – auch nur einmal – beim täglichen Revolverschiessen am Strand beobachten. Ja, wir können (wie alle, die ihm jemals dabei zugeschaut haben) seine ausserordentliche Eleganz und Treffsicherheit im Umgang mit der Faustfeuerwaffe ebenso bestätigen wie seine unerwartete, irgendwie befremdlich wirkende soldatische Disziplin.

Wenn wir nun Potockis abgelegene Blockhütte noch einmal bei Tageslicht besuchen und sie in seiner Abwesenheit für eine Minute betreten, stellen wir – da, da und da! – mit einigem Erstaunen fest, dass die Balken rundum in dem kleinen Raum mit Revolverkugeln gespickt und gelöchert sind, und wir entdecken, wenn wir mit der Kamera heranfahren, dass der Graf seine Handfeuerwaffe einfach hier auf der Pritsche in der unverriegelten Hütte abgelegt hat. Noch können wir uns eigentlich nicht vorstellen, dass er in irgendeine Intrige verwickelt wäre oder verwickelt werden könnte, und schon gar nicht, dass auch der beste Schütze sich dazu hinreissen lassen würde, mit ihm ein Duell auszutragen. Tatsächlich weiss oder ahnt hier jeder, dass auch ein geregelter Schusswechsel mit John Potocki einer Selbstmordaktion gleichkäme und …

… aber eben dazu wird es nun tatsächlich kommen.

Auch für heute hat der Graf seine Kameraden in die Offiziersmesse der russischen Kaserne eingeladen. Auch heute wird – wir zeigen die Szene in weitwinkliger Aufsicht – reichlich getafelt, gesungen, getratscht, gelacht, geprahlt, gepokert, manchmal getanzt, bisweilen in die Wand, in die Decke geschossen. Wenn nun die Stimmung – wie so oft – ins Unberechenbare und Gewalthafte umschlägt, greift Potocki – einmal mehr – zu einer Art Zahnspange, die man für eine Maultrommel halten könnte, und gibt eine unbedarfte Melodie zum Besten, die so neutral, so emotionslos ist wie das gedehnte Zwitschern eines mechanischen Vogels. So lässt sich auch diesmal die lärmende Runde einigermassen beruhigen.

Aus einem ziemlich nichtigen Grund fordert der Graf nun aber unversehens – wir lassen ihn dabei vom Spieltisch aufspringen und seinen Stuhl nach hinten kippen – den residierenden Festungskommandanten Pjotr Petrowitsch Ustinow (halb noch ein Jüngling und doch schon Vizeadmiral der kaiserlichen Flotte) zu einem Revolverduell auf, nachdem ihn dieser beim Kartenspiel angeblich ausgetrickst und später in angetrunkenem Zustand für alle Anwesenden klar vernehmbar einen «Anfänger» genannt hat – einfach «Anfänger», ohne irgendein beschwichtigendes oder beleidigendes oder sonstwie präzisierendes Beiwort:

«Du Anfänger, du!»

Für den Grafen offenbar eine schwere Beleidigung, für Ustinow nichts als ein harmloser Ausrutscher.

Wenn das Duell nun aber, obwohl diese lebensgefährliche Praxis der Ehrenrettung in der Armee unter Strafe steht, trotzdem stattfindet, dann ist dies sicherlich auch der Langeweile geschuldet, die seit Wochen bleischwer auf der umkämpften Insel lastet. Doch gibt es dafür auf Seiten des Herausforderers vermutlich auch andere, verborgene, persönliche Gründe.

Wir werden diese Gründe nicht aufklären, für die nun anlaufende Episode haben sie keine Bedeutung, und es kann uns durchaus recht sein, wenn ein Zuviel an Psychologie vermieden wird.

Also brauchen wir auch nicht zu erfahren, weshalb der Festungskommandant Potockis Forderung überhaupt annimmt, da er damit den «hergelaufenen Zivilisten» sich selber – Seiner Exzellenz! – gleichstellt, ihn mithin unnötigerweise aufwertet und überdies sein eigenes Leben aufs Spiel setzt.

