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Weltrettung auf Pump

Unternehmerischer Erfolg ist die entscheidende Voraussetzung für Wohlstand. Doch Kredit-vergabe allein garantiert den Erfolg nicht.
Eine Erwiderung auf das Dossier «Raus aus der Armut! – Mikrokredite» der letzten Ausgabe.

Der Rummel um Mikrokredite, der bei uns spätestens seit der Verleihung des Friedensnobelpreises an Muhammad Yunus im Jahre 2006 eingesetzt hat, dürfte der Sache kaum dienen. Die Gefahren der Kreditvergabe werden gerne ausgeblendet. Dabei sind und bleiben auch «Mikrokredite» eben «Kredite» – das Wort kommt von lateinisch «credere», also von «glauben». Wer einen Kredit für sich beansprucht, ist erst einmal Schuldner, was immer er auch daraus macht.

Was es bedeutet, Schuldner zu sein, wird uns in normalen Zeiten und unter normalen Umständen kaum bewusst. Wenn wir Geld benötigen, suchen wir eine jener wundersamen Maschinen auf, die sich jeweils an der nächsten Strassenecke befinden – sie spuckt Geld aus, als stünde dahinter eine unversiegbare Quelle. Erst wenn uns dieser Automat die benötigte Gelddosis einmal verweigert, fühlen wir uns wie arme Tröpfe – im buchstäblichen Sinne.

Wir haben uns sosehr an diese schöne, neue Welt gewöhnt, dass wir sie auch anderen Menschen wünschen. Was also fehlt den Menschen in Entwicklungsländern? Der Zugang zu Geld. Kredite sind, so glauben wir, zumindest in einer stabilen Welt der Anfang vom Wohlstand.

Aber stimmt das auch? Und gilt das auf der ganzen Welt? Ich möchte den Leser auf eine kleine Weltreise mitnehmen – eine Reise auf den Spuren der Mikrokredit-Bewegung.

Für die Menschen in Bangladesch ist es müssig, die Armut zu ergründen; sie ist kein auffälliger Kontrast zum Alltag, sondern der Alltag selbst. Die Frage ist deshalb vielmehr: Wie kommt Wohlstand in diese Welt? Muhammad Yunus, Aushängeschild des Mikrokreditwesens, hält es da ganz mit dem Ökonomen Joseph A. Schumpeter: Wohlstand wird durch Unternehmertum geschaffen, und Unternehmertum erfordert Kredite.

Doch woher kommt der Wohlstand, den Yunus verteilt? Die erste grössere Subvention erhielt er von der UNO, dann folgten inländische Steuergelder, Subventionen von grossen US-amerikanischen Stiftungen und durch Staatsgarantien vergünstigte Kredite. Diese Kredite und Subventionen vergibt die Grameen-Bank zu Zinssätzen von bis zu 20 Prozent, vor allem an Frauen. Die Schuldnerinnen werden zu Gruppen zusammengeschlossen, in denen regelmässige kollektive Rituale stattfinden. Unter anderem gilt es, die «16 Entscheidungen» zu rezitieren, einen Moralkatalog, der der sittlichen Erziehung der Frauen dienen soll. Hier scheint auch das eigentliche Erfolgsrezept der Grameen-Bank zu liegen – dabei zeigt sich jedoch die Zweideutigkeit des ganzen Unternehmens: werden dadurch alte soziale Abhängigkeits- und Verantwortungsverhältnisse nicht einfach durch neue ersetzt?

Von Bangladesch hat der Trend auf Indien übergegriffen. Mittlerweile existieren dort mehr als 1’000 Mikrokreditorganisationen, die teilnehmenden Banken nicht mitgerechnet. Das Erziehungsnetzwerk von Yunus stösst in Indien freilich eher auf Ablehnung. Häufiger treten die Akteure als «Selbsthilfegruppen» auf und operieren im Durchschnitt auch deutlich günstiger als die Grameen-Bank, so dass sie geringere Zinsen verrechnen. Dessenungeachtet sind in Indien die Vorbehalte gegen Mikrokredite wesentlich stärker. Als beispielsweise im Bezirk Krishna im Jahre 2006 bekannt wurde, dass Mikrokredite Frauen in die Überschuldung und schliesslich aus Angst vor sozialer Ächtung in den Selbstmord trieben, schlossen die Behörden vorübergehend die Zweigstellen einiger Mikrokreditorganisationen und erklärten die Schulden für ungültig («The Economist», 17. August 2006).

