(0) Weltwirtschaft ohne Weltregierung
Globalisierung wird sehr häufig mit einer schädlichen «Entfesselung der Marktkräfte» gleichgesetzt. Bei einer längerfristigen und grundsätzlichen Betrachtungsweise ist es aber gerade diese Entfesselung, die weltweit die Armen reicher macht. Die Frage, ob eine globalisierte Wirtschaft nicht letztlich auf einen Weltstaat angewiesen wäre, wird immer wieder aufgeworfen. Der autarke «geschlossene Handelsstaat», mit seiner Übereinstimmung von politischen […]
Globalisierung wird sehr häufig mit einer schädlichen «Entfesselung der Marktkräfte» gleichgesetzt. Bei einer längerfristigen und grundsätzlichen Betrachtungsweise ist es aber gerade diese Entfesselung, die weltweit die Armen reicher macht. Die Frage, ob eine globalisierte Wirtschaft nicht letztlich auf einen Weltstaat angewiesen wäre, wird immer wieder aufgeworfen. Der autarke «geschlossene Handelsstaat», mit seiner Übereinstimmung von politischen und wirtschaftlichen Räumen, war ein Postulat der romantischen Nationalisten, und Kolonialismus und Imperialismus waren verhängnisvolle Versuche, grössere, interkontinentale Wirtschaftsräume mit militärischen und politischen Mitteln in den Bannkreis des Nationalstaats zu zwingen. Der Imperialismus erlebt, seit es nur noch eine Weltmacht gibt, sogar wieder eine Renaissance, die der Idee des Freihandels und des Weltfriedens unter gleichberechtigten Staaten nicht durchwegs gut bekommt.
Die Antiglobalisten, die sich heute auch Altermondialisten nennen, favorisieren kleine und kleinste politische Systeme, fordern aber dafür eine ökonomische Weltinstanz, die das Welterbe an natürlichen Ressourcen verwalten soll. Damit würde auf globaler Ebene jenes System der Zentralverwaltung wiederholt, das im 20. Jahrhundert auf nationaler ebenso wie auf sowjet-imperialer Ebene gründlich gescheitert ist. Die von den angelsächsischen Liberalen entwickelte Idee einer grundsätzlichen – auch räumlichen – Trennung von Politik und Wirtschaft und eines friedlichen Wettbewerbs überlappender und vertraglich verbundener Subsysteme hat grössere Chancen, die Probleme einer vielfältig vernetzten und aufeinander angewiesenen offenen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts zu bewältigen.
Es kann allerdings nicht bestritten werden, dass die nationalstaatliche Deregulierung des Welthandels, die man auch Globalisierung nennt, die Ungleichheiten zwischen reichen und armen Ländern zum Teil auch verschärft hat. Nur: Ist eine Rückkehr zur Regulierung, ist eine Reregulierung oder Umregulierung, eine Aufteilung der Welt in Blöcke, ein gangbarer Weg, um das Problem der angeblich ungebremst zunehmenden Ungleichheit zu lösen? Wird das Problem dadurch nicht viel eher institutionalisiert und verewigt?
Es gibt viele Hinweise darauf, dass die Versuche, «arm» und «reich» durch Umverteilung anzugleichen zwar gut gemeint sind, schliesslich aber in einer Reduktion und Lähmung der wirtschaftlichen Produktivität enden, unter denen alle, und speziell die Ärmsten, zu leiden haben. Jede Form von Unterstützung und Hilfe, die das Element der Gegenseitigkeit ausklammert, ist – auch wenn die Motive altruistisch sind – eine Art von Ausgrenzung. Die Forderung der Deregulierung ist nicht einfach von den Industriestaaten oder von reichen Unternehmern erhoben worden, die für sich selbst mehr Gewinne wollten, sondern von den Staaten ausserhalb der OECD und auch von Fachleuten, die zur Einsicht gekommen waren, dass die Regulierung, vor allem im Bereich der Umverteilung nach dem Prinzip «den Reichen wegnehmen und den Armen geben» jene Ziele nicht erreicht, die sie den Ärmeren verspricht. Die Produktivität sinkt als Ganzes, und der Kuchen, den es zu verteilen, bzw. umzuverteilen gibt, wird kleiner.
Wer nur die zunehmende Ungleichheit beobachtet und misst, verkennt einige wesentliche Zusammenhänge, die sich bei einer Deregulierung auch zugunsten der Ärmeren auswirken. Gerade die Ärmsten haben auf offenen Märkten eine reelle Chance, aus der Armutsspirale auszubrechen und teilzunehmen an der weltweiten, durch Technologie und Arbeitsteilung bewirkten Produktivitätssteigerung.