Was soll’s? Sehen wir zu!

Gemäss John Nepomuk Potockis formellem Aufgebot – er lässt es vor unseren Augen von seinem Tischnachbarn schriftlich festhalten – wird das Duell mit Trommelrevolvern und englischer Munition ausgetragen, der Abzugshahn muss (was die Reaktionszeit naturgemäss minimal verlängert) mit Doppelklick betätigt werden, der Schusswechsel findet auf dreizehn Schritte Distanz unter Anwesenheit von vier Sekundanten statt und ist auf fünf Uhr früh angesetzt.

Treffpunkt und Austragungsort soll der Bohlensteg am östlichen Hafenbecken sein.

Allen Beteiligten – wie auch uns Gaffern – ist natürlich klar, dass hier im Namen der Ehre eine streng geregelte, zwischen Mord und Selbstmord sich vollziehende Opferhandlung ausgeführt wird, klar aber auch, dass diese Handlung gleichzeitig als Theaterspektakel zu gelten hat, als eine Inszenierung in zwei, höchstens drei Akten, voraussichtlich mit tödlichem Ausgang, vorgeführt von Menschen, die sich durch Regeln und Konventionen ebenso steuern lassen wie durch ihren Mutwillen, ihre Eitelkeit, ihren Spieltrieb.

Man kennt … die Zeugen vor Ort kennen die Regeln des Revolverduells. Doch wir vermuten schon … irgendwie spüren wir schon, dass das Ritual diesmal etwas anders verlaufen wird.

Denn es gibt da … es gibt gleich zu Beginn des Films ein paar Merkwürdigkeiten, die Unerwartetes ahnen lassen, Regelwidriges, Tragikomisches, vielleicht Skandalöses.

Denn ohne erkennbaren Anlass verbringt der Herausforderer die Nacht vor dem Duell allein in einem kleinen verfallenen Tempel der Kybele – eigentlich ist es ein Schutthaufen, aus dem noch zwei, drei Säulenstümpfe ragen – am Fuss des Nordhügels, unter vielerlei Lüften und Sternen und Mythen. Schwarz mustert das Ulmengezweig den silbrig schimmernden Himmel. Zum Schlaf kommt Potocki nicht, und der Schlaf kommt nicht zu ihm. In der von Vorfreude wachgehaltenen Müdigkeit sieht er seinen Pfad durch tausend säuselnde Gebüsche weiter abwärts wachsen, hinüber … hinunter zum Hafen, wo die riesigen Kriegs- und Transportschiffe ruhen.

Währenddessen erklingt im Off, hinreissend sehnsuchtsvoll intoniert von Nana Mouskouri, ein seltsames … ein höchst einprägsames Lied, das wir hier als Fliesstext mitlaufen lassen:

Ein Wind kann’s immer nicht
symmetrisch. Auch seine Stille spricht
– schön unsichtbar – allein für sich. Hört! Sie allein besiegt
die Turbulenz, die keinem Sturm genügt.

Re: Die Turbulenz, die keinem Stu-hu-hurm genügt.

Im Ginster knuspert Junischnee
und – ja! – beweist die restliche Natur. Zum Test ruft Klee
den pelzigeren Honigduft herab
auf dieses und auf jenes ungemachte Grab.

Re: Auf dieses und auf jenes unge-gemachte Grab.

Ist ungefährdet, wer die Mitte sucht
und wer das Wabern wüsste
und die Metrik dieser tief geduckten Flucht

Re: Ist ungefährdet, wer die Mi-hitte sucht.

ins weisse Rauschen! Ein Gleicher büsste
aber für die allzu dreisten Düfte
und bliebe der in jedem Windchen absolut Gewiefte.

Re: Der in jedem Windchen absolut Gewi-hiefte.