Sudhirendar Sharma, ein ehemaliger Analyst der Weltbank und Direktor der Ecological Foundation, betrachtet die Selbstmorde als «Dunkelseite» der Mikrokreditbewegung und warnte in einem Artikel des indischen «Financial Daily» davor, dass Mikrokredite leicht zu einer Schuldenfalle werden können. Für die Rückzahlung der Kredite würden oft die Ersparnisse der Haushalte aufgebraucht – ein paradoxes Ergebnis, da Mikrokredite ja der Kapitalbildung dienen sollen. Das Problem dabei ist, dass das «Unternehmertum» der Ärmsten selten etwas mit selbstgewählter Unabhängigkeit und Risikobereitschaft zu tun hat. Viel lieber wäre diesen Menschen entlohnte Arbeit.

Setzen wir unsere Reise nach Mexiko fort. Dafür gibt es einen guten Grund; die profitabelste Bank des Landes ging aus einer Mikrokredit-NGO hervor. Compartamos – «lasst uns teilen» – ist der eingängige Name des Instituts. Dringt man eine Spur tiefer, stösst man jedoch bald auf den etwas verstörenden Grund der hohen Profitabilität der Bank: den – überwiegend weiblichen – Schuldnern werden bis zu 120 Prozent Zinsen für ihre Kredite verrechnet.

Wie konnte es soweit kommen? Auch die sonst bei Mikrokrediten üblichen Zinsen sind, an unseren Verhältnissen gemessen, sehr hoch. Mikrokreditorganisationen verteidigen sich gerne mit dem Hinweis auf lokale Geldverleiher, die noch höhere Zinsen verlangen – bis zu 1000 Prozent. Doch machen sie es sich damit zu leicht. Es ist viel erstaunlicher, dass eine breite Masse Kredite zu mehr als 100 Prozent Zinslast nachfragt, als dass einzelne in Ausnahmesituationen hochgerechnet 1000 Prozent Zinsen für kurzfristig nötige, sehr knappe Ersparnisse bieten. Da sich Geld nicht von selbst vervielfältigt, müsste eine produktive Nutzung eines solchen Mikrokredites eine Rendite von über 100 Prozent einbringen. Sollten mexikanische Frauen und die Ärmsten der Armen wirklich jedem westlichen Investor, Unternehmer oder Manager so weit überlegen sein?

Beenden wir die Reise in Deutschland, einem Land, das – historisch gesehen – eigentlich den weltweit grössten Mikrofinanzsektor aufweist.* Dies mag überraschend klingen, da wir Mikrokredite gemeinhin mit der Dritten Welt in Verbindung bringen. Die Bewegung des «Bankwesens für Arme» hat allerdings starke deutsche Wurzeln.

Zunächst bildeten sich Sparvereine, deren erster 1778 in Hamburg gegründet wurde. Danach kamen kommunale Sparkassen, die erste 1801. Zwei grosse Namen sind mit der Ausweitung und nachhaltigen Verankerung der Mikrofinanz verbunden: Raiffeisen und Schulze-Delitzsch.

Friedrich Wilhelm Raiffeisen konzentrierte sich auf den ländlichen Bereich und baute sogenannte Darlehnskassen-Vereine auf. Das Ziel bestand unter anderem darin, Bauern mit Mikrokrediten zu versorgen. Diese Mikrokredite kamen nicht aus staatlich gestützter Kreditmengenausweitung, sondern aus den Ersparnissen der Bauern selbst. Die später

«Raiff-eisenkassen» genannten Institutionen halfen dabei, diese Ersparnisse möglichst produktiv zu nutzen und schufen so die Voraussetzung dafür, dass der Wohlstand der jeweiligen Regionen langsam, aber nachhaltig wachsen konnte. Eine Verschuldungsspirale war ausgeschlossen, da die Kredite durch das knappe Ausmass der gebildeten Ersparnisse eng begrenzt waren. Auch hohe Zinsen waren nicht nötig, da die Nachfrage nach Krediten nicht künstlich vergrössert wurde und der Verwaltungsaufwand durch die Betonung der Selbsthilfe gering blieb – Raiffeisen empfahl 5 Prozent Zins.