Im 19. Jahrhundert wurde vom einflussreichen deutschen Ökonomen Friedrich List allerdings die These vertreten, ärmere Länder bräuchten über längere Zeit eine Abschirmung vom Weltmarkt, um schliesslich für den offenen globalen Wettbewerb gerüstet zu sein. Diese verhängnisvolle Fehleinschätzung hat immer noch ihre Anhänger, obwohl sie schon damals praktisch widerlegt worden ist. An vorderster Front engagierten sich schon in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts Richard Cobden und John Bright für die Gegenposition: den konsequenten Freihandel. Detmar Doering hat in seiner kleinen Schrift «Mythos Manchestertum» (Potsdam 2004) den vor allem in Deutschland und in der Schweiz negativ gefärbten Begriff rehabilitiert. Die 1839 in Manchester gegründete Freihandelsvereinigung engagierte sich gegen jede Form des nationalen und internationalen Interventionismus. Dies stand im krassen Widerspruch zum vorherrschenden nationalistischen und imperialistischen Zeitgeist. Die Manchesterliberalen waren alles andere als Befürworter der rücksichtslosen Ausbeutung. Sie kämpften mit Erfolg für die Beseitigung des Hungers, wünschten eine nicht-interventionistische Aussenpolitik und plädierten für weniger Rüstung und mehr Bildungsinvestitionen.
Das Prinzip der Globalisierung auf der Basis des Freihandels wird zu Unrecht immer noch als eine Fortsetzung kolonialistischer Politik geschmäht. Dabei ist das Gegenteil der Fall. Die Manchester-Liberalen waren als Befürworter offener nationaler und globaler Märkte dezidierte Gegner des Kolonialismus, des Imperialismus und der Sklaverei. Sie waren als Pazifisten auch gegen den Krimkrieg, was in Grossbritannien ihre Popularität beeinträchtigte und wohl auch dazu beitrug, dass «Manchestertum» in Deutschland schon vor dem Ersten Weltkrieg zum Schmähbegriff avancierte. Cobden schrieb 1842 in einem Brief «Die Kolonialpolitik Europas war die Hauptursache von Kriegen in den letzten hundertfünfzig Jahren. Der Freihandel wird unweigerlich, indem er die wechselseitige Abhängigkeit der Länder untereinander sichert, den Regierungen die Macht entreissen, ihre Völker in den Krieg zu stürzen.» Solche Töne wollte man im Zeitalter der nationalem Ökonomien und der damit verhängnisvoll verquickten nationalen Macht- und Expansionspolitik nicht hören. Offenbar ist es bis heute nicht gelungen, den engen Zusammenhang von Freihandelspolitik und Friedenspolitik im öffentlichen Bewusstsein und im politischen Sprachgebrauch zu verankern.
Drei politische Zauberbegriffe werden oft in einem zu positiven Licht gesehen: das Fördern, das Umverteilen im Hinblick auf einen «sozialen und regionalen Ausgleich» und das Helfen. Alle drei Aktivitäten haben denn auch ihre Schattenseiten, vor allem, wenn der Staat oder grössere Staatengemeinschaften durch Regulierungen als «Förderer», «Umverteiler» und «Helfer» auftreten. Im Bereich der Entwicklungspolitik hat man inzwischen die Erfahrung gemacht, dass gut gemeinte Hilfsprogramme alte Abhängigkeiten verschärfen und neue Abhängigkeiten schaffen und nicht selten das Grundproblem der Armut verewigen, statt es zu lösen oder lösbarer zu machen. Darum ist der Grundsatz «Trade not Aid», also «Offener Handel statt Entwicklungshilfe» eigentlich im Umfeld der Entwicklungspolitik kaum mehr grundsätzlich umstritten, sondern nur noch in der konkreten Ausgestaltung und schrittweisen «Abfederung». Im Rahmen der innerstaatlich und innereuropäisch regulierten Wirtschafts- und Sozialpolitik werden die Schattenseiten von Hilfs- und Förderprogrammen noch zu wenig thematisiert. Auch dort ist die interpersonelle und die interregionale Umverteilung zwar oft «gut gemeint» und politisch populär, in ihrer mittel- und langfristigen Auswirkung aber im wahrsten Sinne des Wortes kontraproduktiv.