So (oder so ähnlich) klingt’s aus der Wirklichkeit in die Spiel- und Erzählzeit herüber, während sich das Meer wie ein unbekannter jugendlicher Kontinent, ganz leicht … kaum merklich schwappend, im Frühlicht abzeichnet, ein graublaues zartes Farbenspiel, das in der hochkommenden Sonne an Fülle und Wärme gewinnt, so wie sich nun vermutlich Frühling und Hoffnung und September in dem jungen Mann zu einem grossen Gefühl vereinen, der vor unsern Augen mit kurzen sicheren Schritten hinabsteigt zum vereinbarten Ort der Entscheidung.

Hier – der Kampfplatz ist grell ausgeleuchtet – erwarten ihn bereits die Sekundanten mit den Koffern, in denen sie die Waffen, die Munition, das Verbandszeug, die Medikamente, die Klamotten, das Regiebuch für das Duell bereithalten, alles ist mithin doppelt vorhanden, für beide Kontrahenten die gleichen Requisiten und Regeln, man könnte meinen, da kämpfe einer mit sich selbst.

Noch dominiert beim Herausforderer die Euphorie, es ist eine Art innerer Jubel, verhalten zwar und doch sichtlich überbordend. Was da so rückhaltlos überbordet, ist … sind Selbstgewissheit, Weltgewissheit, Siegesgewissheit, Überlebensgewissheit, Zukunftsgewissheit.

Was uns John Potocki gleich vorführen wird … was hier nun gleich unwiderruflich geschehen wird, hat wohl mehr mit ihm selbst als mit seinem zufälligen, eigentlich schon jetzt verlorenen Gegner zu tun, den er – man sieht es noch nicht, man spürt es erst – an seinem straffen Gängelband durch die Szene lenken wird.

Potocki kleidet sich um, zieht sich die hautfarbenen Samthandschuhe an, setzt den Klappzylinder auf, lässt sich die Waffe reichen, schreitet gemächlich die unscheinbare Kampfarena ab, die sonst von hiesigen Fischern als Rastplatz benutzt wird.

Die Hügel hinter dem Hafengelände schweben beidseits der Ordensburg als mächtige graue Brüste im rosigen Morgenblau, darunter strotzt trockenes Dickicht, aus der unmittelbaren Zukunft rumort ein ferner Donner, schmale Gewitterwolken hängen am oberen Bildrand, sinken sehr langsam herab.

Alles da. Alles klar.

Fehlt nur noch der Gegner. Ob er verschlafen hat? Ob er den Termin vergessen oder die gestrige Forderung missverstanden … ob er Potockis Forderung womöglich gar nicht ernstgenommen hat?

Aber nein!

Da kommt Pjotr Ustinow – was für ein schlaksiger Kommandant! – als ausgefranste Silhouette im Gegenlicht tänzelnd über die Bohlen. In der einen Hand hält er seinen Armeerevolver, in der andern eine Franzosenmütze, die er vermutlich bei der Erstürmung der Insel einem Offizier der Grossen Napoleonischen Armee abgenommen hat.

Der Herausforderer wird diese ironische Selbstinszenierung – wie denn anders! – als eine zusätzliche Provokation empfinden: Einerseits die Mütze, durch die seine eigene regelkonforme Kostümierung als Duellant lächerlich gemacht wird, anderseits die Tatsache, dass der Gegner ohne Sekundant antritt, womit er die getroffenen Abmachungen missachtet und den Herausforderer gleich noch einmal brüskiert.

Erst jetzt, da beide an der Barriere sich gegenüberstehen, kann Potocki erkennen, dass die Mütze, die Ustinow wie eine Schale in der linken Hand hält, randvoll mit Datteln gefüllt ist und dass sie an der Stirnseite ein Schussloch trägt.

Der Herausforderer, mental bereits angeschlagen, reagiert darauf mit sichtlicher Wut und Verwirrung, was natürlich – er selbst weiss es am besten – seine Zielsicherheit beeinträchtigen kann.

Also überlässt er dem dreisten Gegner, um etwas Zeit zu gewinnen, nach Absprache mit seinen Sekundanten den ersten Schuss.