Hermann Schulze-Delitzsch wirkte eher im urbanen Bereich. Er gründete Spar- und Kreditgenossenschaften für Handwerker und Kleinunternehmer, die zu den sogenannten «Volksbanken» wurden. Dabei hielt er stets die Prinzipien der Selbsthilfe und Eigenverantwortung hoch. Wie Raiffeisen wusste Schulze-Delitzsch, was der Entwicklungsökonom Peter Bauer so formulierte: «Geld zu haben, ist das Ergebnis wirtschaftlicher Entwicklung, nicht deren Voraussetzung.»

Kleinunternehmer finanzierten und finanzieren die Ausweitung ihrer Tätigkeit in der Regel aus dem Cashflow. Darlehen an Arme dienten hingegen in der Regel bloss dazu, den Konsum über Phasen zyklischer oder unerwarteter Notlagen hin auszugleichen. Wie der Ökonom Thomas Dichter betont, kam zuerst das wirtschaftliche Wachstum und dann die Bewegung, breiten Massen Kredite zugänglich zu machen.** Hier lag allerdings schon der Keim für die inflationistischen Konjunkturzyklen der Moderne: grosse Unternehmen im Konsumgüterbereich traten für die politische Förderung des Massenkredits ein, um den Konsum anzuregen.

Die Moderne litt daran, dass sie Kredit und Kapital nicht klar genug zu unterscheiden vermochte. Kredit besteht meist aus Geld, Kapital ist jedoch mehr als Geld. Nur Kapital schafft Mehrwert. Es handelt sich dabei um eine Struktur von Gütern, Leistungen, Beziehungen und Wissen, die menschliches Vermögen mehrt – das heisst, die Fähigkeit, unsere Ziele zu erreichen. Wer Kapital aufbaut, setzt knappe Güter dieser Ungewissheit aus und schultert damit die Ungewissheit, diese Güter zu verlieren. Der europäische Wohlstand verdankt sich einem relativ hohen Kapitalbestand. Die massive Ausweitung von Krediten und der damit begünstigte Konsumwahn zehren genau an diesem Bestand.

Die globale Ausweitung der Mikrokredite hat zweifellos auch mit der globalen Zunahme der Geldmenge zu tun. Doch weicht die übertriebene Euphorie der letzten Jahre zunehmend einer realistischeren Einschätzung der Lage. Dabei zeigt sich: Mikrokredite für Mikroprojekte können durchaus einen nachhaltigen, wenn auch beschränkten Beitrag zum Aufbau von Wohlstand leisten. Der «Mikro»-Aspekt, die Betonung des Kleinen und Kleinräumigen, birgt durchaus Potential für tatsächlich nachhaltige Unternehmungen zur Verbesserung der Lebensverhältnisse der Ärmsten – solcher nämlich, die lokale Wurzeln zu bilden vermögen. Ein Zugang, der auf Mikrokapital abzielt, würde wie jeder nachhaltige Ansatz allerdings wesentlich mehr Geduld erfordern als eine schnelle Weltrettung auf Pump.

* Hans-Dieter Seibel: «Does History Matter? The Old and the New World of Microfinance in Europe and Asia». Working paper. Development Research Center, Universität Köln, 2005.

** Thomas Dichter: «A Second Look at Microfinance. The Sequence of Growth and Credit in Economic History». Development Policy Briefing Paper. Washington DC: Cato Institute, 15. Februar 2007.

Rahim Taghizadegan, geboren 1979, ist Wirtschaftsphilosoph und Gründer des Instituts für Wertewirtschaft in Wien

(www.wertewirtschaft.org). Er lehrt an der Wirtschaftsuniversität Wien und an der Hochschule Liechtenstein.

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