Ustinow schlägt das Angebot lächelnd aus und spuckt dem Grafen ein paar abgelutschte Dattelkerne vor die blank polierten Stiefel.

Das Los soll entscheiden, und das Los bestätigt, dass er, Kommandant Ustinow, als erster zu schiessen hat. Wie vorgeschrieben tritt er dreizehn Schritte zurück, hebt die Waffe und drückt sofort mit dem üblichen Doppelklick ab. Die Kugel durchbohrt Potockis Zylinder knapp über Scheitelhöhe.

Ziel verfehlt? Aber nein – das war kein Fehlschuss!

Dem Herausforderer wie auch uns ist klar, dass ihn der Gegner bewusst und willentlich geschont hat, und …

… aber nun ist er, Potocki, an der Reihe, er, der sich dem Gegner umso mehr überlegen fühlt, als die provokante Schonung ihn in seinem Ehrgeiz und fatalerweise auch in seiner Wut bestärkt.

Die Entschiedenheit, mit der er, den Revolver bereits erhoben, rückwärts gehend die ihm zustehenden Schritte abzählt, lässt keinen Zweifel daran, dass er auf Tod und Leben schiessen wird.

Entweder. Oder.

Doch während er nun mit ausgestrecktem Arm und leicht schiefgelegtem Kopf den Gegner ins Visier nimmt, bückt sich dieser nach seiner Mütze, macht kichernd ein paar Schritte auf ihn zu, steckt sich demonstrativ eine Dattel in den Mund, um sogleich mit gespitzten Lippen den Kern zu ihm hinüberzuspucken.

Potocki, vor Zorn resignierend, lässt die Waffe sinken, er hat sich in diesem Gegner getäuscht oder sich von ihm täuschen lassen, er hat Ustinow unterschätzt oder auch überschätzt, jedenfalls scheint er in diesem Augenblick begriffen zu haben, wie lächerlich und sinnlos es ist, einem Menschen das Leben zu nehmen, der auf das Leben so wenig Wert legt.

So jedenfalls liesse sich die Szene deuten.

Potocki: «Euer Hochwohlgeboren belieben, das Frühstück dem Überleben vorzuziehen. Ich will Sie dabei nicht länger stören.»

Ustinow: «Stören? Es ist Ihr Schuss, nutzen Sie ihn!»

Potocki: «Ich passe.»

Ustinow: «Auch gut. Der Schuss bleibt bei Ihnen. Ich stehe jederzeit zur Verfügung.»

Potocki: «Und … aber ich?»

Nun plötzlich prusten sie beide laut heraus, sie lachen einander ins Gesicht, beide haben auf diesem engen Kampfplatz ein Stück Lebenszeit gewonnen, beide haben gesiegt … sie haben über sich und ihren Gegner gesiegt, davon scheinen jedenfalls in diesem Augenblick beide überzeugt zu sein.

Während das Duell gemäss Regulativ mit zwei, drei Gesten und ein paar formelhaften Worten von den Sekundanten abgebrochen wird, schmeisst sich Ustinow eine weitere Handvoll Datteln in den Mund, und bevor er die Kerne, alle miteinander, vom Steg aus ins Wasser gespuckt hat, wird schon in lockerer, fast ausgelassener Stimmung ein Flachmann mit kaukasischem Konjak in die Runde gereicht.

Die Schatten sind sichtlich kürzer geworden in der Zwischenzeit. Arm in Arm ziehen die Duellanten und Sekundanten, begleitet von einer Clique lärmender Fischerjungen, zur Ordensburg hinauf, wo nun gleich im grossen Festsaal – das Leichenmahl ist schon aufgetragen – die Überlebensfeier beginnt.

Doch bei all dem Taumel wollen wir uns merken und … und wird auch John Nepomuk Potocki sicherlich nicht vergessen, dass er noch einen Schuss zu vergeben hat; und an wen.

Doch wie nun weiter?

Zurück in die Wirklichkeit!

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